Kühle empfing Azura, nachdem der Schmerz neuen Lebens langsam aus ihrem Körper wich. Lediglich am Kopf brannte es noch unangenehm, aber ansonsten gewöhnten sich Muskeln und Organe wieder daran, benutzt zu werden.
Sie lag, deshalb war es so kühl. Sie lag nämlich auf blankem Stein. Der Boden fühlte sich zudem feucht an. Es roch auch nach Wasser, allerdings lag da noch etwas Anderes in der Luft. Es war leich süßlich und doch weckte es einen Würgereiz, wenn man zu lange versuchte, den Ursprung dieses Dufts zu analysieren.
Nach und nach würden die schwarzen Sterne schwinden, die Azura selbst bei geschlossenen Lidern vor den Augen tanzten. Dann könnte sie erkennen, wo sie sich befand. Vielleicht war sie hier schon einmal gewesen. Gerade in Andunie war es von Vorteil einen Tempel der Ventha zu besitzen, denn die vielen Seefahrer kehrten oft hier ein, um für gute Winde zu beten. Aber auch bei den einfachen Anduniern war der Tempel immer sehr beliebt gewesen. Es gab regelmäßige Gottesdienste, zu denen sogar die eher tumben Apfelbauern die Arbeit niederlegten, um daran teilzunehmen. Sie lobten dann Ventha für ihre Güte, keine Stürme über das Land zu schicken und erflehten in heißen Zeiten der Abendsonne Regen für ihre Plantagen und Felder. Es gab sogar Wanderer, die von weit her reisten, nur um sich die Baukunst und magischen Wasserwege des Tempels anzusehen. Die Wassermagier der nahe gelegenen Akademie hatten dafür gesorgt, dass auch dieses Gebäude von einem System aus Rohren und Wassermagie geflutet wurde, so dass ein bezaubernd göttlicher Eindruck entstand. Es war eine Opfergabe für die Herrin von Wind und Wasser, die keine ihrer Launen jemals über den Tempel ausgelassen hatte. Offenbar gefiel er ihr.
Normalerweise war es auch ein wundervolles Gebäude mit einer großen Eingangs- und Bethalle, in der viele Springbrunnen standen. In der Mitte ragte Venthas Statue bis knapp unter die Decke, umringt von steinernen Möwen und Delphinen, die aus ebenso steinernem Wasser sprangen und in der Luft erstarrt schienen. Die Göttin selbst hielt einen gewaltigen Tonkrug, aus dem Wasser munter in das Becken plätscherte, das sie umgab. Die Säulen des Tempels waren nicht alle aus Stein. In der großen Bethalle gab es viele gläserne Varianten, die unterirdisch mit dem Meer verbunden waren. So schwammen oftmals Fische, kleine Krebse oder Quallen in diesen durchsichtigen Säulen umher, was vor allem Kinder zum Staunen brachte. Die Beleuchtung basierte auf ausgehöhlten Muscheln, die vor Kerzen an den Wänden befestigt worden waren. Es gab sogar einen Tempelgarten mit Dutzenden von Fischteichen und einer Stelle, die zum Strand führte, wo man Möwen füttern konnte.
All diese Pracht war von den Dunkelelfen zerstört und geschändet worden. Da sie allgemein nicht an Ventha glaubten oder zumindest nicht zu ihr beteten, war ihnen auch der Tempel der Göttin nicht heilig. Ihn zu einem Faldortempel umzuformen sahen sie allerdings zu anstrengend an, vor allem, weil es schwierig wurde, die wässrigen Systeme zu entfernen oder das Wasser durch Blut zu ersetzen. Beim Gedanken an Blut war dem dunklen Volk jedoch die Idee gekommen, den Tempel zu einem Sammelpunkt für ihre Opfer umzufunktionieren und so erstreckte sich das einstige Götterhaus nun jetzt als gigantische Leichenhalle über der Stadt.
Andunische Soldaten wurden hier gleichermaßen achtlos abgeladen wie alle anderen, die sich den Dunkelelfen kühn und dumm in den Weg gestellt hatten. So auch Azura ... sie hatte es gewagt, gegen die Frau vorzugehen, die sie als Sklavin nutzen wollte und ihr schließlich die Haare verbrannt hatte. Verbrannt roch es übrigens nicht mehr.
Azura lag, teilweise auf dem kalten Stein, teilweis auch auf einem Körper. Dieser lebte, das spürte sie, weil er warm war. Und weil sich die Brust unter ihr hob und senkte. Weil jemand leise wimmerte. Jener jemand hatte ihr geholfen, den Weg ins Leben zurück zu finden. Denn jener Jemand war es, der noch immer durch das goldene Kettchen mit ihrem Handgelenk verbunden war. Der hier halb unter ihr lag und aus dem das Leben strömte, das Azura im Reich des Gevatters über den leuchtenden Faden zurück in ihren Körper gelotst hatte. Corax Rabenschrei war schwer verletzt, dass es den Stein in unmittelbarer Umgebung rot färbte.