Vesta und Darak tauschten Blicke. Sie waren Partner gewesen, seit Darak die damals noch in Lumpen und mit Blessuren und blauen Flecken übersehene Hure in der Gosse getroffen hatte. Wie war es gewesen? Er hatte sich vor jemandem versteckt, weil der Luthrokar mal wieder für mächtig Ärger gesorgt hatte. Sie, die gerade einen unliebsamen Kunden losgeworden war, hatte ihn zusammengekauert erblickt und die Augen verdreht. Daraufhin war sie zu ihm gehuscht, hatte sein Handgelenk geschnappt und ihm zugeraunt, ihr zu Folgen, wenn er morgen noch atmen wollte. Vesta hatte ihn in ihr persönliches Versteck gebracht, einen kleinen Verschlag, bis auf den Eingangsspalt vollkommen verrammelt. Darin schlief sie in einem Haufen Lumpen und alter Laken. Dort versteckte sie sich am Tage, wenn Huren auf den Straßen ungern gesehen waren. Jeder beanspruchte ihre Dienste, aber niemand wollte sich mit ihnen am hellichten Tage sehen lassen. Huren waren Produkte der Gosse und Armut. Sie übertrugen Krankheiten, sie raubten und tauchten dann plötzlich mit rundem Bauch bei den Reichen auf, um finanzielle Unterstützung für das ungeborene Balg zu verlangen. Nun, in den meisten Fällen wurden sie untersützt - darin, es loszuwerden.
Vesta hatte Darak niemals gesagt, ob sie je schwanger gewesen war und ein Kind an die Meuchler des Adels verloren hatte. Über ihre Zeit, bevor sie zuerst ihn und er später sie gerettet hatte, redete sie nicht gern. Im Grunde sprach sie das Thema überhaupt nicht an. Es lag hinter ihr und Vesta war keine Frau, die sich lange im Kummer ihrer Vergangenheit suhlte. Sie blickte nach vorn, widmete sich unerledigten Aufgaben. Dinge, die man noch manipulieren und nach seinen Wünschen gestalten konnte. So auch jetzt.
Ja, ihr war eine Menge angetan worden und das nur, weil sie Handelspartnerin und enge Vertraute des Gehörnten war. Aber ihm hatte man mindestens ebenso viel Schrecken beschert. Er erzählte davon, obwohl Vesta bereits angedeutet hatte, er solle ihre Frage nach der Folter einfach vergessen. Es ging sie nichts an. Jetzt, da sie gehört hatte, was ihm widerfahren war, schaute sie direkt zu ihm herüber. Man sah im smaragdgrünen Blick der Bordellherrin niemals offen, wenn sie Mitleid hatte. Dabei konnte sie diese Emotion durchaus empfinden. Oft genug hatte sie Mädchen in der Schwarzen Spinne aufgenommen, die keinerlei Potenzial zu einer Hure ihres Standards besaßen. Aber mit etwas Übung und einer harten Ausbildung durch Vesta waren aus ihnen bei den Kunden beliebte Tänzerinnen und Huren geworden. Es war kein Luxusleben, bei weitem nicht, doch es war besser als eines direkt unter einem Sultan oder reichen Wüstenprinzen. Schon immer glaubte Vesta, dass man als private Lustgespielin ein schwereres Schicksal zugespielt bekam. Sie achtete auf ihre Mädchen. Sie zeigte Mitleid.
Und eben dieses Mitleid war nun in ihrem Blick erstmalig offen zu lesen wie in einem aufgeschlagenen Buch. Dieser Blick galt Darak. Was hatte man ihm angetan? Sie schürzte die Lippen, dann nickte sie und ihre Augen veränderten sich. Er hat es verdient, sprachen sie. Die Hure verstand Daraks Hass auf den getöteten Dunkelelfen. Sie konnte nachvollziehen, dass er diese Tat unter keinen Umständen reute.
Auch Alma schaute ihren Patienten an. Schweigend und mit kritischem Blick. Er war in der Stillen Kammer dem Wahnsinn verfallen? Dafür benahm er sich derzeit aber wieder sehr normal, doch es erklärte seine Erscheinung, als sie ihn bei dem gefolterten Da'rion gefunden hatten. Es erklärte seine Aura aus Hass und finsterer Rache, die sich zu dem Zeitpunkt um ihn aufgebaut hatte, ein Schutzwall mörderischster Empfindungen. Vielleicht würde Lilith ihm verzeihen und ihn wieder lieben können, wenn Alma ihr dies sagte. Er war unzurechnungsfähig gewesen, hatte nicht ganz darüber nachgedacht, was ... nein. Sie schüttelte den Kopf, paffte ihr Pfeifchen. Nein, das war nicht der richtige Weg. Darak und Lilith mussten das unter sich ausmachen, ganz allein. Niemand sollte sich da einmischen und der Elfe zu sagen, dass ihr Geliebter - wenn auch nur für gewisse Zeit - wahnsinnig gewesen war, konnte nicht helfen, die Beziehung zu retten. Wer konnte denn versichern, dass da nicht noch ein Funken Wahnsinn in Darak Luthrokar steckte?
Alma würde ihre Hand nicht dafür ins Feuer legen, im Gegenteil. Sie glaubte felsenfest, dass der Wahn noch vorhanden war. So etwas legte man nicht von einer Minute auf die andere beiseite. Er musste das verarbeiten. Sie würden reden müssen, wenn die Zeit reif war. Im Moment schien Darak damit klar zu kommen. Ihn bedrückten vielmehr sein aktueller Beziehungsstand zu Lilith, sowie die Tatsache, dass Vesta sein zertrümmertes-Bein-Schicksal teilte. Ja, sie würde sich ohne Magie nicht davon erholen.
"Wir könnten den neuen Stadtherrn Sarmas bitten, eine Nachricht nach Jorsan oder Zyranus zu schicken. Vielleicht auch nach Pelgar. Dort gibt es die besten und meisten Lichtmagier. Einen oder zwei werden sie wohl entsenden können." Es würde nur unendlich schwierig, den Magier nach Sarma zu verfrachten. Andunie war gefallen, wie man sich erzählte. Die Meere standen unter dem Regime des dunklen Volkes und einiger Piratengemeinschaften aus Rumdett. Es sah schlecht aus. Man konnte vorerst nichts tun. Außerdem war noch kein Stadtherr für das Wüstenreich gefunden. Diebe und Adlige diskutierten endlos.
"Toll ... verschlagen und vollgefressen. Sie werden sich nie einigen. Dafür sind die doch einfach zu verschieden."
"Wenn sie sich zusammenraufen, gelingt es. Wichtiger ist, dass jetzt überhaupt endlich ein Anführer gefunden wird. Die Dunkelelfen werden nicht ewig passiv bleiben, die sind bestimmt zornig, sobald sie vom Fall ihrer sarmaer Regierung erfahren", sagte Vesta. Sie seufzte. Darak hatte Recht. Beide waren mit der Sarmaer Kultur vertraut. Die Adligen würden nur an ihre eigene Haut denken, die Wüstendiebe wollten zwar einen Herrscher, aber am besten einen aus ihren Reihen - oder jemanden, der sich manipulieren ließ. Es durfte kein Rechtschaffener auf den Sitz, der am Ende noch ihre klar organisierte Unterwelt aushob. Das musste verhindert werden und so kämen beide Parteien nie zu einer Einigung. "Die bräuchten jemanden, der weder aus dem Bereich der Adligen, noch dem der Diebe kommt. Eine neutrale Person, mit der sich aber beide Sieten zufrieden geben. Und wir bräuchten einen Kriegsstrategen, einen Veteran." Es klang sehr hoffnungslos. Sarma war wieder den Menschen, doch für wie lange? Wenn es so weiter ging, würde es schneller zurück erobert sein als die dunklen Truppen die Häuser Andunies niedergefackelt hätten. Wie es den Bewohnern dort wohl ging? Auch Darak hatte Freunde dort zurückgelassen und starker Erinnerungen. Samantha würde ihn auffordern, wenigstens ihre Heimat zu retten, aber sie war verstummt. Sie hatte ein gutes Ende gefunden, endlich.
Es war Zeit, dass es auch für den Rest seiner Truppe - seiner Freunde - ein gutes Ende nahm. Nun ja, nicht unbedingt ein Ende, denn das wäre möglicherweise mit Tod verbunden. Aber die Zeiten sollten sich ändern, zum Guten für die Menschheit. Zum Schlechten für das dunkle Volk. Nicht nur Darak brachte ihnen inzwischen Verachtung entgegen. Vermutlich erging es zumindest Vesta ähnlich. Sie beide hatten viel gemeinsam.
Aber im Gegensatz zu Vesta fehlten Darak drei Tage seiner Erinnerung. In dieser Zeit, die ihm wesentlich länger vorgekommen war, hatte er sich dem Wahnsinn hingegeben. Er hatte geträumt und sich mit seinen Dämonen auseinander gesetzt. Zusätzlich war er von den Dunkelelfen stetig weiter an die Grenze zwischen Vernunft und Wahn getrieben worden. Beispielsweise hatten sie ihn mit stumpfen Klingen rasiert, nur um ihm Glauben zu machen, er müsse tatsächlich rasiert werden. Um das Zeitgefühl endgültig zu lösen. Sie hatten ihn zu den unterschiedlichsten Zeiten Mahlzeiten gebracht, durchsetzt nicht nur mit Speichel oder anderen Ekel erregenden Inhalten, sondern auch mit Rauschmitteln, die seine Träume intensiviert hatten. Wenn er dann schlief, hatten sie Mäusekot in der Kammer ausgeleert, Spinnen in die Ecken gesetzt, damit sie Netze woben oder einfach Schmutz auf seinen Körper aufgetragen, damit er glaubte, wirklich zu verwahrlosen. Da'rion war nicht grundlos Herrscher der Wüstenstadt gewesen. Über seine Gefangenen hatte er sich Gedanken gemacht. Sein letzter war ihm zum Verhängnis geworden, weil er annahm, dass dieser frühzeitig aufgegeben und den Tod gefunden hatte.
Allein beim Gedanken, was ihm drei Tage lang angetan worden war, wurde Darak schon wütend. Daher hakte er lieber noch einmal nach, dass auch Lilith nichts passiert war. Alma und Vesta gaben durch Kopfschütteln erleichternde Bestätigung. "Niemand hat sie angefasst. Sie ist gesund und wohlauf - körperlich", gab Alma zur Antwort. Doch dann kam eine Hiobsbotschaft. Da'rion hatte Vesta geschändet, aber nicht nur, weil er sie einfach benutzt hatte. Er hatte sie leiden lassen, direkt nach der Zertrümmerung ihrer eigenen Knie.
Sie wich Daraks Starren aus, indem sie erneut den Kopf weg drehte. Sein Knurren verursachte bei ihr eine Gänsehaut. Vesta präsentierte sich ihm schon immer als starke, als dominante Frau. Ein Wesen ohne Schwächen. Man konnte sie nicht in die Knie zwingen - ha! Eine beschissene Redewendung in ihrem derzeitigen Zustand! Aber sie wollte nicht, dass Darak sie in einem schwachen Moment sah. So spielte sie es mit einer abwinkenden Handbewegung herunter. "Ärgere dich nicht", sagte sie. "Alles halb so wild. Ich bin eine Hure, schon vergessen? Naja - jetzt wohl auch nicht mehr." Das zehrte viel mehr an ihr. Sie konnte keinem Kunden mehr gegenüber treten. Sie konnte ihnen nicht bieten, was normalerweise verlangt wurde. Sie könnte mit Darak nie wieder schöne Stunden wie früher verbringen. Nun war es an ihr zu knurren. "Genug, es reicht jetzt! Vom Plappern wird es nicht besser, da ändert sich nur meine Laune. Alma, könnten wir nicht einen der gefangenen Dunkelelfen herbringen lassen? Ich glaube, ich habe jetzt auch Lust zu foltern."
Alma schnaubte. Davon hielt sie nichts, auch wenn sie wusste, dass es nur scherzhaft gemeint war. Aber es kam trotzdem jemand. Ein Abgesandter der diskutierenden Wüstendiebe. Man wollte "den Befreier" in ihren Reihen sehen, wenn es möglich war. Die erste freundliche, ja geradezu heroische Betitelung für Darak Luthrokar.
"Du hast die Stadt vor Ach'ray Da'rion befreit", erklärte Alma. "Da passt der Titel doch ganz gut. Und Gehen? Nein, kannst du nicht. Nicht so." Sie drückte ihre Pfeife aus und erhob sich. Einen rollenden Stuhl hatte sie nicht dabei. Im Wüstensand wäre er ohnehin mehr als nutzlos, die ganzen Körnchen würden das Radgetriebe kaputt machen. "Wir haben in Sarma ander Möglichkeiten." Sie trat neben die Tür und schob einen der schweren Vorhänge zurück. Ein Seil mit Troddel am Ende kam zum Vorschein. Alma zog es und ein Glöckchen läutete. Sie klingelte zwei Mal. Es dauerte nicht lange, da tauchten zwei Sänften, jeweils von zwei Männern getragen, auf. Vesta bekam doch noch ihren Dunkelelfen zum foltern, denn die Männer, die diese Sänften trugen, gehörten dem Elfenvolk an. Sie lagen in Ketten. Man hatte sie kurzerhand zu nützlichen Gefangenen gemacht, das war besser als sie einzusperren und verrotten zu lassen. Sie zeigten verbissene Gesichter, waren offensichtlich ganz und gar nicht mit ihrer Situation zufrieden. Aber sie gehorchten, ließen die Sänften niedersinken und warteten.
Alma hob Vesta auf. So konnte Darak einen kurzen Blick auf ihre Beine erhaschen. Nichts, was man sich gern ansah. Etwas ragte aus Vestas Bein. Knochen? Oder nur ein Konstrukt der dicken Heilerin, um ihr den Schmerz ein wenig zu nehmen? Nein, das war ein Knochen gewesen, eine kleine, spitze Ecke! Sie musste mit Schmerzmitteln vollgepumpt sein, um das zu ertragen. Kein Wunder, legte sie sich eine Decke über die Knie. Diesen Anblick ertrug niemand. Verbissen schaute nun auch Vesta, als man sie in den Sänftenstuhl setzte. Dass sie getragen werden musste, gefiel ihr nicht. Es machte sie schwach.
Alma kam zu Darak, um auch ihn anzuheben. Zuvor reichte sie ihm aber noch ein ganz wichtiges Utensil. "Ohne Helm solltest du dich nicht zeigen", lächelte sie.
Man würde sie in den nahe gelegenenen Audienzsaal des ehemaligen Bürgermeisters von Sarma bringen. Dort saßen Angehörige der Adligen, Sultane, Prinzen und Fürsten mit Vertretern der Wüstendiebe zusammen. Diwane, breite Sitzkissen und teilweise auch bequeme Lehnstühle waren besetzt. Sklaven servierten Obst und andere Luxusgüter. Die Kultur Sarmas hatte sich mit der Versklavung der Menschen und dem anschließenden Sturz des Dunkelelfen nicht verändert. Aber dass diksutiert wurde, war schon einmal ein Fortschritt. Natürlich nahmen nur Männer an der Debatte teil. Frauen waren in Sarma nichts wert. Und so würde man Vesta vollkommen ignorieren, sie und Alma als Daraks Haremsgefolge ansehen, den Blick aber nur auf ihn richten.
"Endlich, der Befreier. Willkommen, Euer durchlauchte Hoheit. Setzt Euch, wir haben Wichtiges zu besprechen."
"Ich hoffe, er kann entscheiden, wer nun auf Sarmas Regierungsthron Platz nimmt. Wir kommen ja zu keinem Ergebnis", mischte sich ein Adliger ein. Er wurde von dem zuvor sprechenden Wüstendieb mit einem Schmunzeln bedacht. "Der Befreier kann Euch sehr gut verstehen, Sahib. Er stammt aus Sarma, soweit ich weiß." Irrglaube. Darak war Pelgarer, hatte nur sehr lange in Sarma gelebt. Aber das konnte man nach außen hin bei ihm kaum noch erkennen, so braun gebrannt wie seine Haut war.