Es war eigentlich nicht kalt heute. Man konnte in Grandea nicht vom besten Wetter sprechen, aber die Temperaturen zeigten sich angenehm. Wenn man allerdings die tropische Region des Urwalds Kapayu seine Heimat nannte, konnte man auch bei klassisch grandessarischem Wetter ein wenig ins Frösteln geraten.
Lianth Farnhain zog seinen Kragen höher. Der graubraune Stoff besaß bereits erste Flecken, aber in den letzten Wochen hatte es keine Gelegenheit gegeben, seine Sachen zu waschen. Er besaß zwar auch Ersatzkleidung, wollte aber erst zu jener wechseln, wenn es gar nicht mehr ging. Außerdem zeichneten ihn Tunika und Hose nicht sofort sichtbar als Heilkundigen aus. Nun, seine graubraunen Roben würden es in diesem Teil Celcias möglicherweise ebenfalls nicht tun. In Shyána Nelle hatte man ihn als Mann vom Fach erkannt, vorausgesetzt er kam einmal etwas raus. Die letzten Monate hatte er sich im Haus verkrochen, das er mit seinem Bruder Lavellyn teilte. Wie es dem Älteren wohl erging?
Lianth warf seinen langen, geflochtenen Zopf über die Schulter zurück. Seine Haare waren schon wieder grün. So hatte man ihn stets von seinem Bruder unterscheiden können, denn optisch kamen sie einander recht nahe. Beide naturell nussbraune, lange Haare. Beide besaßen sie die bernsteinfarbenen Augen ihrer Mutter. Vellyn war lediglich etwas größer als Lianth, was auch mit dem Ausbruch des Hybridenvirus' in seinem Körper zu tun haben mochte. Seitdem hatte der Elf gute zehn Zentimeter Körpergröße eingebüßt. Seine größere Furcht war es jedoch, dass sich Fell und eindeutig rattige Merkmale noch mehr ausbreiteten. Bisher beschränkten sie sich auf die Rückseite seiner Ohrmuscheln und den wurmartigen Schwanz in seinem Steiß. Er spürte wie sich die Verlängerung seines Rückens um die Hüfte legte. Manchmal kitzelte es, aber so konnte er dieses Stigma wenigstens vor ungewollten Blicken verbergen. Schon jetzt hatte er das Gefühl, von vielen der Bewohner beäugt zu werden. Lag es wirklich an seinen grünen Haaren? Oder musterten sie ihn, weil er hellhäutiger war als die vielen Dunkelelfen, die hier fast schon wie die Menschen ein- und ausgingen. Menschen...
Lianth sah sie im Grunde zum ersten Mal. Natürlich bewohnten auch einige von ihnen die schöne Stadt Shyána, seine Heimat. Aber da er ohnehin sein ganzes Leben eher zurückgezogen verbracht und gerade in den letzten Monaten kaum vor die Tür getreten war, wollten es Schicksal und Götter so, dass er sich diesen rundohrigen, stämmigeren Völkern erst jetzt wirklich bewusst wurde. Sie weckten bei ihm Faszination und Angst zu gleichen Teilen. Das galt aber auch für Grandea selbst. Die Hauptstadt des Königreiches unterschied sich stark von dem, was er aus Shyána Nelle kannte. Die Bauweise der Menschen fokussierte sich auf festungsartigen Stein, dicke Mauern und Fachwerk. Die Häuser strahlten nicht das Verspielte und Kreative aus, das er an seiner eigenen Heimat so schätzte. Ohnehin wirkte hier alles so ... farblos und düster. Lag es daran, dass er im Außenring unterwegs war?
Grandea teilte sich in zwei Bereiche auf, so viel wusste er bereits. Im Innenring war der Adel Zuhause, sowie einige der besser gestellten Dunkelelfen, die sich in der Stadt eingenistet hatten wie die Made im Speck. Im Innenring waren die Straßen sauber und hell. Es gab Parkanlagen und die Gebäude erinnerten wenigstens ein bisschen an shyáner Architektur. Es gab Statuen, Wasserspeier und kleine Springbrunnen, um die Fassaden zu zieren. Der Außenring hingegen ... nicht einmal in den ärmlicheren Bezirken seiner Heimat hatte Lianth derartiges Elend mitansehen müssen. Es fiel ihm schwer, seine Einkäufe auf dem Markt der einfachen Leute zu erledigen. Sein vorstehender Offizier, Kan'egh Vashnar verlangte es allerdings, denn er war es, der Lianth die nötigen finanziellen Mittel zur Verfügung stellte. Dass der Shyáner sich binnen kürzester Zeit von ihm und seinem Soldatentrupp so abhängig gemacht hatte, bemerkte er bis heute nicht. Wo er zunächst noch geradezu blind fast in deren Klingen gelaufen war, stolperte er ihnen nun sogar freiwillig hinterher und das schon über einem Monat. Aber konnte er sie denn im Stich lassen? Nein. Nicht, nachdem er erfahren hatte, dass sie ihren eigenen Heilkundigen verloren, aber Verletzte in ihrer Truppe hatten.
Vor zwei Wochen waren sie in Grandea angekommen und endlich konnten die Versehrten unter Kan'eghs Befehl ein Lazarett aufsuchen. Während ihrer Zwischenstopps in kleinen Grenzposten, Dörfern und Gutshöfen hatten sie nur mit Glück überhaupt ein Bett erhalten. Lianth war froh, dass er den Schwerverletzten Faldorian in einem richtigen Lazarett hatte unterbringen können. Seither besserte sich der Zustand des Soldaten auch. Trotzdem benötigte er nach wie vor Pflege und nur aus diesem Grund hatte Kan'egh seinen Feigling mit etwas Geld in den Außenring geschickt.
Feigling... Der Begriff war dem shyáner Elfen nicht geläufig. Er verstand kein Lerium, aber er wusste inzwischen, dass Kan'egh oder die anderen Soldaten ihn damit meinten, wenn sie es riefen. Lianth ging davon aus, dass es Heilkundiger in ihrer Muttersprache heißen musste. Er traute sich nicht, sie auf seinen richtigen Namen hinzuweisen. Die meisten Dunkelelfen blickten furchtbar ernst drein. Lianth verstand es. Sie mussten hierher kommen, weil Krieg herrschte. Wer wollte schon daran teilnehmen? Es bedeutete Verletzte und Tote. Allein deshalb durfte der Elf noch nicht nach Hause zurück, selbst wenn er eigene Probleme besaß. Ein Mittel gegen die mutmaßlich fortschreitende Rattenverwandlung hatte er schließlich noch nicht finden können. Er kannte ja nicht einmal die Diagnose, dass es sich um den Hybridenvirus handelte! Vielleicht hätte er davon erfahren, wenn er offener mit seiner Veränderung umgegangen und die Klinik Shyánas aufgesucht hätte. Lavellyn riet ihm dazu, aber Lianth hatte zu viel Angst gehabt. Es dauerte schon lang genug, bis er es seinem Bruder gestanden hatte, obwohl das mehr ein Unfall war. Lavellyn hatte den Rattenschwanz und die pelzigen Ohren bemerkt.
Oh, Bruder. Ich hoffe, es geht dir gut. Ich werde bestimmt bald nach Hause zurückkehren. Aber noch nicht. Ich kann noch nicht ... hier gibt es viel zu tun. Lianth schaute sich um. Grandea war ein Pfuhl, angereichert mit Elend. Dabei kannte der Elf bisher nicht einmal die Gassen der Wohnviertel im Außenring. Beim Erreichen Grandeas waren er und die Soldaten Hauptmann Vashnar zielstrebig bis in den Innenring gefolgt. Seither war er zwei Mal in den Außenring und auf den Markt geschickt worden. Beim ersten Mal hatte er noch eine Wachbegleitung gehabt. Beim zweiten Mal durfte er allein gehen, denn alle wussten, ihr kleiner Feigling kehrte sicher zu ihnen zurück. Lianth besaß gar nicht die Ambitionen, davonzulaufen, nicht einmal mit Fuchsmünzen in der Tasche.
Oh, die Füchse! Er zückte den Beutel, den er von Kan'egh erhalten hatte und betrachtete sich den Inhalt. Er war spärlich. Das meiste hatte Lianth für einen Wollschal ausgegeben. Ein Schutz vor der Kälte, den er nun nicht mehr trug. Die hustende Großmutter am Rand des Marktes hatte ihn einfach dringlicher gebraucht. Lianth hatte ihr sogar ein paar Löffel von seinem Honig überlassen, damit ihr Hals etwas geschmiert wäre. Mehr hatte er nicht tun können, aber wenn er nun gute Heilkräuter und vielleicht sogar Aufgussmischungen fände, würde er zu der Alten zurückgehen und ihr einen Teil überlassen. Sie sollte nicht in der Kälte auf dem Boden sitzen, um Holzperlen zu verkaufen, schon gar nicht barfuß! Doch die Chancen standen schlecht. Nicht nur, dass ein Großteil seiner Finanzen bereits aufgebraucht war, aber der Markt bot nicht ansatzweise das an, was er für einen Spottpreis in Shyána Nelle hätte bekommen können. Es ist im Grunde kein Wunder, dass es hier so vielen der Menschen so schlecht geht. Sie haben nicht den gleichen Zugriff auf eine Vielfalt an Kräutern wie wir. Das war die einzige Erklärung, die für Lianth logisch erschien. Es half ihm jedoch nicht weiter. Wenn er sowohl ohne Heilkräuter als auch ohne Geld zu seinem Soldatentrupp zurückkehrte, würde Kan'egh mehr als einen Tadel für ihn parat haben. Allein der Gedanke sorgte bei dem Elfen für einen Schauer aus Unbehagen. Er grübelte schon eine Weile, wie er sein Problem lösen könnte und bemerkte dabei nicht, dass er nun schon die zweite Runde recht ziellos über den Markt schlenderte. Dabei knetete er den Geldbeutel gedankenverloren in seinen Händen.
Schließlich kam ihm eine Idee. Schlagartig hielt er inne. "Erde!", rief Lianth aus und hob entgegen seiner üblichen Muster den Kopf. Er streckte ihn wie eine Schildkröte aus seinem Kragen heraus, um sich umzusehen. Viele Stände besaß der Markt nicht und noch weniger konnte man wahrlich als Verkaufsstand bezeichnen. Die meisten Waren lagen auf Lumpen oder morschen Holzbrettern aus. Doch wenn Lianth nun einen Sack guter, reichhaltiger Erde erstehen könnte, würde ihm seine Magie aushelfen. Dann könnte er seine eigenen Heilkräuter ziehen, ohne auch nur eine weitere Münze ausgeben zu müssen! Natürlich würde es auch helfen, wenn er irgendwo an eine Schaufel und einen kleinen Eimer heran käme. Erde gab es hier genug, manche Pfade waren nicht gepflastert. Aber ob sich der teils von Blut und mehr noch von Unrat getränkte Boden für naturmagische Pflanzenaufzucht eignete, ließ sich vorab nicht sagen. Es wäre der letzte Strohhalm, nach dem der Shyáner Elf greifen würde. Noch versuchte er sein Glück darin, speziell zum Zweck zusammengestellte Erde bei einem der Händler zu finden. Seine Idee motivierte ihn sogar so sehr, dass er beim Weitergehen nicht einmal mehr die geduckte Kauerhaltung einnahm, in der er seine Heimat verlassen und den weiten Weg bis nach Grandea unternommen hatte.