Auch wenn sie nur das Nötigste einpackten, bestand Caleb darauf, einen Träger kommen zu lassen, sogar noch in der inzwischen hereinbrechenden Nacht. Während Madiha also die gemeinsame Garderobe zusammenstellte und in einen Reisesack quetschte, informierte der Dieb Jivvin und nicht einmal zwei Stunden später fanden sich alle in der Eingangshalle des Hauses van Tjenn ein.
"Mein Junge!" Estelle ließ sich von Jivvin zu ihrem Sohn führen und zog ihn in ihre gebrechlichen Arme. Wie üblich trug sie einen Schleier und war sittsam herausgeputzt worden. Die Dunkelelfe und jene Kinder, die um diese Uhrzeit noch nicht schliefen, hielten sich im Hintergrund. Estelle drückte Caleb innig. "Pass auf dich auf und komm bald zurück zu deiner Mutter."
"Das werde ich." Er küsste sie auf die Wange, entlockte der alten Dame damit ein Lächeln. Anschließend schob jene sich vor Madiha. Sie streckte die Finger nach ihr aus, berührte erst ihre Wangen und betastete dann ihr Gesicht. Ihre Worte richtete sie aber noch einmal an ihren Sohn. "Und pass mir vor allem auf diese schöne Blume auf. Lass das Feuer nicht erlöschen, Caleb. Hörst du?"
"Ja, Mama. Natürlich nicht. Ich werde sie mit meinem Le-"
"Nein, bitte nicht. Nicht noch mehr Tode. Achtet auf euch und dass ihr überlebt. Opfert euch nicht. Rennt nicht feige in einen Heldentod. Das machen schon zu viele. Bleibt klug genug, euch zurückzuziehen und tapfer genug, danach einen neuen Versuch zu wagen. Macht Fehler, aber seid auch bedacht genug, aus ihnen zu lernen. Tote lernen nichts." Die alte Frau schlang plötzlich ihre Arme eng um Madiha. Sie zog sie dicht an sich heran, dass die Sarmaerin die Mischung eines nicht allzu penetranten Duftwässerchens und ihres Altersgeruchs wahrnehmen konnte. Estelle drehte ihre Lippen zu Madihas Ohr. "Ich danke dir ... für all die Enkelchen, die du ins Haus gebracht hast." Sie gluckste kurz, aber warm. Dann flüsterte sie, nur für Madiha bestimmt: "Aber die Braut meines Jungen möchte ich nicht missen. Komm mir wohlbehalten zurück, kleiner Wüstenschatz." Dann löste sie sich und streckte die Hand nach hinten aus. Wo sonst Jivvin jene ergriff, um der alten Dame zu helfen, waren es nun zwei der älteren Kinder. Sie brachten Estelle in die Reihen zurück, so dass alle Caleb und Madiha noch einmal anschauen und sich stumm verabschieden konnten. Jivvin trat mit einem Räuspern vor: "Gehen wir", sagte sie pragmatisch und öffnete die Tür. Draußen wartete bereits der bestellte Träger darauf, das Gepäck bis zum Hafen zu schleppen. Er hielt gut Schritt mit der Gruppe und schon bald erreichte man die Docks.
Das Schiff, mit dem sie gen Sarma segeln würden, war in der Dunkelheit kaum auszumachen. Hätte man keine Laternen an Deck aufgehängt, wären das schwarz gestrichene Holz, die finsteren Segel und sogar die Mannschaft vollkommen von der Nacht verschluckt worden. Denn tatsächlich tummelten sich ausschließlich dunkelelfische Seefahrer und Matrosinnen an Deck. Da fiel Jakub natürlich sofort auf. Auch wenn er der einzige Mensch der Mannschaft zu sein schien, hatte Caleb ihm den Posten als Erster Maat zugeteilt. Er scheuchte die Männer und Frauen umher, brüllte einen Befehl zum Ausguck hinauf und grummelte, wenn es ihm nicht schnell genug ging. Aber man sah ihm die Freude an, endlich wieder in See zu stechen. Seine Haltung war aufrechter und ein kantiges Grinsen lag auf den Zügen des Glatzkopfes.
Unten am Steg wurden Caleb, Madiha und Jivvin bereits von Kjetell'o und Ilmy erwartet. Beide hatten Seesäcke vor sich abgestellt. Ilmy trug ein Schultertuch aus dunkelroter Wolle mit viel zu großen Bommeln daran. Der Elf hatte sich in bequeme Kleidung in den Farben der andunischen Akademie - sturmgrau und blau - gehüllt. Er lächelte, als er die Ankommenden ausmachte. Damit sie einander auch gut sahen, ließ er sofort eine kleine Flamme über seiner Handfläche auflodern. Ein knapper Blick zu Madiha forderte sie still auf, es ebenfalls zu versuchen und sofern es ihr gelang, wäre ihr ein stolzer Blick des Elfen sicher.
"Ich bin so aufgeregt", grüßte Ilmy in die Runde. Sie nestelte an den Bommeln ihres Überwurfs herum. "Wir werden Sarma retten. Madi, du wirst Sarma retten. Ich kann es kaum erwarten!"
"Sind wir denn abreisefertig?", hakte Kjetell'o nach. Caleb nickte ihm zu. Dann deutete die Planke entlang, die auf das Schiff führte. In der Dunkelheit konnte Madiha den Namen nicht einmal lesen. Da die Letter aber ohnehin in Lerium verfasst waren, würde es ihr jetzt nicht helfen. "Geh an Bord, Kjet. Such dir eine Ecke und leg deinen Seesack dort ab. Oh und nimm Madihas und meinen mit! Wo sie liegen, schlafen wir, also such eine gute Stelle aus, ja?"
Kjetell'o versuchte sich am Salutieren. Es misslang und beinahe hätte er sich die Haare mit seiner eigenen magischen Flamme verbrannt. Er schmunzelte, schüttelte das Feuer aus und griff dann nach den Säcken. Als Ilmy auch ihr Gepäck schultern wollte, hielt Caleb sie auf. "Warte", sagte er und wurde von der Pausbäckigen fragend beäugt. "Madi und ich halte es für das Beste, wenn du hierbleibst." Ilmy klappte der Mund auf. Sie schaute von Caleb zu ihrer Freundin herüber und zurück. Er ließ sich nicht beirren. "Die Flucht aus Sarma ist nicht spurlos an dir vorüber gezogen. Schau dir deine Hände an! Sie heilen noch immer ab. Du ... hast bereits eine Menge geleistet. Ilmy. Du hast Gefahren überstanden, denen wir uns nun stellen werden. Ich wäre dir dankbar, wenn du gelegenltich Jivvin besuchen kommst, um nach den Kindern und meiner Mutter zu sehen."
Ilmy blinzelte. Sie starrte nun zu der Dunkelelfe herüber. Nach wie vor hielt sie zu ihr etwas Abstand, aber beide kamen auf einer neutralen Ebene miteinander aus. Jivvin erwiderte ihren Blick ruhig, verschränkte die Arme locker vor der Brust.
"Sie kommt auch nicht mit? A-aber ich dachte", begann Ilmy und Caleb erklärte: "Es wäre von Vorteil, Jiv dabei zu haben. Aber vielmehr brauchen wir sie hier." Er schaute zur Dunkelelfe herüber. "Geh gut mit der Werft um, hab ein Auge auf Andunie."
"Halte deine Brieftauben bereit", eriwderte Jivvin nur. Sie wirkte weder gekränkt, dass sie nicht mitkam, noch verärgert. Einzig Madiha konnte eine Spur Trauer von ihren goldenen Augen ablesen. Sie würde Calebs Anwesenheit vermissen, so viel stand fest. Aber vielleicht hatte auch Caleb das gesehen und sich bewusst für diesen Weg entschieden. Er dankte der Dunkelelfe, dann wandte er sich noch einmal an Ilmy. "Ruh dich aus. Du hast es dir verdient. Anschließend solltest du deine Eltern aufsuchen. Ich weiß, du hast ihnen Briefe geschrieben, aber sie nicht abgeschickt." Ertappt zuckte Ilmengard zusammen. "Sie werden nicht enttäuscht sein", beteuerte Caleb. Er konnte schließlich aus Erfahrung sprechen. "Im Gegenteil, Gib ihnen die Chance, dich wiederzusehen. Gib euch die Chance auf die Familie, die du so lang hast missen müssen. Glaube mir, das ist jetzt der beste Weg für dich."
"Madiha..." Ilmy schwenkte den Kopf herum. Sie trat an ihre Freundin heran, ergriffen von Calebs Worten und zugleich mit schuldigem Blick. "Ich hab dir doch gesagt, wir machen das gemeinsam." Sie angelte nach ihrer Hand, wusste aber nichts zu sagen. So drückte sie diese nur, erwiderte den Blick ihrer Freundin und zog sich schließlich zurück. "Du bist so stark", wisperte sie. "Du wirst uns alle retten."
"Die Flut", bemerkte Jivvin und Caleb nickte ihr zu. "Wir müssen an Bord", wies er Madiha an. Als wenig später die Planke eingeholt wurde und Madiha und Caleb an der Reling des schwarzen Schiffes standen, blickten sie auf Jivvin und Ilmy herunter. Die Heilkundige tupfte sich mit ihrem Bommelüberwurf die Augen. Sie winkte. Schon spannten sich hinter den Abreisenden die Segel. Der Wind blies hinein, blähte sie und sorgte dafür, dass das Holz nicht nur unter seiner Kraft knarrte, sondern das gesamte Schiff sich in Bewegung setzte. Caleb hob die Hand zum Abschied. Schneller als Madiha es von der Blauen Möwe gewohnt war, schob sich das Kriegsschiff bereits aus der Hafenbucht heraus.
Als Ilmy nur noch halb so groß auf die Entfernung war, hörte Madiha sie jedoch plötzlich sehr wild rufen. Sie winkte und wedelte, aber nicht alle Worte konnte der Wind ans Ohr der Sarmaerin tragen. "... Drache! ... den Drachen ... finden ... elfen ... Sarma retten!" Ein weiterer Austausch war nicht möglich. Ilmys Worte tanzten im Wind. Ihre Farben mischten sich mit den Lichtern an den Docks. Sie wurde kleiner und kleiner, zusammen mit Andunie, das die Reisenden mit einem Meer aus schwarzen Formen und Lichtern verabschiedete. Von der Felsenklippe aus ragte die Akademie mit ihrem großen Turm über alles empor. In seiner Spitze drehte sich ein Licht, gab den Schiffen eine Orientierungshilfe, die noch weit bis auf's Meer hinaus erkennbar sein würde. Aber auch dieses Signal wurde schnell kleiner. Das Kriegsschiff war rasant unterwegs.
"Bei dem Tempo werden wir keine zwei Wochen bis nach Sarma brauchen." Jakub trat an seinen Kapitän heran, salutierte und grinste dann schief auf. "Weniger als eine Woche mit diesem Wind", entgegnete Caleb. "Ich muss ans Ruder, Madi, mit dem Navigator sprechen. Schau dich um. Ich habe dich nicht zum Helfen eingeteilt. So kannst du auch mit Kejtell'o üben, falls du möchtest. Das Deck der Schattenmuräne steht dir zur Verfügung." Er machte sich auf. Es gab kein erhöhtes Heck, dass sich darunter hätte eine Kapitänskajüte befinden können. Vielmehr war der Heckbereich nur ein seicht angehobenes Podest, so dass man sogar mit einer Treppe gespart hatte. Die hohe Stufe ließ sich mit einem beherzten Sprung überwinden. Caleb eilte zusammen mit Jakub zum Elfen am Ruder und jemandem, der daneben stand und mit einem Fernrohr den Himmel im Blick behielt.
Madiha ließ man zurück. Nun stand sie die da, an der Reling des Schiffs. Es besaß zwei Masten, wobei der vordere viel kleiner war und kein Krähennest besaß. Vielmehr hielt sich dort ein gespanntes Seitensegel, mit dem man ebenfalls lenken und so schneller Drehungen und andere Manöver auf See vollziehen konnte. Die Galionsfigur war keine barbusige Frau wie sie die meisten Schiffe gern hatten. Sie gab dem Schiff ihren Namen. Eine Muräne, einer dieser fast schlangenartigen Raubfische des Ozeans, reckte ihren gezahnten Kopf in den Wind, der bereits viele Kerben auf dem schwarzen Holz hinterlassen hatte, so dass das geschnitzte Tier ähnlich vernarbt zu sein schien wie Madiha selbst. Kjetell'o stand vorn am Bug und betrachtete die Nacht. Madiha könnte sich ihm anschließen, aber auch das übrige Schiff stand ihr offen. Die dunkelelfischen Matrosen ließen sich gewiss ausfragen, falls ihr etwas auf dem Herzen lag. Unter Deck hatte sie noch gar nicht nachgesehen. Wo sie und Caleb wohl schlafen würden? Gab es hier eigentlich eine Kombüse? Das Schiff wirkte sehr viel schmaler als die Blaue Möwe und selbst wenn sie weniger Zeit auf See verbringen würden, dürfte Madiha ihre begrenzte Umgebung schnell erkundet haben. Hoffentlich wurde es nicht allzu langweilig während der Reise. Andererseits könnte das auch einmal eine angenehme Abwechslung darstellen. Das letzte Mal auf See hatte sie Corax und Azura kennengelernt. Der Dunkelelf war ihr als gigantisches Krakenmonster erschienen und Caleb hatte ihm beherzt einen Zeh abgeschlagen, um Madiha zu schützen. Das alles fühlte sich schon weit weg an, ebenso wie Sarma. Aber die Wüstenstadt würde sie bald zurück haben. Sie wartete auf Madiha. Sie brauchte ihre Hilfe ... damit Caleb und sie den Grund für eine Welt schaffen konnten, die Sicherheit und Frieden bot. Denn mit weniger gab sich der Dieb für seine Liebste nicht zufrieden.