Was immer Valas' Beweggründe waren, nicht Uriel sondern Maruka zu folgen, er behielt sie für sich. Vielleicht mochte es so sein, dass er Uriel eine erfolgreiche Flucht zutraute. Er besaß die Präferenzen, sich aus seiner Situation selbstständig herauszuarbeiten, während Maruka letztendlich kein anderes Verhalten an den Tag legte als das eines verschreckten Kätzchens. Ein Wesen wie sie hatte selbst fernab von Sademos gierigen Blicken oder dem Gladiatorenkeller von Xerxes' Anwesen kaum eine Übelrebenschance in Morgeria und wenn doch, so würde ihr weiteres Leben nur wieder in irgendeinem Käfig enden.
Der Halbtote schien seine Entscheidung somit mehr als durchdacht zu haben und mit jener zufrieden. Sofern man aus seinem Gebaren überhaupt Zufriedenheit herauslesen konnte. Das letzte Mal, als er große Emotionen gezeigt hatte, war sein Geliebter - der Diener Cassiel - in seinen Armen verstorben. Vielleicht war es der Schrecken, angetan vom eigenen Bruder, der Valas hatte emotional etwas abstumpfen lassen. Vielleicht war er aber auch schon immer ein Mann gewesen, der seine Gefühle nicht offen nach außen trug. Im Moment saß er schweigend auf der Pritsche und beobachtete Maruka, die sich ihrerseits umschaute und hier nun nach neue Ausrüstung suchen. Sie würde schon fündig werden. Der Meuchler, der in diesem Turm lebte, besaß genug, dass ihm ver Verlust einiger Einzelteile nicht auffallen würde. Solange die Katze ihre Pfoten von den größten Prunkstücken ließ, wär das Entnommene auch für jemanden wie den Assassinen entbehrlich. Valas kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er sich schulterzuckend andernorts bedienen würde ... irgendein Dunkelelf seiner Größe würde das Zeitliche segnen. Diesem Elfen machte der Gedanke keinen Kummer. Ein solches Verhalten gehörte nicht nur zur Mentalität eines Assassinen, sondern war in einer Stadt wie Morgeria praktisch zu erwarten.
Womit jedoch weder der Elf noch die Katze hatten rechnen können, waren zum einen das Verschwinden ihres Harnischs, zum Anderen das Auftauchen einer kleinen Phiole mit roter Flüssigkeit, die vor ihr auf dem Tisch erschien. Selbst der Frosch unterbrach für eine Sekunde sein Gequake, bevor sich sein Hals aufblähte, als wüchse ihm unter dem Maul eine gewaltige, milchige Blase. Dann entkam ihm das Quäken in tiefem Brummton, dass seine glatte Froschhaut schillern ließ. Wäre er eine Kröte gewesen, hätten Warzen den Regenbogen durchzogen. So aber wirkte er fast wie ein Edelstein, in dem sich das Spektrum aller Farben brach.
Dennoch lag die Aufmerksamkeit des Elfen auf Maruka. Er war aufgesprungen, starrte sie an. Nicht wie jemand, der sich am Anblick einer entblößten Person erfreute, zumal die Katze noch immer ihr Fell besaß. Eher musterte er sie kritisch, mit alarmierter Wachsamkeit. Ihre Rüstung war verschwunden und dieser Umstand war selbst für Morgeria nicht normal. Valas' Hand fuhr unter den Mantel und zur winzigen Armbrust, die er in seinem Schatten verborgen hielt. Alter und jahrelanger Umgang mit dieser Waffe hatten ihn geschickt genug werden lassen, dass er nicht einmal in ihre Richtung sehen musste, um sie zu spannen. Lediglich das Entsichern und Vorziehen fehlten noch, um einen tötlichen Schuss folgen zu lassen. Die Frage blieb: auf welches Ziel? Valas' Augen suchten den Raum ab. Bis auf ihn, Maruka und den Frosch schien niemand anwesend zu sein. Allerdings bemerkte ein Opfer den Assassinen auch erst im Moment, da er bemerkt werden wollte. Doch der Bewohner des Turms machte sich sonst auch keinen Spaß daraus, die Rüstungen anderer Lebewesen einfach verschwinden zu lassen! Und was sollte die Phiole, deren Inhalt an Blut erinnerte?
Valas kam überhaupt nur noch eine einzige Idee, da er nicht davon ausging, dass die Tat wirklich vom Regenbogenfrosch - Sigi! - begangen worden war. "Zeig dich, Grauschelm!", schnarrte er in das Dämmrige. Als sich jedoch niemand zeigte, entspannte sich der dunkelelfische Körper nach Minuten. Ein Schelm von düsterem Gemüt hätte sich den Triumph nicht nehmen lassen, aufzulachen und über seine Opfer lauthals zu spotten. Sie waren nicht so beherrscht. Außerdem hatte kein weiterer "Angriff" gefolgt.
"Ja", sprach Valas schließlich mit seiner dunklen, aber sanften Stimme. "Ich hätte einen Frosch anders genannt, aber er gehört ja nicht mir. Und er war es nicht. Seltsam." Weiter grübelnd huschte das elfische Augenpaar nochmal in alle Ecken. Es glitt über die Waffen an den Wänden, über das karge Mobiliar, bis hin zum Fenster. Und dort entdeckten sowohl Valas als auch Maruka das nächste verwirrende Wunder: Schnee. Der Anblick des Naturschauspiels ließ Valas verharren. Nur den Umhang schlug er wieder enger um sich, als fröstelte ihm allein vom Anblick der Flocken. Dass er lediglich für den noch im Verborgenen sitzenden Feind, der sie beobachten könnte, die Armbrust ebenso verbergen wollte, war der eigentliche Beweggrund. Trotzdem schritt der Elf langsam zum Fenster heran, bis nur noch das Bettgestellt zwischen ihm und Maruka war, die sich auf selbigem niedergelassen hatte, um hinaus zu spähen.
Die Flocken tanzten aus den Wolken am düsteren Himmel. Wie ein Nebelschleier legten sie sich auf die Stadt, hinterließen eine dünne Schicht so reinweiß, wie Morgeria schwarz war. Bald schon zogen sich dünne Linien aus Schnee zwischen den Häuserreihen hindurch. Man blickte wie auf eine durch weiße Striche abgegrenzte Stadtkarte. Es lag alles mit einem Mal so friedlich da, ganz so, als könnte der Schnee das Leid, die Torturen und den Schrecken mit seiner bloßen Anwesenheit in den Hintergrund verbannen. Morgeria war auf seine eigene Weise schön.
Das kratzende Scharren von Marukas Krallen war es, das den Elfen zu ihr blicken ließ. Sie brach in sich zusammen, knickte einfach um wie ein Zweig zwischen zerstörerischen Fingern. Er betrachtete sie, sah ihre Reaktion auf den Schnee, sah die Tränen und ... tat nichts. Trost musste sich die arme Katze andernorts suchen oder spendete er ihr auf diese Weise Beistand? Immerhin stand er ja hinter ihr! Und er spottete nicht, urteilte nicht über den Fluss ihrer Tränen. Fast schon befremdlich ob ihres Verhaltens musterte er sie.
"Schon vorbei."
Der Elf nickte kaum merklich. "Gut", antwortete er ihr und als er sie zu Ventha flüstern vernahm, drehte er sich ab. Selbst in ihrer seltsam kalt frostigen und zugleich wie ein Fluss gemscheidigen Sprache hörte man den Namen der Göttin heraus und Gebete soltle man nicht belauschen. Er besaß genug Respekt, sie mit ihren Worten allein zu lassen. So wandte sich Valas dem Tisch zu. Mit einem zur Ruhe gemahnenden Blick gen Sigi klaubte er die Phiole auf. Mit spitzen Fingern hielt er sie vor Augen, schüttelte sie leicht, dass die rote Flüssigkeit hinter dem Glaß träge hin und her schwappte. Wasser war es nicht.
"Das hier ist Blut", verkündete er schließlich, als Maruka sich bereits nach einer Ersatzrüstung umblickte. In den Truhen fand sich reichlich, von dem sebst ein Wesen wie Maruka sich bedienen konnte. Stoffe in allen Facetten, die das dunkle Farbsprektrum vorgab, ließen sich finden. Vornehmlich schwarz, braun, sehr dunkle Grüntöne und grau. Teilweise waren die Kleidungsstücke aus einem Gemisch dieser Farben hergestellt. Der Assassine musste vom Fach sein, denn er wusste, dass die Nacht und jede noch so finstere Nische niemals vollkommen schwarz war. Zu auffällig wäre ein düsterer Fleck gleichbleibender Farbe. Die Kleidung zeigte sich als überaus praktisch. Sie war eng geschnitten, ohne Prunk, dafür störte auch nicht ein Riemen an ihr. Darüber hinaus ließen sich überall Taschen finden - außen und innen, mit Schlaufen und Knöpfen, nicht nur im Brustbereich. Selbst die Arme waren mit Holstern, Laschen oder Schnallen versehen, um dort kleinste Gegenstände oder auch Wurfdolche zu verstauen. Maruka entdeckte zudem eine Reihe von Gürteln. Einige davon wirkten stark gebraucht, wie das abgewetzte dunkle Leder verdeutlichte. Andere benötigten sogar eine Reparatur, ließen sich ohne eine neue Gürtelschnalle nicht mehr schließen. Aber sie alle besaßen eckige Taschen, runde Laschen oder ovale Fächer für Phiolen wie jene, mit der sich Valas noch immer beschäftigte.
Bei den Waffen ging Maruka sorgfältiger zugange, obwohl sie sich im Grunde kaum sorgen musste. Abgesehen von den Klingen, die sich auf einem seitlichen Tisch an der Wand fanden, wirkte keine der anderen vergiftet. Sie hingen aus, griffbereit für den Einsatz, aber nirgends ließ sich der verräterische Schimmer aufgetragenen Öles oder die poröse Textur eines tötlichen Pulvers ausmachen. Ganz klar, der Assassine reinigte seine Waffen vor und nach dem Gebrauch. Sie würden nur beschädigt, ließe er seine Tinkturen auf ihren Schneiden. Es verhielt sich nicht viel anders wie mit Blut, das früher oder später ein gutes Schwert schartig machte oder sich wie Patina über dessen Schärfe legte.
Am Ende war Maruka gut ausstaffiert. Sie hatte einen Harnisch gefunden, der Taschen besaß, aber vor allem nicht zu lang war, als dass er sich an ihrem verlängerten Steiß hätte abscheuern können. Darauf musste sie großen Wert legen. Ohne ihren Schwanz würde sie beim Klettern mehr Probleme mit der Balance haben. Nur bei der Hose musste sie nachhelfen. Ohne ein Loch hineinzuschneiden konnte sie keine davon tragen. An Bewaffnung entschied sie sich für einen feinen Bogen aus schwarzem Zedernholz. Selbst die Pfeile waren aus diesem Material gemacht, abgesehen von ihrer Gefiederung, deren Gattung für Maruka nicht zu bestimmen war und den Spitzen, die aus geschwärztem Metall bestanden, damit sie nicht auffallend im Licht blitzten. Von den Schwertern nahm sie keines mit, begnügte sich mit einer einfachen Peitsche und einem Dolch in simpler Lederscheide.
Es dauerte somit seine Zeit, bis die Katze soweit war. Valas hatte sich wieder auf die Pritsche zurückgezogen. Er wirkte etwas entspannter als noch vorhin, wohl weil er im Augenblick mit keinem Angriff aus dem Hinterhalt heraus mehr rechnete. Dafür hätte ihnen jeder Verfolger einfach zu viel Zeit gegönnt und vor allem seiner Begleiterin die Möglichkeit, sich durch Rüstung und Waffen zu schützen. Ein Zuschlagen wäre nun mehr ein komplizierteres Unterfangen. Der Halbtote sah zu Maruka herüber, als diese sich Papier, Tintenfass und eine fein geschwungene Rabenfeder griff, mit der sie dem Assassinen eine Nachricht hinterließ. "Du kannst schreiben", stellte der Elf mit ruhigem Timbre fest. Dann schnaufte er leicht, nicht abwertend. Eher klang es danach als winkte er mit seinem Atem ab, statt mit der Hand. "Er wird sich zu helfen wissen, Ersatz zu finden." Die Katze sollte sich nicht sorgen. Es war nun wichtiger, dass sie gut gerüstet war, um eine Flucht eher zum Erfolg zu führen als sich um den Verlust einiger weniger Dinge seines Bekannten Gedanken zu machen. Er besaß doch noch genug!
Nur als Maruka nach den bunten Fläschchen griff, erhob sich Valas in geschmeidiger Bewegung. "Du weißt doch gar nicht, was sie bewirken. Ob sie für Freund oder Feind sind und welche Konsequenzen ihr Einsatz haben könnte." Im Turm eines Assassinen fand man sicherlich keine Parfumflaschen. Dass der Inhalt der bunten Phiolen nicht ungefährlich wäre, davon konnte man ausgehen. Nur was der Meuchler da zusammengebraut hatte, würde sich ohne einen Einsatz nicht in Erfahrung bringen lassen. "Hier, nimm das mit. Davon weißt du wenigstens, was es ist." Er hielt ihr die Phiole mit dem dunklen Blut entgegen. "Sie erschien, als dein Harnisch schwand. Demnach sehe ich sie als Tausch. Sie gehört dir, Katze. Und nun müssen wir einen Weg aus der Stadt finden."
Valas löste sich von Maruka. Er trat erneut ans Fenster, spähte hinaus. Dann griff er sich das Bettgestell und zerrte es unter wenig Anstrenung aus dem Weg. Während er sich eines der besonders langen Seile von der Wand nahm, sowie einen in drei Richtungen abgehenden Wurfhaken, fragte er: "Wie gut bist du darin, dich an einem Seil entlang zu hangeln?" Er knotete ein Ende des Strickes um den Wurfhaken und schaute erneut aus dem Fenster. Die Stadtmauer war noch immer viel zu weit weg. Ohne sich umzudrehen meinte er dann: "Katze, hör zu. Das ist jetzt sehr wichtig. Ich werde dich nun einen Moment hier allein lassen. Ich klettere aus dem Turmfenster. Du musst das Ende des Seiles irgendwo befestigen. Achte darauf, dass es gut sitzt. Es muss dein Gewicht tragen. Halte es zwischen den Händen und sobald du drei Mal einen Ruck spürst, hangelst du dich daran herunter zu mir. Ich versuche, so nah wie möglich an die Mauer zu gelangen. Nimm uns ein zweites Seil mit. Wir werden Morgeria verlassen." So war der Plan.