Noch unweit der Bäckerei, abseits des tobenden Ehepaares, hatten sich Silas und Avalinn einige Herzschläge gestohlen, um über den abenteuerlichen Unfug zu sinnieren, den sie soeben fabriziert hatten. Die Dunkelhaarige ließ sich von der kleinen Schwindelei des Halbelfen, ihr linguistisches Talent betreffend, jedoch kein Stück weit beeinflussen. „Es ehrt euch, aber ich war grauenhaft.“, gab sie mit geschürzten Lippen zur Antwort. Silas ging heiser lachend über ihre Erwiderung hinweg und lehnte sich in seinem Stand zurück. Es war ein durchaus herzhafter Ton, der seine Kehle angenehm vibrieren ließ, der jung und unbeschwert aus seiner sonst so ernsten Brust hervorschwoll und das vorangegangene Schmunzeln mühelos durchbrach. Ein Klang der Heiterkeit, in welcher der Mischling ganz offensichtlich badete und die seinen Übermut noch ein Stück weit bewässerte, während er um sie herumschlich, verspielte Worte durch ihr rotbraunes Haar flüsterte und sich schließlich mit schalkhaftem Glanz in den Augen über die verräterische Röte ihrer Wangen amüsierte. Eine kleine Neckerei, ein abschließender Scherz, den Avalinn mit einem Lächeln ziehen ließ und der das aschgraue Gesicht des Mischlings nochmals erhellte. „Dann bin ich froh, dass ihr so gut aufpasst", ertönte es nicht weniger ehrlich, als Silas es von der Elfe erwartet hatte. Ja, das würde er wohl, nicht wahr? Das musste er. Amenion hatte Avalinns Zustand unmissverständlich mit dem Wohl seiner Schwester verwoben. Hatte die bernsteinäugige Elfe zu einer elementaren Aufgabe seines Auftrags werden lassen. Ein pflichtbewusstes, beinahe grimmiges Lächeln zuckte in den Mundwinkeln des Mischlings, während ein feiner Schatten um seine Augen stob, welcher jedoch, so schnell er gekommen war, auch wieder verschwand. Silas deutete eine Verbeugung an. „Stets zu Diensten.“, erwiderte er, noch ehe sie den Weg fortsetzten und sich jeweils vom Gebäcktablett bedienten. Sein hungriger Magen nahm jeden Bissen der flaumigen Köstlichkeit wohlwollend auf und fühlte sich dankbar warm und satt an, als er auch den letzten Rest eines Anteils verspeist hatte.
Eine gedankenschwere Stille folgte, begleitet vom leisen Knirschen ihrer Schuhsohlen, deren Schritte einen gemächlichen Takt angaben, und dem umtriebigen Gemurmel einiger Gestalten, deren Wege sie hin und wieder kreuzten. Vielleicht kam die Frage, die so unverblümt aus Silas hervorbrach, nicht nur für den Mischling unerwartet. War es forsch gewesen, danach zu fragen? Kaum, dass er geendet hatte, bereute er es, den Mund geöffnet zu haben. Sein in die Ferne gerichteter Blick klärte sich, schwamm zurück in den Fokus und richtete sich auf Avalinn, welche ihren Zeigefinger nun zögerlich von den Lippen gleiten ließ und ihn wortlos anstarrte. Unstet flackerten die honigfarbenen Augen - verletzt sah sie aus, durch einen unsichtbaren Schmerz geplagt. Der Mischling stockte in seiner Bewegung, beinahe versteinerte er. „Verzeiht. Ich wollte nicht-“, Silas fiel in seinem Schritt etwas hinter die Elfe zurück, die ihren letzten Bissen bereits heruntergeschluckt und den Blick wieder geradeaus gerichtet hatte. Es war nur ein Moment gewesen, den sie benötigt hatte, um sich zu sammeln. „Ich war schon lange nicht mehr Zuhause.“, ertönte die Antwort, ohne, dass er noch einmal einen Blick auf ihr Gesicht hätte erhaschen können. Sie rieb die Hände aneinander und Silas setzte seinen Gang fort, blieb hierbei jedoch in einem zögerlichen Abstand. „Ich.. ja einerseits freue ich mich sehr. Ich vermisse es… Vermissen ist kein Ausdruck ich… wisst ihr, Silas, wenn ihr so lange von Zuhause weg seid wie ich dann… nun, die Welt dreht sich weiter und verändert sich. Versteht ihr? Ich fürchte mich auch ein wenig davor, zurückzukehren. Und nicht bleiben zu können.“, sie sprach so leise, dass der Wehmut ihrer Worte in den Ohren des Halbelfen beinahe unerträglich laut klang. Silas schluckte trocken und zwang sich, einen Schritt vor den anderen zu setzen, den Kopf erhoben, einen Sturm aus Nervosität im Magen. Auch wenn in ihren Worten weder Bitterkeit noch Trauer mitschwang, war Silas sich nicht ganz sicher, was er mit dem flauen Gefühl anfangen sollte, das sich in seinem Bauch ausbreitete. Wie beiläufig winkte Avalinn ab und auf ihren Lippen formte sich erneut ein Lächeln heran, dem Silas mit einem unverwandten Blick begegnete. „Aber keine Sorge.“, fügte sie ihrem Lächeln bei und fegte jeglichen Anflug von Kummer mit einem weiteren Lachen hinweg, ehe sie fortfuhr: „Ich werde mich daran halten, was ihr mit Amenion besprochen habt. Ich weiß, dass ich hierher zurückkehren muss, damit der Pakt gilt. Das ist in Ordnung, wirklich. Ich bin froh, dass ich für einige Zeit an die Oberfläche darf… Sonst gehe ich hier noch ein.“ Es klang zu unverfänglich, um das Offensichtliche zu verbergen. Die Finsternis, die Fremde, das Heimweh. Es muss ein einsames Leben sein. Natürlich möchte sie an die Oberwelt. Silas erkannte den zementfarbenen Schleier der Erschöpfung auf ihren Augenlidern, als sie versuchte, über das Thema hinweg zu scherzen. Ernst zog er die Stirn kraus, sah sie durchdringend an, ehe er den Blick auf den Boden richtete, ihr dabei jedoch dicht auf den Fersen blieb. Gefühle wirbelten auf, banden sich im Inneren aneinander, doch es war zu schnell vorbei, um das innere Tosen wirklich greifen und sortieren zu können. Vermutlich wollte er das auch gar nicht, war noch zu sehr von der vorangegangenen Heiterkeit berauscht, die er zu lange hatte missen müssen. Also übersah Silas das kurze, wehmütige Lächeln, das um Avalinns Lippen zuckte, verbannte das Stechen, das durch die Sympathie zur Heilerin durch ihn stob wie ein spitzer Pfeil. Entschlossen versuchte er das erdrückende Gefühl des Mitgefühls in den Hintergrund zu schieben. Doch es gelang ihm nur in geringem Maße und so hob er den Blick erneut an, um ihr Profil im schwindenden Licht der Leuchtpilze zu mustern. Seine Bereitschaft zu reden lag in der Luft wie ein gut wahrnehmbarer Geruch, aber Silas wagte dennoch nicht, den Mund zu öffnen, in ihre Offenheit einzuhaken, sie zu trösten oder hoffnungsvolle Floskeln zu formen. Stattdessen betrachtete er sie mit einem leicht nachdenklichen Blick, der alles bedeuten hätte können und nichts, und schwieg. Da lag sie, ein Teil der Wahrheit, die sich hinter Avalinns Aufenthalt im Reich der Nachtelfen verbarg. Nackt und bloßgestellt, nur einer winzigen Berührung bedürfend, um endgültig hinter dem Vorhang zum Vorschein zu kommen. Silas hätte danach fragen können, hätte an ihre Offenheit anknüpfen können – vielleicht hätte sie es ihm verraten. Doch den Mischling beschäftigten, neben all den offensichtlichen Fragen, noch andere Themen, andere Fragen. Woher hatte sie diese festen Überzeugungen? Wie konnte sie sich und ihren vermeintlichen Auftrag, ihre Verantwortung gegenüber Fremden so klar sehen? Silas selbst versuchte immer nur, nicht unterzugehen, gerade so weit an der Oberfläche zu bleiben, dass er noch Luft bekam. Ein Schritt nach dem anderen. Der Gedanke daran, was er gedachte der Heilerin durch seinen Pakt mit Amenion aufzubürden, drohte beinahe, ihm den Atem zu rauben, ihn in einen Strudel finsterer Überlegungen zu reißen. Rechtfertigte die Sorge um seine Familie tatsächlich den Umstand, auf ihre Kosten, auf die Kosten eines ganzen Volkes zu handeln? Silas hatte keine Antwort darauf und sein eigenes Schweigen klingelte in seinen Ohren während die Worte der Elfe zwischen ihnen in der Luft hingen. Eine ohrenbetäubende Stille, die nach einer Reaktion verlangte, welche er nicht geben konnte. In das gegenseitige Schweigen hinein, sagte Avalinn schließlich: „Wart ihr denn schon mal länger weg? Ich habe gehört, dass gerade junge Nachtelfen an die Oberfläche gehen um zu jagen und um die Neugierde zu befriedigen?“ In Anbetracht des Themenwechsels blinzelte der Mischling träge und erkannte, vermutlich einige Augenblicke zu spät, dass eine Frage im Raum stand, die es für ihn zu beantworten galt. „Ähm…“, Silas Stimme verlor sich und dutzende Antworten formten sich in seinem Verstand, wovon jedoch, vor allem aufgrund der vorangegangenen Thematik, keine wirklich angemessen erschien. Der Halbelf klärte seinen Hals mit einemRäuspern und legte den Kopf in den Nacken. Auch er brauchte die Ablenkung, um die Gedanken an das Damoklesschwert über seinem Kopf abzuschütteln. Um die Schatten zu vertreiben, die sich bei der Erwähnung des Pakts in seine Augen geschlichen hatten. „Wohl nie länger als ein paar Stunden am Stück.“, murmelte er schließlich schulterzuckend. Er richtete den Blick ziellos in die nähere Umgebung und fuhr fort: „Die meisten von uns jagen bei Dämmerung. Einige schleichen sich auch nachts an die Oberwelt.“, er ließ es unbeantwortet, ob auch er einer derjenigen war, die sich zu später Stunde an die Oberfläche stahlen, um die Sterne und deren Himmelsbilder zu bewundern. Aus irgendeinem Grund kam es ihm seltsam persönlich vor, diese Art von Geheimnis zu teilen. Auch wenn es eigentlich keines sein sollte. Die Muskeln seiner markanten Kiefer zuckten einen Moment. „Es gibt wohl welche, die sich auf Reisen begeben - aus Neugierde oder Verzweiflung oder weil sie der Langeweile ihres adligen Daseins überdrüssig werden. Diese Wahl hat sich mir nie gestellt - ist aber wohl besser so. Sonnenlicht bedeutet für Unsereins für gewöhnlich Ärger.“, er blinzelte zur Seite und sein Blick traf sich mit ihrem. „Aber das wisst Ihr vermutlich bereits.“ Denkbar hatte sie gehört und gesehen, welche Auswirkungen die wärmenden Strahlen der Sonne auf nachtelfische Haut haben konnten. Hatte in ihrem Beruf mit den Verbrennungen und der damit einhergehenden Blasenbildung zu tun gehabt. Silas ging nicht weiter darauf ein, auch wenn er insgeheim hoffte, dass er während ihrer gemeinsamen Reise nicht in die Bedrängung kommen würde, auf das Wissen der Heilkundigen zurückgreifen zu müssen, und konzentrierte sich bereits auf das lärmende Rauschen des Marktes, der sich vor ihnen ankündigte.
Alles in allem gab es hierbei wohl reichlich, an dem sich neugierige Augen satt sehen konnten. Fremde und ortsansässige Händler boten ihre Waren unter ständigem Zuruf an und auch Handwerker und niedergelassene Facharbeiter profitierten vom geschäftigen Treiben der wandernden Kundschaft. Der Großhandel zwischen den Kaufleuten wurde auf diesem Markt ebenso zelebriert wie der Einzelhandel für die Einwohner des Reiches – unterschiedlichste Gerüche mischten sich mit diversen Dämpfen und dem Rauch, der von einer nahegelegenen Schmiede heranwehte, als Silas sich in Begleitung der Heilerin zwischen den Ständen einpendelte. Es folgte ein ausschweifender Blick, um die Lage zu sondieren. Dankbar registrierte er, wie Avalinn ihm die kleinen Küchlein vom Arm nahm, auf dass er sich seiner erdachten Einkaufsliste widmen und mit einem letzten Blick und flüchtigem Kopfnicken in ihre Richtung in seine Besorgungen eintauchen konnte. Das meiste hatte Silas recht bald bei der Hand: Wurzelgemüse, Karotten und Kartoffeln würden sich auf der Reise gut verwerten lassen, aber auch Trockenobst und Nüsse ließ sich der Mischling, in einem einfachen Beutel zusammengepackt, mit auf den Weg geben. Als kleine Verköstigung zwischendurch, oder auch nur, um Wild zu ködern - so oder so, es würde nicht schaden. Erst, als die Verpflegung gesichert war, machte sich Silas daran, die Augen nach dem Rest der benötigten Utensilien wandern zu lassen. Ein kleines Schnurknäuel, mit dem sich die eine oder andere Kleintierfalle basteln lassen würde, ließ er nach dem Erwerb in einer seiner Manteltaschen versinken, während er die paar Schrittlängen Seil schulterte. Zugegeben, er war in Navigation und im Umgang mit einem Kompass nicht ausreichend geschult, dennoch hoffte der Mischling, dass ihm jener - zumindest in Kombination mit der Karte des westlichen Teils von Celcia, die er kurz darauf ebenfalls erwarb - von Nutzen sein würde. Vergeblich hatte er versucht, weitere Kartenteile zwischen den verschiedenen Pergamentrollen des Händlers zu finden. Es würde reichen, sie bis zum Ilfar zu führen - von dort aus, so nahm Silas es jedenfalls an, nachdem ihm der knorrige Elf, der ihm Karte und Kompass verkauft hatte, es ihm versicherte, würden sie wohl nur noch dem Fluss folgen müssen. Als der Großteil der Erledigungen getan war, warf er sich den Netzbeutel, der mit Wurzelgemüse, Kartoffeln und Karotten gefüllt war, ebenfalls über die Schulter und bewegte sich zielgerichtet durch die Menge, aus der er sich schließlich herausschälte, um auf seine Begleitung zuzugehen. Bei Avalinn angekommen, folgte er ihrer flüchtigen Handbewegung, die einen naheliegenden Waffenstand andeutete, mit einem Blick und nickte schweigsam. Vermutlich keine schlechte Idee – sein abgenutzter Jagdbogen würde kaum die Strapazen der Reise mitmachen. Es wäre sinnhaft, in eine ordentliche Waffe zu investieren. Nachdenklich wog er Amenions Münzbeutel in der Hand. „Einen Moment noch“, richtete er sich nach kurzer Überlegung an die Heilerin und trat anschließend an den Waffenstand heran, vor dem er innehielt und die ausgestellte Ware beäugte. Schilder und Schwerter, Äxte und Lanzen, beinahe größer als er selbst, ragten zum Verkauf empor, aber auch Dolche und Messer in verschiedensten Ausführungen befanden sich in der Auslage positioniert. Neugierig ließ er den Blick über die Klingen hinwegwandern. Das, wonach er Ausschau hielt… Ah. Im Hintergrund fand sein suchender Blick eine aneinandergereihte Sammlung unterschiedlichster Bögen. Größere und kleinere Langbögen reihten sich an kompakte Kurzbögen und leichte Kompositbögen, deren deutlich gekrümmte Wurfarme sich maßgeblich von der einfachen Herstellungsart ihrer Verwandten unterschieden. Er tauschte einige Wörter mit dem Händler, der sich ihm zur Seite stellte und ließ sich einen wohlgeformten Bogen aus Eibenholz reichen, den er prüfend in seinem Griff drehte. Symmetrisch aufgebaut, erkannte Silas. Gut ausgeglichen. Der Händler bemerkte den Blick und verschränkte die Hände vor der Brust. „Er hat eine herausragende Form. Enorme Wurfleistung.“, brummte der fremde Nachtelf zufrieden und beobachtete seinen weißhaarigen Kunden dabei, wie er die Bogensehne probehalber spannte, bis sie mittig Nase und Kinn berührte, und unter seinem Kieferknochen ankerte. Samtig weich fühlte sich der Griff unter seiner Hand an. Und tatsächlich ließ er sich butterweich ziehen. Silas konnte den kurzen, verträumten Blick auf die geölte Oberfläche und deren seidigen Glanz nicht verhindern als er ihn wieder sinken ließ – dennoch kostete es ihn einen Moment mühevoller Überlegung. Noch nie hatte er etwas besessen, das von derartigem Wert war. Es fühlte sich falsch an, fast sündhaft, über die Anschaffung einer derartigen Waffe nachzudenken. Eine gute Investition, ohne Zweifel, dennoch… zaghaft zuckte sein Blick in Avalinns Richtung, die sich soeben entschuldigt hatte. Der Mischling sah ihr überrascht nach ehe er sich dem Händler erneut zuwandte um den Kauf des Bogens, eines dazugehörigen Köchers sowie einigen Pfeilen, mit einem Kopfnicken und der darauffolgenden Bezahlung abwickelte. Mit Beutel, Seil, Köcher und Bogen bepackt war es nun an ihm, die Heilerin bei ihrem Weg durch die Menge zu beobachten, während er sich selbst am Rand des Marktes positionierte, um auf sie zu warten. Die Augenbrauen leicht zur Nasenwurzel gezogen sah Silas dabei zu, wie Avalinn der buckligen Kräuterhexe etwas abkaufte, das sie sogleich in einer Tasche ihres Kleids verschwinden ließ. Als sie sich mit gleichmäßigen Schritten von der alten Frau entfernte und in seine Richtung bewegte, ließ er den Blick studierend über ihr ernstes Gesicht wandern. „Habt ihr alles bekommen?“, ein freundlicher Funke erhellte die Augen der Heilerin ehe sie sich mit ihrem wohlbekannten Lächeln zu ihm gesellte. Silas musterte die Elfe erneut. Taxierte sie. „Ja.“, bestätigte er leise. „Ich denke, wir können gehen.“
Es war ein ruhiger Marsch, den sie gemeinsam bis vor seine Haustür beschritten. Kaum ein Wort hatten sie miteinander gewechselt und Silas hatte bei seiner Begleitung mit verhaltenen Seitwärtsblicken Ausschau gehalten: nach Missgunst, nach einem abschätzigen Blick oder einem verborgenen Gefühl, das als Geheimnis übel keimen konnte. Doch er fand nichts. Nichts außer Ernsthaftigkeit in ihrem Blick, der in eine imaginäre Weite gerichtet war und sie nachdenklich schweigen ließ. Vielleicht, so dachte er, hatte er mit seiner Frage alte Wunden aufgerissen. Bemüht schob er seine Bedenken in den Hintergrund; redete sich ein, dass es nicht mehr als sein eigenes Unwohlsein war und ignorierte die Warnungen seiner sensiblen Sinne, das Sirren seines intuitiven Nagels. Er ließ ihr den Vortritt, doch noch ehe sie die windschiefe Tür zu seinem Heim erreichten, wandte sie sich zu ihm herum. Überrascht hielt er inne und beinahe instinktiv versteifte er den Griff um den geschulterten Beutel. Die bernsteinfarbenen Augen der Heilerin waren klar und strahlend als sie ihm das Gesicht entgegen hob. Seine Finger entspannten sich etwas. „Es war… ein schöner Nachmittag, Silas. Ich danke euch, dass ihr mir… nunja, dass ihr mir diesen Teil eurer Vergangenheit gezeigt habt. Ich hatte...“, sie schien nach den richtigen Worten zu suchen, „ich hatte wirklich Spaß.“. Silas blinzelte beklommen und starrte sie einen Moment lang an, doch ihre Stimme, so zugewandt und ohne jeden Vorbehalt, machte ihn weich und nachgiebig. Er stieß einen kleinen, dunklen Ton der Erheiterung aus und trug ein schiefes Lächeln auf den Lippen, als er erwiderte: „Ja... Ja, ich auch.“. Es entging ihm nicht, dass ihr Gesicht etwas an Wärme verlor, als sie zur Verabschiedung ansetzte und er nahm es zum Anlass, den Kopf nun doch etwas irritiert zur Seite zu neigen. „Ich denke, ich werde euch nun alleine lassen. Ich bin überzeugt, dass eure Mutter stetig auf dem Weg der Besserung ist und sollte euch etwas auffallen, dann zögert nicht nach mir zu schicken. Ansonsten brechen wir morgen bei Sonnenaufgang auf, so jedenfalls der Plan von Amenion. Wir treffen uns am Aufgang zur Oberwelt. – Soll ich euch ausrichten.“, erklärte sie. Silas brummte zustimmend, wohl als einziges Anzeichen dafür, dass er verstanden hatte. Nach einem weiteren, langen Blick aus dem hellgesäumten Gold seiner Augen und einem zaghaften Senken des Kopfes, wandte er sich zum Gehen. Auch Avalinn hatte sich in Bewegung gesetzt und zog langsam an ihm vorbei. Im Augenwinkel bemerkte er, wie sie sich erneut zu ihm herumdrehte. „Habt einen schönen Abend, Silas.“, der Halbelf spürte ihre Fingerspitzen, noch bevor er bemerkte, wie sie nach ihm griff. Mit einem Mal war es ihm, als flutete eine wohlige Wärme bis in sein tiefstes Innerstes hinein. Sein Atem stockte. Zuversicht strich mit vorsichtigen, suchenden Fingern über die Mauersteine seiner Innenwelt, bat sanft um Einlass. Die Berührung war lindernder Balsam, gleichzeitig erquickend wie süßer, perlender Wein, als hätte sie ihn einmal mehr der Last auf seinen Schultern beraubt - merkwürdig und wundervoll zugleich. Silas sog die Luft zwischen seine Zähne, tankte kühlen Atem in seine Lungen. Hundert Fragen formten sich hinter seiner Stirn, welche ihm einen kurzen Moment lang nur allzu deutlich ins Gesicht geschrieben standen. Avalinn löste die Fingerkuppen von seiner Haut, zog ihre Hand zurück. Noch ehe sie jene senken konnte, griff Silas nach den schmalen Fingern der Heilerin und hielt sie einen Augenblick etwas ungelenk an Ort und Stelle. „Ihr seid hier willkommen, Avalinn.“, seine Augen glommen kurz auf. „Jederzeit“, damit entließ er sie aus seinem Griff, straffte die Schultern und setzte eine möglichst neutrale Miene auf. „Wir sehen uns morgen.“, die Elfe nickte ihm zu und verschwand mit lautlosen Schritten um die nächste Häuserecke. Silas warf einen Blick auf seinen Arm, auf die Stelle, an der Avalinn ihn berührt hatte und spürte in sich hinein. Da war Wärme und Licht und Leichtigkeit und als er schließlich durch die windschiefe Tür in die schwach beleuchtete Stube eintrat, platzte eine Blase aus Glück prickelnd in seiner Brust.
Der wohlige Geruch nach warmem Gewürz strömte Silas in der Sekunde in die Nase, als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Es roch nach Knoblauch und wildem Thymian, nach frisch gemahlenem schwarzem Pfeffer und feingehackter Minze. Nicht nach der üblichen Säuergrütze, die er sonst fast jeden Abend aus der Schüssel kratzte. Der goldene Schein vereinzelter Kerzen kroch über die Wände – vermutlich hatten seine Geschwister die Lichtquellen entfacht, weil sie mit Avalinns Rückkehr gerechnet hatten. Ein kleines Schmunzeln umspielte seine Mundwinkel, als er das neu erworbene Gut von seiner Schulter gleiten ließ und gegen die abbröckelnde Wand des Hausflurs lehnte. Im hinteren Bereich des Hauses, leicht gedämpft durch Wand und Tür, erklang fröhliches Gelächter und die Bretter unter seinen Füßen knarzten, während Silas durch den Flur trat. Kurzum warf der Mischling einen Blick ins Krankenzimmer seiner Mutter - welches er leer vorfand -, und folgte daraufhin den ausgelassenen Stimmen bis in die Küche… wo er sogleich herzlichst in Empfang genommen wurde. „Da bist du ja! Wir haben eine Überraschung für dich.“, sein Bruder, mit seinem wirren, ausgefransten Silberschopf, strahlte ihn gutgelaunt an. Silas konnte den vermeintlichen Ursprung seiner Fröhlichkeit sofort ausmachen – neben Calen saß ihre Mutter, blass und schmal, doch mit einem warmen Lächeln auf den Lippen. „Wir können gleich essen. Zahel und Rhona haben gekocht.“, sie erhob sich, um auf ihn zuzugehen. „Eine Überraschung, in der Tat.“, erwiderte er leise, ließ den Blick in leichter Verwunderung über die Anwesenden gleiten und streckte die Hände seiner Mutter entgegen, dass sie sich an ihm stützen konnte. Ein nicht aufzuhaltendes Lächeln sprang ihm schließlich auf die Lippen als er Rhona mit empört gerundeten Lippen neben der Feuerstelle entdeckte – den Kochlöffel drohend in der Hand erhoben. „Komm, wir setzen uns schon mal, sie bringen gleich die Teller.“, seine Mutter hakte sich bei ihm unter, tätschelte seinen Arm. Gemeinsam suchten sie einen Platz auf den arrangierten Sitzmöglichkeiten und als Zahel, Rhona und Calen schließlich die Teller hereintrugen, blitzten die goldenen Iriden des Mischlings verzückt auf. Backpflaumen und Datteln fanden sich am Teller und umrahmten das abgelöste Fleisch einiger Hühnerschenkel sowie ein beigelegtes Stück Wurzelbrot. Ein wahres Festmahl verglichen zu dem, was man sich sonst gegenseitig vorsetzte. Doch ein fröhlicher Abend verlangte nach einer besonderen Mahlzeit. Das matte, orangerote Glühen herabgebrannter Kerzenstummeln loderte in gelben Flammen und füllte das Zimmer mit Licht und Schatten. Sie erzählten sich Geschichten, lachten und scherzten herum. Silas kam hierbei kaum zu Wort, zu schnell ergriff sein Bruder ebenjenes und berichtete unter anderem vom heutigen Tagesgeschehen, in welchem er gemeinsam mit einigen Nachbarskindern der Purpurmantel-Mutprobe des Metzgersohns beigewohnt hatte, und hatte dabei solch leuchtende Augen, dass Silas ihm den Spaß nicht nehmen wollte. Die Stimmung war gänzlich anders als die Nächte zuvor, an denen sie ausgehungert um den Zustand ihrer Mutter gebangt hatten. Verzweiflung war nun einem geteilten Hochgefühl gewichen und Silas Herz schlug mit einer Ausgelassenheit, die er so noch nie empfunden hatte – zumindest konnte er sich nicht daran erinnern. Er fühlte sich leicht… und glücklich. Wie ein Idiot. Oder ein Kind, das ohne Ängste war.
Der Mischling hatte es im weiteren Nachtverlauf nicht über sich gebracht, seine Familie auf das Unausgesprochene aufmerksam zu machen, und nun ließ er auch die Dunkelheit, die ihn in seinem Zimmer so tröstlich empfangen hatte, nicht wissen, dass er einen frühmorgendlichen Abschied plante, auf den es vielleicht kein Wiedersehen geben würde. Der Gedanke ängstigte ihn nicht – sie hatten einen wundervollen Abend zusammen verbracht, hatten die letzten Stunden, die man ihnen geschenkt hatte, genossen, bis die Müdigkeit an ihren Augenlidern gezogen hatte. Oriana hatte sich vor dem Zubettgehen mit einem warmen Blick an ihren Ältesten gewandt, hatte seine Stirn geküsst, ihm eine gute Nacht gewünscht und ein sanftes Lächeln aufgesetzt, das, wie er sehr wohl bemerkt hatte, daraufhin zu Kummer zerronnen war. Er hatte sie umarmt, doch keiner von beiden wollte sich richtig verabschieden. Abschiede waren so endgültig und er plante, sie wiederzusehen. Auch wenn er noch nicht wusste, wann und unter welchen Umständen – er würde schon irgendwie dafür sorgen. Nachdem auch seine Geschwister schlafen gegangen waren und er das Päckchen, das Myniel ihm zugeschickt hatte, entgegengenommen hatte, hatte er sich mit ihrem beigelegten Brief in sein Zimmer zurückgezogen. Die Zeilen entlockten ihm ein vages Lächeln, dem ein amüsiertes Kopfschütteln folgte. Ein überraschend zärtlicher Impuls ließ ihn nach Schreibfeder und Tintenfässchen greifen. Er wandte das Pergament, formulierte seinen Dank auf die Rückseite des Briefs und fügte noch einige persönliche Worte an: „Ich bin mir noch nicht sicher, wie ihr beiden ohne mich klarkommen werdet, aber solltest du mich vermissen, denke immer daran, wie sehr ich dir manchmal auf die Nerven gehe - Silas“. Schmunzelnd fügte er dem Brief die Bezahlung für den verarbeiteten Stoff hinzu. Nachdem er auch einen zweiten Brief verfasst hatte, den er an seine Familie richtete und mit wenigen, jedoch liebevoll formulierten Sätzen schmückte, platzierte er beide Briefe gut sichtbar in der Küche. Er würde sich ohne Weiteres darauf verlassen können, dass Myniel das retounierte Schreiben mit ihrem Namen darauf erhielt.
Silas konnte unmöglich sagen, wie spät es war als er sich schließlich mit ausgestreckten Gliedmaßen in sein Bett fielen ließ. In seinem Bett, auf dem Rücken liegend, war die Finsternis, die ihn umgab, absolut. Kühl und tröstlich. Er sah keine Decke. Keine Wände. Keinen Boden. Und als er die Augen schloss, war da nur ein leises Rauschen in seinen Ohren, der gemächliche Herzschlag, den er auf jedem Zentimeter seiner Haut spürte. Es schlug und zitterte und pulsierte unter der Oberfläche. Und während die langen Schatten der Nacht geisterhaft nach ihm griffen, schrumpfte er in seine seelischen Tiefen und sank in Manthalas offene Arme, die ihn im Reich der Träume in Empfang nahm. Fast die ganze Nacht hatte Silas ruhig und traumlos geschlafen. Doch als er nach einigen Stunden die Augen öffnete und gegen den Nebel des Erwachsens anblinzelte, hatte er das Gefühl, den Nachklang eines Traumes im Kopf zu haben, an dessen Bilder er sich schon nicht mehr erinnern konnte. Stöhnend rieb sich der Mischling über das Gesicht… und wurde ruckartig aus seinem Dämmerzustand gerissen, als er versuchte, die Wahrhaftigkeit wieder zu greifen. Die Erinnerungen an die bevorstehende Reise, an den Pakt, an die Geschehnisse der letzten Tage trieben ihn schließlich mit steifen Gliedern aus den zerwühlten Laken. Eine Katzenwäsche später beugte sich der Mischling schließlich über das Myniels Paket und öffnete es behutsam. Er ließ seine Hand durch die verschiedenen Schichten des dunklen Saums wandern - Wie gut sich der Stoff anfühlt! - und strich mit den Fingerspitzen in stiller Ehrfurcht darüber, bevor er den Inhalt entnahm und damit begann, sich anzukleiden. Als er damit fertig war, saß ihm der Kopf, nun bereits voller Gedanken und Zweifel in Anbetracht des Aufbruchs, wie ein riesiger Bleiklumpen auf seinem Hals. Flink und geräuschlos sammelte er hingegen sein Inventar zusammen, befüllte den Rucksack, schnürte Liegefell und Decke fest und achtete penibel darauf, auch die restlichen Gegenstände ordnungsgemäß zu verstauen. Vermutlich hätte er frühstücken sollen, zumindest dachte er sich das, als er einige Zeit später durch die Eingangstür nach draußen trat und die Hände in den Manteltaschen vergrub. Höchstwahrscheinlich hätte er jedoch sowieso keinen Bissen hinunter bekommen. Entschlossen begann er, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Etwas regte sich in ihm, ein ängstlich aufflatternder Vogel in seiner Brust, doch er rang die Nervosität nieder, biss die Zähne zusammen und formte eine strenge Linie mit dem Mund. Er schnaubte darauf folgend zu seiner eigenen Überraschung ziemlich laut und heftig, so dass feine Wölkchen aus kaltem Dunst um seine Lippen stoben. Es war ein rascher Aufbruch gewesen, er hatte sich keinen weiteren schwachen Moment erlauben wollen. Stattdessen ließ er alles, was ihn die letzten Jahre an diesem Ort gehalten hatte, nun mit eisernen, festen Schritten hinter sich. Er blickte nicht zurück, als er um die Häuserecken bog und den Aufgang zur Oberwelt ansteuerte.