In ihrem Leben war Naella Federfall noch immer ‚irgendwie‘ davongekommen. Ihr Handeln hatte zwar Konsequenzen, doch diese blieben seit über 70 Jahren weitestgehend folgenlos. Zumindest aus ihrer Sicht. Nell war kein schlechter Charakter – ganz im Gegenteil. Doch dass sie wie ein zu groß geratenes Trampeltier über so manche zarten Pflänzchen namens Gefühle hinwegtrabte, das übersah sie mitunter. In ihrer Erinnerung herrschte eine wahre Flut an Unschuld und auch wenn sie nicht auf den Mund gefallen war, so war sie doch jungfräulich im Bereich der Liebe. Bramo hatte sich jemanden ausgesucht, der ohne Hilfe gewiss nicht darauf kommen würde, dass es mehr geben könnte als nur ein Pfeifen auf den Lippen und ein freches Lächeln für jede Situation. So gab es in ihrer Erinnerung auch nur Karli…Kalli… Kalle – wie auch immer-, der an dem einen Morgen aussah wie immer und seiner Arbeit nachkam, wie immer. Und am Abend deutliche Spuren einer Auseinandersetzung gehabt hatte. Und Bramo, der mit der Sprache nicht wirklich herausrückte. Sie jedenfalls wusste nichts von dem ‚Gespräch‘ zwischen ihnen und demnach beließ sie es auch nur mit einem Schulterzucken dabei. Ohnehin hatte sie sich mit Bramo dann verkrümmelt – er war ihr schon immer der liebste Zeitvertreib gewesen, wenn sie nicht auftreten mussten. Warum ausgerechnet der mürrische Apfelmensch ihre Sympathie so hervorlockte, wo doch nichts in ihrem Leben reichhaltigen Bestand hatte, ergründete Nell sicher nicht. Dazu müsste sie ja in sich gehen und würde doch nur von unzähligen, losen Gedankenfäden abgelenkt werden. So wie jetzt, als sie seinen Blick nicht bemerkte, während sie Mikk anschaute, der zu viel Apfel gegessen hatte. Erst als sie aufschaute, um ihre Aufmerksamkeit wieder der Heilerin zu widmen, traf sie seinen Blick. Für einen Moment blieb sie fragend darin hängen, bis sie ihm ein typisches Lächeln schenkte und ihn anleuchtete. Ihre Antwort kam, wie sie kommen musste: Nell war dabei! Bisschen Unterhaltung, das bekam sie mühelos hin. Dass sich das Publikum hier aber etwas anders gestalten könnte, darauf kam sie nicht. Wieso auch – ein schwieriges Publikum forderte die Schaustellertruppe nur im besonderen Maße. Andere würden sich vielleicht Gedanken machen, was angebracht wäre, was spielbar wäre oder was sie beeindrucken würde. Nell war das gleich. Sie zeigte, was sie zeigte und Schluss. Bisher hatte sie noch jeden Mund zum Lachen gebracht. Wenn manchmal vielleicht auch unfreiwillig!
Die Tatsache aber, dass sie sich doch auch unwohl gefühlt hatte, als es den Anschein gehabt hatte, dass sie anderweitig für Vergnügen sorgen sollte, hatte Nell bereits wieder vergessen. Sie selbst war sich nicht mal bewusst gewesen, doch da hatte etwas in ihren Augen gelegen, das zumindest dem aufmerksamen Betrachter deutlich hätte zeigen können, dass sie das nicht gewollt hätte. Dass aber ihr Naturell manchmal auch Dinge auf die leichte Schulter nahm, die man nicht leichtfertig hinnehmen sollte. Nell’s Art war nicht nur für ihre Freunde ein Kreuz. Auch für sie selbst und vermutlich würde sie in dieser von Dunkelelfen dominierten Stadt noch gehörig auf die Nase fallen. Aber das waren keine Gedanken, die ihr durch den hübschen Kopf schwirrten. Nell wandte sich schwungvoll um, griff sich ihre eigene Tasche und stopfte Mikk da rein, ehe sie Rubin folgte. Dem schmatzenden Abschied betrachtete sie mit unverhohlener Neugierde, ehe sie einen Blick auf Bramo zurückwarf. Während er hinterher hinkte, fiel ihr aber dennoch auf, wie er die Tasche locker flockig aus der Hüfte trug und sich dabei spannte, was sich ‚gestern‘ noch nicht gespannt hatte. Sie blinzelte. Wann war denn das alles passiert? Und wieso konnte sie das erst jetzt erkennen, DASS das alles passiert war? Ihr kam die Situation während ihres Lauschangriffs in den Sinn und sie hustete. Die Bilder waren gerade in einem Kopf wie Nell’s viel zu lebhaft und bunt gespeichert. Sie vergaß so schnell nicht. Und ihre Magie hatte auch einen Großteil äußerst echt in ihr verankert, sodass sie in einen Tagtraum verfiel, der ihr noch mal die Nähe zu ihm bewusstgemacht hatte.
Wie er wohl ohne Hemd aussieht? Ob er mich mal anfassen lassen würde? Ich muss ihn wirklich fragen, wann er denn diese Muskeln bekommen hat. Hat er mir gar nicht erzählt! Und harte Arbeit… naja. Waren wir irgendwann mal getrennt? Kann mich gar nicht daran erinnern… Wie alt war er noch gleich? Achja… 16… Aber - … na warte mal… er war…16 als wir uns kennengelernt hatten.. das ist aber schon… ewig her?!Nell träumte… und rannte prompt in das Zelt am Eingang. Erschrocken quiekte sie, ehe sie sich verhedderte und schlussendlich doch noch irgendwie ins Freie taumelte.
Mit leicht wilden Haaren schaute sie sich erschrocken um, ehe sie schnaufte, sich die Haare mehr schlecht als recht richtete und dem kleinen Tross folgte. Noch immer grübelte sie ein wenig über ihre Neuentdeckung, dass Bramo inzwischen älter war, nach, ehe sie jedoch von einem Anblick abgelenkt wurde, der augenblicklich sämtliche Gedanken wegwischte. Nell verzog wenig damenhaft das Gesicht und rümpfte die Nase, dann lachte sie aber und deutete mit dem Daumen auf das Gesäß des Orks, ehe sie Bramo darauf aufmerksam machen wollte.
„Tuff, schön, dass ich dich hier treffe. Nimm doch bitte Bramo da drüben...“ – Nell zog die Brauen hoch, als sich der Ork vorneigte und Rubin auf die Stirn küsste. Sie wich einen Schritt zurück – brauchte er bei ihr gar nicht erst zu versuchen! Ihgitt. Als sie allerdings Bramo erwähnte, wanderte der gelbe Blick zu ihrem Freund und sie blinzelte überrascht, ehe die Auflösung folgte:
„...meine Tasche ab. Er muss sich ein Instrument aussuchen... Ach und Nell?“ „Hier!“, antwortete sie nickend
„Brauchst du auch was?“, wurde sie gefragt und in ihrem Gesicht war eine kurze Verständnislosigkeit offenbar. „Öhm.“, machte sie wenig geistreich, ehe sie ihren Blick schweifen ließ. Naella betrachtete die Musikinstrumente und bekam das Gespräch zwischen Bramo und Rubin gar nicht wirklich mit. Ihre Augen tasteten das schöne Holz von Bratsche, Leier und Harfe ab. Hier und dort ließ sie eine Saite anklingen oder strich einfach nur ehrfürchtig mit ihren Fingerspitzen darüber. Nell war ein wahres Trampeltier, wenn sie wollte. Aber sie erkannte durchaus auch den Wert schöner, handwerklicher Arbeit. Ihr Blick fiel auf den knienden Besitzer. „Habt ihr das alles gebaut?“, fragte sie ihn lächelnd und scherte sich nicht weiter um Gepflogenheiten. Ihr war aufgefallen, wie sehr die Leute ihnen Platz gemacht hatten, die Köpfe gesenkt und gehalten hatten, bis sie vorübergegangen waren. Sie hatte es registriert, aber sich nicht weiter Gedanken dazu gemacht. Nell wartete ab, ob der Ladenbesitzer ihr antworten würde, ehe ihre Aufmerksamkeit von sanften Tönen beansprucht wurde.
Sie wandte sich um und sah Bramo, wie er auf dem Boden saß und die Laute anstimmte. Ihr Fokus änderte sich. Sie sah ihn, wie er sich der Musik hingab und jeder Ton sie fortführte auf unbekannte Pfade. Nell sah nur in das Gesicht ihres Freundes dabei. Sie lächelte jedoch im Gegensatz zu den anderen. Sie kannte sein Talent, wusste, dass er spielen konnte, auch wenn das von ihm gewählte Stück doch äußerst berührend war. Und unbekannt. Sie meinte, dass er das noch nie gespielt hatte und legte den Kopf etwas schief. Naella lehnte sich an den Tresen des Verkäufers und tauchte weiter hinab in das sinnliche Bild, welches sich ihr bot. Moment mal…
sinnlich?! Wieso sinnlich. Ist doch nur Bramo mit ner Laute…., brummte sie in Gedanken und spürte, wie ihr die Wangen wieder glühten. Nell schaffte es trotzdem nicht, sich dem Zauber zu entziehen. Etwas in ihr klang anders dabei. Ruhiger… nachdenklicher. Und es machte sie kribbelig, wenn sie versuchte zu ergründen, wieso der Mann plötzlich ein anderer war. Nach so vielen Jahren gemeinsam unterwegs, waren da plötzlich neue Töne in ihrer Symphonie der Freundschaft! Wie gemein!
„Du spielst wirklich wunderschön. Meine Herrin wird begeistert sein. „Und hast du etwas gefunden?“ „Was?!“, krächzte Nell, die nur mühsam aus der Trance, die Bramo heraufbeschworen hatte aufwachen konnte. Sie blinzelte, wandte den Blick von dem Spielenden ab und starrte Rubin mit leerem Blick an. Sie war ungewöhnlich ernst dabei. War sie etwa ergriffen von den Emotionen?! Doch nicht Nell… ! Sie räusperte sich und fand wieder zu sich zurück. „Ehm… - also.. ich hab‘ meine Geige. Die würde mir reichen.“, meinte sie schulterzuckend. Ihr Blick glitt noch mal kurz zu Bramo. Wieso hat er ihr das Stück nie gezeigt? Oder hatte er, aber sie hörte nicht zu? Nein… bei Musik und Kunst war Nell meist konzentriert. Ihr Leben bestand daraus und somit wusste sie durchaus ein gutes Spiel oder einen gemeinen Streich wertzuschätzen. Daran lag es nicht… es musste neu sein, denn auch seine Haltung, sein ureigenes Spiel hatte sich verändert. Sie waren länger nicht aufgetreten, das stimmte. Immerhin zerschlug sich ihre Gruppe, durch den Krieg. Und sie beide… sie waren nach Andunie aufgebrochen. Und da waren sie. Naella kramte ihre Geige hervor. Sie war nichts Besonderes und konnte unter all den Schönheiten in diesem Laden nicht glänzen. Doch das machte nichts. Es war die Geige ihrer Mutter und die Patina auf ihr, hatte Geschichte. Nell hatte sie hier und dort mal ausgebessert und neue Saiten gezogen, doch ansonsten…
Die Elfe fand ihre lockere Art wieder und legte die Geige gekonnt an. „Wie wäre es damit?!“, grinste sie und man sah ihr die Schaustellerin durchaus an. Nell stimmte ein äußerst frohes und schnelles Lied an, ließ sich mitreißen von ihrer liebsten Beschäftigung:
Unterhaltung. Naella spielte leidenschaftlich und verlor sich derweil darin. Denn plötzlich gab es kein Halten mehr: Die Shyáner Elfe befand sich leichtfüßig mit einem Satz auf dem Verkaufstresen und wechselte das zu spielende Stück:
Wirbelnd und mit einem rhythmischen Stampfen ihres Fußes, untermalte sie das fröhliche Geigenspiel. Sie wog sich hin und her und man sah ihr die Frohnatur an. Es war lange her, dass sie so hatte spielen können und sie verlor sich weiter und weiter. Mit geschlossenen Augen wurde ihr Spiel etwas lieblicher, ehe es wieder aufbrandete und dazu angetan war, dass man nicht ruhig an Ort und Stelle stehen bleiben wollte! Nell lachte jedem ins Gesicht, ehe sie in einer kurzen Pause vom Tresen sprang und um Bramo herumtanzte, sich drehte und wieder lachte, ehe sie Rubin, Tuff und dem Verkäufer einheizte. Als es endete, hielt sie Geige und Bogen in den Händen hoch und strahlte über das gesamte Gesicht mit hebender Brust. Sie leuchtete beinahe und ihre Wangen glühten. Das war pure Freude! Bis sie sich offenbar entsann, wo sie eigentlich war und langsam die Arme sinken ließ. Sie räusperte sich, ehe sie noch mal ansetzte: „Ich kann aber auch
ruhiger…“, murmelte sie und stimmte einen etwas anderen Ton an. Auch hierbei war Nell leidenschaftlich. Auch hier glühten die Augen und ihr wurde ein eigenes Leuchten zuteil, das ihre Natur nur umso mehr unterstrich. Sie war die geborene Darstellerin und dennoch… Immer wieder glitt ihr Blick zu Bramo, der sie dann von ihrem kleinen Walzer ablenkte und in eine
andere Melodie driften ließ. Nell spielte einfach und starrte Bramo dabei an. Ob sie das nun selbst tat oder ihre Magie ihr wieder mal einen Streich spielte, war unerheblich dabei. Sie vergaß die anderen und spielte einfach, wie sie es zuvor getan hatte, mit dem Unterschied, dass sie für ihn spielte und es nicht mal selbst merkte. Bis sie stolperte und augenblicklich der Zauber unterbrochen wurde. Naella blinzelte und sah etwas selten dämlich in die Runde, ehe sie dann mit roten Wangen die Schultern zuckte und sich die Nase wischte. „Naja so halt – wie ihr wollt.“, meinte sie salopp und verstaute auffällig bemüht ihre Geige wieder in ihrer viel zu chaoshaltigen Tasche.