Angesichts des wenigen an ausgestelltem Reichtum, der im Anwesen van Ikari noch zu finden war, wollte Azura ob Madihas Bemerkungen keinen Streit vom Zaun brechen. Warum auch? Die Sarmaerin staunte schließlich durchaus über das, was noch übrig war. Wie hätte sie wohl reagiert, wären die Wände nach wie vor mit schicken Portraits und Landschaftsgemälden verziert, die Kommoden besetzt mit kostbarem Porzellan, Statuetten und die kleinen Vitrinen in den langen Hausfluren versehen mit allerlei ausgestellter Handelsware, auf die Alycide van Ikari besonders stolz war? Wäre alles noch die damals, wären die Teppiche geklopft, die Vorhänge bereits von Personal zurückgezogen und ob des vielen Regens die Fenster wenigstens auf der Innenseite unnachgiebig geputzt worden. Man hätte im Haus die Kamine nicht eine Stunde lang erlöschen lassen, so dass man der wetterbedingten Kälte mit Heimeligkeit entgegengewirkt hätte. Dann gäbe es Hausdiener und -mädchen, die ihnen bereits jetzt die Wünsche zu Tee und Gebäck von den Lippen ablasen und alles reinlich hielten. Es würde kein Staub auf den obersten Regalbrettern der Bücherschränke liegen. Die Decken, die Kjetell'o genutzt hatte, wären weggeräumt und das Zimmer vorzeugbar gewesen. Ohja, dann hätte Madiha einen wahren Grund zum Staunen gehabt! And ihrem Geschmack würde sich dadurch aber nichts ändern. Natürlich nahm sie zur Kenntnis, dass Azuras Familie mehr als besser gestellt war. Selbst die van Ikaris übertrafen die van Tjenns in Bezug auf ihren Luxus wohl noch um einiges. Aber sie hatte auch Calebs Elternhaus gesehen. Dort zeichnete sich der Reichtum vor allem durch Tand aus, der an und für sich eher nostalgischen Wert besaß, aber das Heim zu einem Sammelsurium an kleinen Geschichten machte, über die eine Mutter gern erzählte, während ihr Sohn peinlich berührt neben einem Portrait aus Kindheitstagen stand. Dort wurden Figürchen und Seefahrer-Schnickschnack gesammelt, weil er persönlich gefiel und nicht weil er ins Gesamtbild einer wohlhabenden Familie passte, die den Schein nach außen wahren wollte. Dieser Unterschied bestand nun einmal und Azura musste damit leben, dass Madihas und ihr Geschmack eben unterschiedlich war.
Ja, die Adlige wollte keinen Streit vom Zaun brechen ob des eigenen Geschmacks und dem einer anderen. Warum sie es dann aus anderen Gründen tat, sollte nicht nur Madiha ein Rätsel bleiben. Sie verfiel in alte Schemata zurück, von denen ihre Mutter sie eigentlich schon mit einem Lob zu ihrer Reife freigesprochen hatte und aus denen sie sich doch eigentlich längst heraus entwickelt hatte. Woher der Rückfall nun kam, war unklar, doch er tauchte auf und war nicht nur für Madiha schwer zu begreifen. Sie aber machte ihrem Unglauben und der damit verbundenen Wut Luft, indem sie Azura offenlegte, weshalb nicht nur Kjetell'o wünschte, dass sie in Andunie zurück blieb. Aber Azura sah es nicht. Sie setzte sich Scheuklappen auf, sah lieber das, was sie sehen wollte und pickte sich beim Zuhören nur die Anteile heraus, aus denen sie ihren eigenen Gesamteindruck so zusammenschustern konnte, dass er in ihr eigenes Bild der Situation passte. Sie hörte nicht zu ... und es war leider nicht das erste Mal, dass man sie darauf aufmerksam machte. Höhere Wesen wie der Gevatter selbst oder auch eine Göttin - Ventha! - hatten versucht ihr ins Gewissen zu reden und damals war sie bemüht gewesen, an sich zu arbeiten. Auch, damit sie zurück in ihr altes Leben gelangen konnte. Sie war weiterhin bemüht gewesen, als sie glaubte, etwas an sich ändern zu müssen, um ihre alte Schönheit wiederzuerlangen. Nun war sie zurückgekehrt und mit ihr wohl auch alte Laster. Denn Azura überhörte nicht nur Madihas Einwand, dass man sie in Sicherheit wissen wollte. Sie verkannte ebenso die Sorge, die hinter Kjetell'os Forderung steckte. Der leibliche Vater würde sich selbst und auch Madiha in die Höhle des Löwen schicken, denn er hatte Aquila van Ikari ein Versprechen gegeben und Madiha war ... ja, was eigentlich? Die Sarmaerin glaubte inzwischen selbst, dass sie zum Opferlamm gemacht wurde und folglich nicht aus dieser Mission zurückkehrte. Ob Kjetell'o sie nun gegen Alycide eintauschen oder opfern wollte, blieb im Grunde unerheblich. Sie würde gehen, weil sie nicht Teil dieser Familie war. Alle anderen mussten in Sicherheit bleiben, damit Alycide eine Gattin, Tochter und potenziellen Schwiegersohn hätte, um sie wieder in die Arme zu schließen. Madiha fiel hierbei aus dem Bild und wie sich erneut zeigte, schien sie plötzlich wieder nicht mehr in Azuras Augen zu sein als eine Dienstmagd. Madiha, die junge Frau mit einem Namen, war ebenso vergessen wie Madiha van Sarma oder überhaupt einfach nur Madiha, die helfen wollte. Allein weil sie es war, die Azura auf den Kern von Kjetell'os Entscheidung und ihr undankbares Verhalten dessen gegenüber aufmerksam machte, setzte sie sich der Wut der Adligen erneut als Zielscheibe aus. Doch dieses Mal war sie nicht allein. Corax stimmte ihrer Aussage zu und erneut bekam Azura es in den falschen Hals. Sie liebte ihren Raben, sie wollte generell keinen Streit mit den Anwesenden, aber sie war der nun der Auslöser dafür.
Corax blinzelte, als Azura ob Madihas Worten nicht reflektierte, sondern direkt in einen Angriff überging. Das hatte auch nichts mit ihrer beider Magie zu tun. Sie trafen hier nicht als Konkurrenz aufeinander, zumal sich inzwischen ja auch herausgestellt hatte, dass sogar in Azura eine winzige Flamme wohnte und sie mit jener inzwischen doch recht gut zurechtkam. Ja, das Wasser schützte diesen kleinen Funken sogar! Warum ging sie Madiha dann also dermaßen an, als diese sie auf die Gefahren hinwies, die ihr Mitkommen verursachen könnte? Gefahren, die doch vermieden werden sollten, damit eine Mutter nicht in Kummer zurückblieb, ein leiblicher Vater sich auf die Rettung konzentrieren und ein Ziehvater seine Tochter nicht verlieren konnte? Sie verstand es nicht, schlug bissig mit aller Verbalität und eben jener Arroganz um sich, die Madiha an ihr erkannte und ihr den Spiegel vorhielt. Azura aber war nicht einmal bereit, dieses Spiegelbild anzuschauen. Sie interessierte nicht, was die Oberfläche ihr zeigte, sondern dass Madiha es war, die den Griff des Handgeräts hielt. Sie bemerkte nur das und auch, dass Corax ebenfalls metaphorisch seine Finger darum legte. Beide sahen klar, erkannten die Situation und sprachen sie an. Der Rabe sprang hier sogar über seinen eigenen Schatten und nannte seine Wünschte - etwas, das Azura noch von ihm verlangt hatte. Er sollte sich nicht zurückstellen. Jetzt tat er es nicht, stellte offen klar, was er über die Situation und ihren Unwillen dachte, auf den Rat anderer zu hören. Er machte genau das, was Azura im Grunde von ihm erwartet hatte. Nur weil seine eigenen Wünsche nicht den ihren entsprachen, setzte sie ihn automatisch auf eine Gegenseite. Eine, die nicht existierte. Die anderen wollten genauso wenig Streit wie sie ursprünglich. Sie zeigten ihr nur ihren Trotz und die Gefahr auf, die hinter ihrer Rebellion stünde. Madiha spickte es zwar mit Wut, aber selbst das war gerechtfertigt. Schließlich hatte Azura nicht das erste Mal in ihr einen Feind gesehen, wo keiner war. Dass sie nun aber auch Corax in diese Position einspannte und vollkommen vergaß, dass sie es war, die ihn dazu bewegt hatte und dass sie ihn eigentlich liebte - dass er sich auf diese Seite stellte,
weil er sie liebte...
"Was erlaubst du dir?", zischte Azura van Ikari Madiha ohne Titel entgegen. Diese wandte den Blick Hilfe suchend zu Jakub. Der Erste Maat hatte die Stirn gerunzelt, die Arme nach wie vor verschränkt und brummte. Es klang nicht verärgert, sondern eher ... verwirrt. Corax blinzelte. Er verstand es nicht. Sie alle taten es nicht. Er erlaubte sich doch ebenfalls, das Wort zu erheben. Er nutzte nur keine eigenen Worte, da Madiha das Wesentliche bereits genannt hatte. Nämlich, dass Azura verblendet war, Kjetell'os Wunsch nicht zu entsprechen. Dass sie darin nur einen Grund sah, sie - Azura - triezen und ausschließen zu wollen, während andere auf Abenteuer loszogen? Sah sie den Ernst der Lage denn nicht? Das hier war kein Spiel! Alle bereiteten sich vor, ihr Leben zu riskieren, um es ihr Recht zu machen. Ihr! Wie Madiha schon sagte, versuchte niemand, sich ihr zum Feind zu stellen, sondern setzte lieber sich selbst Risiken aus, damit Azura wieder eine intakte Familie unter einem Dach hätte. Dass sie sich daher nicht selbst in Gefahr begeben durfte, hatte nichts damit zu tun, sie ausschließen zu wollen. Zumal sie hier ebenfalls schon Pläne gehegt hatte, mit ihrer Mutter zusammen. Ja, sie würden nun keine Informationen mehr zum Aufenthaltsort ihres Ziehvaters sammeln müssen, aber wäre es nicht sinnvoll, sich dennoch gut Kind mit den Dunklen zu machen? Denn nur weil Alycide anschließend vielleicht sicher wieder im Anwesen wäre, hieß das nicht, dass die Dunkelelfen nicht sofort erneut antanzten. Auch hier in Andunie musste man sich vorbereiten und Azura war doch schon eifrig dabei gewesen, diesen Weg zu gehen.
Warum sie nun dermaßen giftig reagierte, Madiha und auch Corax zu Feinden erklärte, weil sie sie auf der anderen Seite einer Linie sah, die sie selbst gezogen hatte, wollte niemand außer ihr verstehen. Es konnte niemand verstehen, denn weder Madiha noch Corax und nicht einmal Jakub konnten es nachvollziehen.
Jakub, der wortkarge Erste Maat, der vielleicht nicht die Etikette besaß, um mit Adligen passend umzugehen, wohl aber bereits sein Leben riskiert hatte und gezeichnet zurückgekommen war. Madiha machte auf ihn aufmerksam, eröffnete, dass man ihn gefoltert hatte und auch wenn er es wiederum herunterspielte, indem er schwieg, so machte es die Striemen auf seinem Rücken weder unsichtbar, noch ungeschehen. In Azuras Bild passte dies allerdings nicht hinein, so dass sie Jakub einfach gänzlich ausblendete und lieber in die sichere Nische ihres Salons floh, um sich zu sammeln. Sie fühlte sich zu Unrecht angegangen von Madiha und verraten von Corax. Sie fühlte etwas, das absolut irrational war, denn sie war es, die alle zu Feinden erklärte, welche ihre Ansichten nicht teilten. Sie ignorierte die Sorge hinter solchen Entscheidungen, die Positionen, die ihre Gefährten einnahmen, einzig und allein, weil es ihr nicht gefiel, zurückzubleiben. Sie wollte die Füße nicht still halten. Dass aber auch ihr Rabe hierbleiben würde und bereits offen gesagt hatte, mit ihr gemeinsam das durchzustehen - warten und auf einen guten Ausgang hoffen, statt sich ins Lebensgefahr zu begeben - auch das sah Azura nicht. Weil sie es nicht sehen wollte. Sie hatte bereits ihr altes Feindbild ausgegraben, es mit den Federn ihres Raben geschmückt und nun in dieser Haltung verbissen, weil sie keinen Schritt mehr zurückweichen konnte. Wo war die Entwicklung, wo der Grund ihrer Mutter, ihr ein Lob für ihren Werdegang auszusprechen? Wo war der Einfluss, der angeblich von Corax auf sie abgefärbt hatte?
Der Rabe, welcher sich ebenfalls ob der Dringlichkeit hinter Madihas Worten, erhoben und neben sie gestellt hatte, schaute mit traurigem Blick in die Nische. Azura erwiderte den seinen aktuell nicht. Sie schaute niemanden der Anwesenden an, suchte im Bild des Regens nach innerer Ruhe. Corax jedoch konnte nicht von ihr ablassen. Er betrachtete die Frau, die er liebte, mit schwerem Herzen. Ihr gekränkter Blick brannte sich in seine Erinnerung ein. Er versuchte zu verstehen, warum sie ihn so angesehen hatte und kontne es nicht.
"Sich die Meinung offen sagen auf die Wahrheit hinweisen zu können, um vor Schlimmerem zu bewahren, macht 'ne Freundschaft aus", brummte Jakub einfach nur und hatte wohl den Kern der Sache erkannt, weshalb Madiha und Corax überhaupt aufgestanden waren. Sogar er versuchte, die Wogen zu glätten, um Azura - auf seine Weise und mit weniger offen gezeigtem Zorn als Madiha - aufzuzeigen, dass sie hier im Irrtum lag, alles als einen persönlichen Angriff zu sehen. Aber es war zu spät, wie es schien. Die Adlige hatte jeden bereits auf der anderen Seite eines Schlachtfelds platziert, das sie selbst ins Spiel brachte. Die übrigen wollten nur verhindern, dass sie mit einem Spielbrett inmitten auf ein echtes Schlachtfeld ging. Nicht, weil irhe Fähigkeit zu spielen unerwünscht wäre, sondern damit das Brett nicht das einzige bliebe, was von ihr übrig war, sobald sich Alycide aktiv in das Spiel würde einmischen können.
"Ich liebe dich..", murmelte Corax, aber es klang nicht so voll aus Herzensüberzeugung wie sonst. Es klang traurig, wie ein Versuch, der die andere Seite daran erinnern sollte, es nicht aufzugeben wegen einer Banalität, deren Ursprung nicht wirklich vorhanden war, sondern nur hinein interpretiert wurde aus Gründen, die nur sie verstand. Aber Corax konnte es nun nicht aus vollem Herzen sagen. Azuras Blick hatte ihn getroffen. Er schaute Hilfe suchend zu Madiha. Er verstand nicht. Sie war es doch, die von ihm wünschte, dass er aussprach, was er wollte. Er hatte es ihr Versprechen müssen und sich soeben daran gehalten. Er wollte, dass sie hier blieb - bei ihm, in Sicherheit. So wie Kjetell'o wollte, dass seine Tochter sicher wäre. Dafür setzte er sein Leben und das anderer auf's Spiel.
"Du bist so blind für all das...", murmelte Madiha, denn sie resignierte. Corax machte einen halben Schritt zurück, ehe er sich wieder in den Sessel sinken ließ. Er machte einen unglücklichen und zugleich verwirrten Eindruck. War es doch falsch, genau das zu tun, was Azura von ihm wollte? Und warum hatte er sie nicht angefahren? Warum durfte er es problemlos genauso sehen wie Madiha, seine kleine Herrin es sich aber nicht erlauben, eine Azura darauf anzusprechen? Sie waren alle gleich, zumindest wenn es nahc Corax ging. Das hier war keine Diskussion, bei der der Stand zählte. Hier waren sie doch alle Verbündete! Freunde ... die versuchten, eine Freundin von einem Fehler abzuhalten. Eine Freundin, die reflektieren musste, aber sie packte das Kriegsbeil aus. Er seufzte und berührte seinen Nacken, in dem es leicht zu rascheln begann. Corax drückte die Federn platt, die sich bilden wollten.
Ehe sein Leid wachsen konnte, wand Madiha sich ihm zu. Denn auch sie war auf keiner Gegenseite, die es zu bekämpfen galt. Es handelte sich hier auch um keinen Konkurrenzkampf, wem es zuerst und besser gelang, Corax glücklich zu machen. Sie war hier, um ihm etwas mitzuteilen, dass ihn glücklich machen würde, einfach weil sie es erfahren hatte und er es hören musste. Dass sie die Überbringerin der Nachricht war, war für die Nachricht selbst unerheblich. Es war auch für Corax nicht wichtig. Er würde Madiha nicht über andere stellen, nur weil sie seinen Vater gefunden hatte. Denn das rückte in den Hintergrund. Er hatte einen ... Vater. Einen Bruder. Und Madiha hatte jemanden, der ihr vertraute. Corax' schnelle Reaktion erwärmte ihr Herz, ließ die Wut auf Azuras Verhalten etwas verrauchen. Sie war nicht für die Adlige hier und jegliche Hoffnung auf ein engeres Bündnis schienen nun wohl endgültig dahin. Sie war für den Mann hier, der zwischen ihnen stand und der für beide eine eigene Form der Liebe empfand. Derjenige, der genug in seinem Leben gelitten hatte. Jetzt war es Zeit, ihm ein wenig Glück zu schenken, sowie die Hoffnung darauf, dass er es würde ausbauen können.
Auch das konnte Azura nicht sehen. Den Kern - dass ihr Geliebter Familie besaß. Darüber hinaus war er doch jemand von adligem Geblüt, was ihre Beziehung eigentlich nur mit Vorteilen behaftet hätte. Selbst wenn sie in Pragmatismus übergeschwappt wäre, hätte sie mehr gesehen als das, was ihr eigenes Herz vergiftete. Denn sie erkannte nur, dass nicht sie es war, die Corax diese Nachricht überbrachte. So drang aus ihrem Munde lediglich ein: "Glückwunsch..." So ehrlich es gemeint war, es sorgte dafür dass Corax stutzte, anschließend auf seine Hände schaute und wartete. Als nichts weiter kam, ließ er den Kopf etwas hängen.
Jakub richtete seinen kantig harten Blick auf Azura. Er betrachtete sie lang und schien abzuwägen, ob auch er noch etwas sagen sollte. Ehe dies geschehen konnte, tauchte ein altbekanntes Gesicht auf der Bühne des Geschehens aus. Aquila van Ikra kam herein, mit einem Rollwagen bewaffnet, auf den sie Tee und das wenige Gebäck geladen hatte, das sie in der Eile hatte auftreiben können. Bevor sie sich jedoch um die Bewirtung kümmerte, merkte auch sie die neu entdeckte Tatsache an.
"Er ist von edlem Geblüt?"
"Er ist Teil einer Familie", erwiderte Madiha. Ein warmer, rubinroter Blick traf sie. Corax schüttelte unter einem Lächeln den Kopf, das nicht wusste, wohin mit seinem Glück. Aber er wagte noch nicht, es nach außen zu tragen. Nicht, wenn im Hintergrund Azura in ihrer Nische saß und leise Tränen weinte. "Die habe ich doch längst", erwiderte er nur und schaute erst von Madiha zu Jakub, dann über die Schulter zu Azura und blieb schließlich nach kurzem Zögern auch auf Aquila hängen. Seine Brauen bogen sich in einen fragenden Ausdruck. Die Hausherrin wirkte unentschlossen. So zog sie sich in ihren Pragmatismus zurück. "In dieser Runde mag dein Stand kaum ausschlaggebend sein ... Euer Stand." Er war es also doch ein wenig oder Aquila ihrerseits festgefahren in einer schwer anerzogenen Etikette, die sie sich beigebracht hatte, um in die Welt ihres Gatten zu passen. Sie hatte gewusst, dass sie an seiner Seite seinem Ruf nicht durch mangelnde Manieren schaden durfte und war bereit gewesen zu lernen. Sie hatte sich entwickelt, der Liebe Willen. Sie fürchtete, dass auch Corax diesen Weg würde gehen müssen, falls er es wahrlich ernst mit ihrer Tochter meinte und Azura sich nicht davon abbringen ließ, sich in einen anderen zu verlieben. "Seine Herkunft wird aber nach außen hin wichtig sein. Da ist nun ein adliger Dunkelelf verbunden mit einer menschlichen Adligen ... verbohrte dieses Standes werden nicht offen dafür sein, aber die Chancen stehen besser als wenn man sich nun bei den dunklen Betuchten mit einem ...", sie überlegte kurz, "engen Vertrauten der Feuerhexe Mortis präsentiert. Letzendlich zählt für die meisten blaues Blut vor einem hohen Rang in der Gesellschaft mehr." Es war nicht unbedingt ihre Haltung, die Aquila hier offenlegte. Vielmehr schien sie die Dinge erläutern und erklären zu wollen - für Madiha, aber auch für Corax selbst. Jener mochte adlig sein, aber hatte es offensichtlich jetzt erst erfahren. "Auf Euch kommt eine Menge Abreit zu", ließ sie ihn an ihren eigenen Erfahrungen teilhaben und ... in ihrem Blick blitzte etwas auf. Aquila sah hier Hoffnung, sich vielleicht noch an diesen Elfen gewöhnen zu können. Er bräuchte Leitung und sie könnte ihn anweisen, so einen Blick auf ihn und ihre Tochter haben. Die Situation schien ihr zunehmen zuzusagen.
Mit diesem neuen Wissen im Herzen fiel es ihr auch etwas leichter, eine Entschuldigung ob des mitgebrachten Angebots auszusprechen - eine Höflichkeitsfloskel, nur gesagt, weil sie der Etikette treu blieb. Aber sie wollte dennoch eine Gastgeberin sein und nutzte die frisch gewonnene Information, um den soeben offiziell Geadelten davon abzuhalten, sich zum Diener zu degradieren. Das war er nicht, wie niemand von ihnen. Hier traf keine Adlige auf Dienerschaft oder andere Adlige. Hier stand eine Gastgeberin, die es nicht sehen wollte, dass ihre Gäste die Arbeit von Dienstboten erledigten, die sie nicht mehr hatte. Aquila würde auftischen und ihre Würde dabei bewahren. Das hatte sie zumindest vor, aber es kam anders. Denn leider hatte auch sie sich unglücklich ausgedrückt. Unter dem Vorwand, Corax aufgrund seines Standes keinen Handgriff tun zu lassen, bewahrte sie sich vor der unwürdigen Aufgabe eines Hausdieners, ohne ihr Gesicht zu verlieren. Doch Madiha schritt ein.
"Lasst Euch helfen ... egal, woher jemand kommt oder ... worin seine Wurzeln begründet liegen mögen ... Gemeinsam geht es leichter, oder nicht?" Sie musterte die Sarmaerin. Da nahm jene ihr schon die erste Tasse ab. Also gab Aquila sich geschlagen und ließ sie machen. Sie schenkte ein, Madiha verteilte und bemerkte so gar nicht, dass sie zumindest Corax wirklich einmal einen Vorgeschmack gab, wie er nun behandelt werden könnte - von anderen, von außen. Nicht von ihr. Denn hier verteilte keine Dienerin, keine Sklavin, den Tee an Höhergestellte. Hier brachte eine Freundin Getränke an Freunde. Auch bei Azura versuchte sie es, trat mit Tee und Gebäck an sie heran. Doch die Andunierin konnte nicht aus ihrer Haut.
Aquila van Ikari schaute erst jetzt zu Azura hin. Sie bemerkte den Tränenfluss und hob überrascht die Brauen. Dann wandte sie den Blick in die gesamte Runde und tatsächlich bedachte sie, vorurteilsbelastet ob der Ereignisse, Corax etwas länger als die anderen. Doch sie sagte nichts. Noch nicht. Denn Azura war schneller.
"Ich muss hier raus!", keuchte sie und floh schneller aus dem Salon als der Schatten eines Schattens. Zurück blieben nur überraschte Gesichter. "Kind...", rief Aquila ihrer Tochter noch nach, aber zu spät. Azura ließ sich nicht aufhalten und ihre Schritte verhallten bereits im Gang.
Die Hausherrin seufzte tief. Sie stützte sich kurz am Griff des Rollwagens ab, gönnte sich einen Moment der Blöße. Dann wurde ihr wieder bewusst, dass sie Gäste hatte und darunter nun auch einen adligen Dunkelelfen. Jemand, der ihre Tochter liebte und nun auch wahrlich eine Position besaß, dies tun zu können. Jemand, der in einer Verbindung mit Azura Möglichkeiten offenlegte, sich wirklich im neuen andunischen Mischadel einzugliedern. Jemand, für den auch Azuras Herz zu schlagen schien und das war für eine Mutter ausschlaggebend, die seit Tag und Jahr den passenden Kandidaten für ihr Kind gesucht hatte. Eine Mutter, die sich mit dem Stiefvater die Nächte in Rat- und Hilflosigkeit um die Ohren schlug, weil sie niemanden fanden und kein Galan gut genug für Azura war. Eine Mutter, die herzensfroh gewesen war und über den Stand des Neu-Adels hatte hinwegsehen, ja ihn sogar begrüßen können, weil Alycide und Gregor van Tjenn einander so gut verstanden. Weil der Sohn dieses Mannes offenbar ein gutherziger Geselle war, nur leider nicht so erpicht darauf, auf Tanzbällen aufzutreten. Damals schon waren erste Zweifel gekommen, ob Caleb van Tjenn die richtige Partie für die viel jüngere, damals fast noch kindliche Azura, wäre. Aber er schien die einzig passende Wahl zu sein in einem Meer aus Männern, mit dem die Tochter nur spielte und niemals in ernste Gefilde fahren wollte. Glücklicherweise ging Caleb van Tjenn verschollen, denn das hielt die van Ikaris davon ab, ihr Kind in eine Zwangsehe zu geben, die sie vielleicht nicht gewünscht hätte. Aquila und auch Alycide vertraten die Ansicht, dass eine Ehe unter Zuneigung geschlossen werden sollte. Wenn sich aber niemand fand und die Tochter immer älter, für den Heiratsmarkt eigentlich zu alt wurde, da wog man Alternativen ab. Eine unverheiratete Adlige wurde akzeptiert, wenn sie sich durch Taten einen Namen machte, anstatt durch eine Kinderschar. So hatte Alycide erste Gedanken zu einem Schicksal als Kauffrau für Azura geäußert und sich die Seekarten und Handelsbeziehungen angesehen. So hatte er die Insel Ardéris mit dem stolzen Volk der Amazonen entdeckt... Es war eine letzte Chance auf Hoffnung für jemanden, der mit zu viel Liebe zu sehr verwöhnt worden war. Nun erkannte Aquila van Ikari ihren Fehler.
"Vielleicht ... hab ich das Kompliment zu ihrer Reife zu früh ausgesprochen", murmelte sie in tiefem Bedauern. Dann fasste sie sich wieder. Ihre Haltung nahm eine geradlinige Kurve an und sie reckte den Kopf. Dies waren private Dinge, nicht geeignet für die übrigen Anwesenden. Erneut fiel ihr Blick auf Corax. Er galt wohl doch ein wenig als die Ausnahme. "Mein Kind ist nicht leicht", entschuldigte sie sich gar bei ihm. Corax schüttelte den Kopf und hatte schon wieder seinen Liebesschwur auf den Lippen, als Jakub von seiner Position an der Wand heraus fragte und so ... einen Freund gab: "Bist du sicher?"
Corax blinzelte ihn an. Der Maat richtete den Blick jedoch auf Madiha, die ihm eine Tasse Tee reichte. Sie war nicht von Stand und Adel. Sie war aber auch keine Dienstmagd, die man mit einer solchen Aufgabe betraute. Woran sie die Hausherrin erinnerte und was man im Adel nur zu schnell vergaß wie sich zeigte, das war Aufrichtigkeit. Sie war hilfsbereit. Daher verteilte sie die Tassen nicht als Sklavin, sondern als Madiha. Nur Madiha. Und es wurde dankend angenommen, von allen verbliebenen Anwesenden.
Azura hingegen hatte sich zum einzigen Ort geflüchtet, der ihr weinendes Herz vielleicht noch beruhigen konnte. Auch wenn sie fürchtete, sich mit dem zu konfrontieren, was sie innerhalb der Voliere erwarten könnte. Ihre Eltern hatten ihr zwar diesen großen Vogelkäfig für den Garten geschenkt und ebenso sie Falken darin, damit sie damit auf die Jagd gehen konnte, wohl aber beteiligten sich Alycide und Aquila nicht groß daran. Gerade ihre Mutter konnte mit den Tieren nicht umgehen, aber sie war es, die nun allein den leeren Hausstand pflegte. Die Angst, dass ihr geliebter Falke wochenlang in seinem Käfig gesessen hatte, ohne gefüttert zu werden, war real und bot eine gute Ablenkungen zu den Problemen, die Azura sich durch ihre Haltung eben noch selbst geschaffen hatte. So musste sie nicht darüber nachdenken, konnte sich dem eigenen Unglück hingeben, das sie empfand und sank im Pavillon nahe der Voliere auf einer Bank zusammen. Der Regen hatte nicht wirklich nachgelassen, war nur in einen Zustand des stetigen Nieseln übergegangen, anstatt wieder mit heftigen Tropfen vom Himmel zu prasseln. Ventha war launisch und wollte nicht von ihrer Haltung ablassen. So wie Azura nicht über ihren Schatten springen und sich Irrtümer eingestehen konnte. Stattdessen hatte sie nun auch Corax zum Teil der Verschwörung erklärt, die sich gegen sie doch offenkundig aufgebaut hatte! Jedenfalls sah sie es noch immer so und das erschwerte ihr Herz. Was aber war aus der Liebe geworden, die sie für ihren Raben empfand? Hatte sie sich durch das Ereignis geschmälert? Hegte Azura nun Zweifel? Sie allein wusste es und würde entscheiden müssen, wie sie dazu stand und welche Barrikaden sie aufrecht erhalten und welche einreißen wollte. Ihr Rabe ... er besaß nun Familie. Das Haus Faelyn sollte seine Familie sein und mit ihnen ein Elf, der ihn zum Verwechseln ähnlich gesehen hatte. Inzwischen besaß auch er einen Namen. Emmyth. Langsam sickerte dieses Wissen zu Azura durch. Ob sie sich nun damit beschäftigen wollte, musste sie ebenfalls selbst entscheiden. Fest stand, dass sie Zeit dafür hatte. Denn vorerst hockte sie hier allein im Regen. Die Voliere war leer. Glücklicherweise würde sie keinen toten Falken im Inneren des Käfigs vorfinden. Wo er jedoch steckte, war unklar. Der Regen nieselte auf das Gittergestellt herab und prasselte sanft, ebenso wie auf das Dach des Pavillons. Es wirkte fast friedlich, zugleich lud es aber auch die Einsamkeit ein, sich noch weiter in Azuras Herzen auszubreiten.
Wo die junge Adlige sich nun allein fühlte und es ihr Herz schwer machte, da wurde das von Corax mit Wärme umfangen. Das Thema war zu ihm zurückgekehrt, mit seiner neu entdeckten Familie im Fokus. Alles saßen nun auf den Sofas oder in Sesseln, von Jakub abgesehen. Er hatte seinen Platz an der Wand nicht verlassen, nippte am Kamillentee und sah ... tatsächlich zufrieden darüber aus. Selbst wenn ihm ein starker Schluck lieber gewesen wäre, ein warmes Getränk tat es bei dem Wetter auch.
"Kathar wartet auf dich und ... Azura...", richtete Madiha ihre Worte wieder an Corax. Jener ließ den letzten Bissen Gebäck sinken, legte ihn auf den Rand seiner Untertasse und stellte diese auf den Kaffeetisch. "Hab ich es falsch gemacht, kleine Herrin? Sie ... sie wollte, dass ich ihr sage, wenn ich etwas will oder nicht will. Ich ... versuch doch nur..." Es verwirrte ihn, machte ihn unsicher, dass sogar Aquila die Brauen hob. Denn so hatte sie den Dunkelelfen bisweilen nicht erlebt. Er war in seiner Art höflich, lieferte sich nur mit Azura kleinere Wortgefechte, gab sich dann wie ein gut ausgebildeter Hausdiener und hatte sogar mehr Manieren an den Tag gelegt als ihre Tochter - abgesehen von dem zügellosen Stelldichein und der Entjungferung, die ihm die Hausherrin nicht ganz verzeihen konnte. Da konnte er noch so oft betonen, wie sehr er ihr Kind liebte. Jetzt aber schienen Zweifel zu wachsen, geboren aus Unsicherheit und Verwirrung. Azura mochte nicht reflektieren, Corax schon. Er befand sich in einem stetigen Entwickungsprozess, seit er sie entführt hatte.
"Corax, versprich mir bitte, dass du zu ihm gehst! Notfalls auch ... allein. Ich ... dein Vater ist alt, Corax, und er will dich sehen und du solltest ihn sehen. Ich bitte dich! Tu das für dich! Lerne ihn kennen und ... und schlag ein gänzlich neues Kapitel auf!" Corax musterte Madiha. Er suchte offenbar Hinweise zwischen den Zeilen, fand aber keine. Madiha sagte offen, was sie bewegte, ohne Hintergedanken. Ihr war sein Wohl wichtig, weil sie Freunde waren. Sie wollte ihn glücklich sehen - um seinetwillen. Jakub hingegen sah tiefer.
"Ihr geht es nicht um dich", meinte er und zog damit alle Aufmerksamkeit auf sich. Das hatte er so wohl nicht geplant, denn er räusperte sich und nahm hastig einen tiefen Schluck Tee, um Zeit zu gewinnen. Die Blicke ließen aber nicht von ihm ab und so musste er sich erklären. Mit festem Blick konzentrierte der Glatzkopf sich ausschließlich auf Corax. Er schaute ihn an wie jemand, dem man ansehen konnte, dass er hier keinen Zwist heraufbeschwören wollte. Hier stand kein Feind. Hier stand ein Mann, der durchaus Zuneigung für den Raben empfand, sich inzwischen aber zurückhielt, weil er dessen Gefühle berücksichtigte. Aber hier stand auch ein Freund, der gewisse Dinge nicht unausgesprochen lassen konnte. "Überleg's dir gut, Spitzohr. Liebe ist weder einseitig, noch ein Konkurrenzkampf, wer dir gute Nachrichten überbringt. Liebe gestattet Freundschaften und dass man einander die Wahrheit sagt. Und Liebe sollte niemals so blind machen, dass man sich selbst verliert. Vergiss nicht, wer du bist, klar? Das kannst'e
mir versprechen."
"Jakub...", murmelte Corax seinen Namen, doch der Maat winkte ab. Er stellte die Tasse auf den Rollwagen und wusste nicht so recht, ob er sich vor Aquila verbeugen oder salutieren sollte. So endete seine Geste in einer Mischung aus beidem, was reichlich albern aussah. "Majestätische Hoheit", brummte er. Aquila nahm es schweigend hin. Dan wandte Jakub sich Madiha unc Corax zu. "Ich warte am Eingang, schüttel die Regenmäntel aus oder so. Ich bring dich dann zu Calebs Haus. Der wartet sicher schon ... und du! Denk nach, Corax, aye? Beobachte udn denk nach. Das ... bin ich dir schuldig, dir das zu sagen." Er räusperte sich erneut und machte dann weniger in Flucht wie Azura den Abgang.
Aquila schaute ihm nach. "Ein seltsamer Geselle", kommentierte sie.
"Nein, er ... er hat Recht. Ich ... muss nachdenken...", gestand Corax sich ein, wirkte zutiefst erschreckt und besorgt darüber. Die ganze Situation von vorhin beschäftigte ihn jetzt mehr als zuvor. Er rieb sich den Nacken wie es Caleb oftmals tat und erinnerte mit dieser Handlung Madiha daran, wo sie ihr Weg nun hinführen würde. Auch sie musste gehen. Sie musste ... Lebewohl sagen.
"Du wirst mir fehlen..." Corax richtete den Blick auf sie, plötzlich auf andere Art und Weise erschreckt. Aber dann traf ihn die Erkenntnis. Madiha würde gehen, um Azuras Vater zu retten. Sie und Kjetell'o würden gehen, während Corax hier blieb, seine Familie kennen lernte und Azura dazu bewegen musste, die Füße still zu halten, ohne in Elend und Zorn zu vergehen.
"Danke, dass ich Teil deines Lebens sein durfte..."
"Das klingt ... wie ein Abschied für immer, kleine Herrin", bemerkte er. Dann festigte sich sein Blick. In den Rubinen loderte etwas auf. Es wirbelte um sich selbst, war noch im Zwiespalt, aber bereit, ihn zu zerschlagen und eine Lösung zu finden. Corax rutschte aus dem Sessel, fiel nach vorn, dass er vor Madiha kniete. Ohne Vorwarnung zog er sie in seine Arme, drückte sie eng an sich und hielt sie fest. Und als er sich löste, hatte er er eine kleine schwarze Feder in der Hand. Sie war nicht länger als seine Finger. Er reichte sie Madiha. "Wenn du mich brauchst, wirklich brauchst ... dann verbrenn die hier. Ich weiß, dass du das kannst, kleine Herrin. Wirf sie ins Feuer und ich werde kommen." Er lächelte sie an, dass seine Augen kurz aufschillerten. Aber es löste sich nur eine Träne daraus. Er fing sie in seiner hohlen Hand auf, wo sie sich zu einer Perle formte, die in allen Farben schimmerte, sobald Licht auf ihre Oberfläche traf. "Und die hier musst du Kjetell'o geben. Das ist wichtig. Auch er braucht ein Abschiedsgeschenk. Wir bleiben Freunde. Das müssen wir bleiben, kleine H... Madiha."
Der Rabe erhob sich. Er straffte die Schultern und sah zur Tür. Er schaute sie eine Spur zu lange an, während sich ein nachdenklicher Ausdruck auf seinen Zügen breit machte. Dann blickte er zu Aquila. "Ich gehe Azura suchen. Bitte, entschuldigt mich." Sie nickte nur. "Es herrscht allgemein Aufbruchstimmung. Ich wünsche jedem den nötigen Erfolg ... und ...
ihm" - sie meinte eindeutig Kjetell'o - "dass er sich an die Vereinbarung hält."
"Er wird tun, was nötig ist. Ich vertraue ihm", sagte Corax. Dann schaute er Madiha noch einmal an. "Und dir ebenso. Bring ihm die Perle, erinnere dich an die Feder. Ich lasse dich nicht im Stich, wenn du mich brauchst." Anschließend verneigte er sich vor der Adligen wie er es als Sklave oft genug getan hatte. Dann verabschiedete Corax sich, indem er noch vor Madiha den Raum verließ. Sie aber folgte alsbald, ging jedoch Richtung Haupteingang, wo Jakub schon auf sie wartete. Gemeinsam mit ihm würde sie nun den nächsten schweren Weg antreten .. zu Caleb ... und Jivvin.
Corax' Weg hingegen war nicht minder leicht. Bei jedem Schritt dachte er über Jakubs Worte nach, erinnerte sich an Madihas Hinweis, notfalls allein zu seinem Vater und Bruder zu gehen und an ihre Bitte, auf jeden Fall beide aufzusuchen. Das wollte er. Er wünschte es sich. Dann aber trieben ihn die Schritte durch das Haus. Er suchte Azura. Er schnupperte, suchte ihr Leid. Und mit jedem weiteren Raum, den er in Augenschein nahm, bemerkte er, dass er es nicht riechen konnte. Es wurde überdeckt. Corax blieb stehen. Er griff sich in den Nacken, wo ein stolzer Kragen aus schwarzen Federn sich auszubreiten versuchte. Er wusste, woher sie rührten und was ihn bewegte.
"Azura...", seufzte er. Dann keuchte er erschreckt auf und schloss seine Finger um die Federn. Unter einigem Kraftauwand, mehr aber noch unter Schmerz riss er sie sich im Bündel aus. Ein wenig Blut spritzte dabei auf eine nahe Kommode. Achtlos ließ er die Federn dort fallen. Dann atmete er tief durch ... und roch eine vertraute Note. Sie kam von draußen. Corax drückte sich den Stoff seiner noblen Weste in den Nacken, bis die Blutung gestillt war. Unter seinen Haaren würde man es nicht entdecken. Er machte sich auf den Weg.
Es regnete immer noch. Draußen war es kühl, aber dass seine Liebste hier war, das konnte er riechen. Mit dem Schnabel im Wind folgte er der Spur, mehr Hund als Rabe, und fand die Andunierin schließlich in ihrem Pavillon vor. Langsam näherte er sich, inzwischen selbst schon wieder durchnässt. Er blieb am Zugang der kleinen, weißen Gartenlaube stehen. Er betrachtete sie ... nachdenklich ... mit gemischten Gefühlen.
"Azura?", fragte er nach einer Pause, in der nur der Regen eine Geräuschkulisse bildete. "Gehen wir ... meine Familie besuchen?" Er betrachtete sie genau und er dachte an Worte, reichlich Worte, die in der letzten Stunde allesamt gefallen waren und die nun wohl einiges veränderten, für viele.
Für Madiha geht es weiter bei Das Haus der Familie van Tjenn