Er durfte doch noch nicht gehen. Er hatte eine Aufgabe für ihn zu erledigen, das Gleichgewicht wieder herzustellen. Schwer drückte etwas in seiner Handfläche. Kazel gelang es, mit den Fingerspitzen die Sanduhr nachzufahren. Ein wenig mehr Zeit. Landrias Zeit stehlen, um was zu tun? Er starb doch! Ich bin nicht mehr in der Lage, irgendetwas... Seine immer schwammiger werdenden Gedanken drifteten nun ganz ab, als ihm neben den dunklen Schatten des Gevatters ein vertrauterer Anblick gewahr wurde. Zwar bildeten nur nebelartige und schleierhafte Konturen Janays Gestalt, doch er erkannte sie wieder. Der Anblick hätte ihm das Herz zerrissen, wenn er sich nicht gerade in einer gleichgültigen Schwebe des Nahtods befand. Was kümmerten ihn noch weltliche Dinge? Obwohl ... er hatte eine Aufgabe ... irgendwo, im Leben. Aber da war Janay! Ging es ihr gut? Vielleicht ... sie sieht so friedlich aus und ich fühle mich wohl in ihrer Nähe.
Weil er auch starb, so glaubte er. Sterben. Wieder bei Janay sein. Es klang nach einem guten Ende. Je länger er darüber nachdachte, desto zufriedener fühlte er sich. Wärme umfing ihn, erfüllte ihn von innen. Sie vertrieb die Schmerzen, vervollständigte die vorhandenen, körperlichen Schäden. Geister besaßen doch keine Verletzungen? Alles heilte. Er fühlte sich geheilt.
Kazel konnte ja nicht ahnen, dass man ihn tatsächlich heilte. Dass Juduka ihre Lichtmagie anwandte, um ihn am Leben zu erhalten. Er sah sie nicht, blickte auf ihre Lippen und doch durch sie hindurch. Nichts von dem, was sie sagte, erreichte seine Ohren. Was er sah, war Janay, deren Konturen sich jetzt ganz dicht bei ihm verfestigten. Fast glaubt er, ihre Finger an seinem Gesicht zu spüren, wie es die Schläfen berührte und er glaubte auch, sie sprechen zu sehen. Doch dann trat ein, worauf er wartete. Stille. Schwärze. Tod.
So ganz stimmte es nicht. Er war noch nicht tot. Nicht alles war schwarz um ihn herum oder bildete er sich Janays silbrigen Schatten immer noch ein? Außerdem war es auch nicht vollkommen still. Worte wirbelten durch seinen Geist. Sie lockten ihn, doch ehe Kazel sie wirklich zu fassen bekam, entrannen sie seinen Sinnen. Nur ihr Nachhall erfüllte sein Denken, dass sie sich überschlugen wie wilde Schneeflocken in einem Orkan. Es war Janays Stimme, die er hörte. Sie sprach von einem Feind, aber mehr konnte er nicht deuten. Welchen Feind meinte sie? Wer wollte sie töten? Ich war es doch ... meint sie Aman?
Noch bevor sich der Elfensohn von Wald und Dunkel einen Reim darauf machen konnte, was die wirren Worte zu bedeuten haben mochten, begann der Gevatter Tod seinerseits, ihm Reime ins Ohr tropfen zu lassen wie Wachs. Sie verfestigten sich dort, verhärteten, so dass nichts mehr hindurch dringen wollte außer der seemännischen Melodie, die der Knochenschädel auf seinen toten Zähnen zum Besten gab.
Im rationalen Zustand hätte Kazel wieder angefangen zu grübeln. Er hätte sich gefragt, was die ganzen seltsamen Blütenblätter und Flocken sollten und warum eine Gestalt, der man doch alles Ende zusagte, plötzlich den Wunsch verspürte, ihm ein Ständchen zu bringen. Zudem noch eines mit wahrlich rätselhaften Versen. Doch er träumte ... oder nicht? Starb er? Auf jeden Fall wirkte jede noch so kleine Skurillität irgendwie logisch. Nadel und Faden nehmen ... die Einzelteile zusammenfügen, denn Geister starben nicht. Man musste sie nur ...
"W..."as? Das Leben hatte ihn zurück, ein weiteres Mal. Er spürte es in jedem Knochen seines Körpers. Alle Muskeln waren verspannt und pochten. Der Elf fühlte sich wie ein einziger Krampf, aber das bedeutete, dass er lebte. Am Anfang existierte auch nichts Anderes als Schmerz. Ob sich eine Geburt so anfühlte? Ob man sich deshalb nicht daran erinnerte, weil der Schmerz so unsagbar gewaltig war, dass der Verlust der Erinnerung davor bewahrte? Und Kazel wurde nun doch irgendwie zum vierten Mal geboren. Oh, was hatte es der Tod doch nicht leicht mit ihm und das Leben erst Recht nicht. Aber er war zurück. Jede gepeinigte Faser seines Leibes machte es ihm klar, wenngleich seine Sinne am längsten brauchten, um sich dessen über die Pein hinaus bewusst zu werden.
Nach und nach kehrte auch sein Verstand ins Leben zurück.
Seine Ohren zuckten noch. In ihren klang der Nachhall des Liedes, wollte auch jetzt noch nicht wirklich verklingen. So vernahm Kazel kaum seine eigene Stimme, die doch nicht mehr als ein Wimmern unter dem Schmerz war. Ihm folgte der Geschmackssinn. Er hatte sich auf die Zunge gebissen. Es musste so sein, denn unliebsam lag die Erinnerung von Kupfer in seinem Mundraum. Als hätte er an einer Münze geleckt!
Sein Tastsinn war weiterhin halb betäubt. Und doch fühlte er, fühlte das Leben und die Erschöpfung. Er fühlte den Schmerz, sowie die Überreste an Lichtmagie, die wie warme Tropfen unter seiner Haut entlang rannen. Letzte Rückstände der heilenden Kräfte, die sich mit der Zeit ganz zurückziehen würden, setzte er sich nicht noch einmal der Magie aus. Dann sah er etwas. Zunächst verschwommen glaubte Kazel noch immer zu träumen. Da waren wieder diese silbrigen Nebelfetzen. Diese halb durchschimmernden Anteile, von denen jedes ihn irgendwie an Janay denken ließ. Er erkannte sogar ihr Gesicht darin, wenn auch nicht vollständig und just in dem Augenblick, da er im Geiste die einzelnen Teilchen miteinander formte, meinte er auch, Janays körpereigenen Geruch wahrzunehmen. Wie damals, als sie sich verbunden hatten.
Mühsam versuchte er sich zu rühren. Ein innerer Drang, gepaart mit der Erinnerung an das Lied, an Nadel und Faden, zwang ihn dazu. So musste er Judukas Frage gar nicht beantworten, welche ohnehin nur zäh in sein Denken sickerte. Dafür nahm er den Schmerz über die Lautstärke ihrer Stimme umso intensiver wahr. Was brüllte sie ihn denn so an? Sie musste doch erkennen, dass er wach war, weil er sich bewegte. Mochten seine Glieder auch immer noch schwer wie Blei sein und mit jedem überwundenen Zentimeter brennen, so ließ er nicht davon ab. Wenigstens den Kopf wollte Kazel drehen, sich umschauen. Es gelang. Endlich! Das Glücksgefühl, das ihn ob dieses Erfolges beflügelte, war nicht zu messen.
Leider währte es nicht lang. Kazels Augen suchten sein Sichtfeld nach den silbrigen Konturen ab. Er suchte all die zauberhaften Schleierfetzen, die Janays Bild, Geruch und Erinnerungen trugen. Sie schwanden. Zurück blieb nur das ihm bekannte Gesicht der Nachtelfe. Müde schaute er Judukas Augenpaar entgegen. Langsam verebbte der körperweite Schmerz. Er zog sich auf zwei Teile seines Körpers zurück - in seinen Schenkel und die Brust. Dort sammelte er sich, aber wenigstens nur noch dort.
Kazel blinzelte. "Wo...?", fragte er, die eigene Stimme kaum mehr als ein Krächzen. Wo steckte Janay? Nein! Das wusste er. Sie befand sich überall, um ihn herum. Wenn er nur die Augen schloss, würde er sie bestimmt wiedersehen. Aber jetzt durfte er nicht schlafen. Er musste etwas tun. "Was...?"