Was im Schankraum von Grimbardts Schenke noch besprochen wurde, bekamen weder Corax noch Azura mit. Obgleich sie in ihrer Position einen Ausblick zurück durch die Pforte der Taverne hatte, konnte sie nur noch den fremden Zwerg sehen, welcher sich Méllyns Tisch näherte, um das Küchenmesser entgegen zu nehmen. Dann verschwand auch dieses Bild, als ihr Träger um eine Ecke bog. Er ging geraume Zeit durch die Straßen der Zwergenstadt, steuerte dabei aber nicht den Hafen an. Auch wenn Azura sich nicht wirklich an den Weg erinnerte, so war sie sich sicher, bisher nicht in die schmalen Gassen gelangt zu sein, denen Corax nun folgte. Oder nahm er Seitenwege? Er schien bestrebt, so wenig Zwergen wie möglich zu begegnen. Außerdem ging er zügig. Azura dabei zu tragen, bereitete ihm keine Probleme. Demnach musste stimmen, was sie von Méllyn über die Schelmenmagie erfahren hatte. Sie wirkte Illusionen, aber solange der Verzauberte fest genug daran glaubte, wurde aus Magie die Wahrheit. Doch würde dieser Glauben einen Riss bekommen, verflöge der Zauber in Schall und Rauch. Die Frage war, wie lange Corax davon überzeugt blieb, unverletzt zu sein. Bisher bereiteten ihm die Bewegungen keine Schwierigkeiten. Er schwitzte nicht einmal. Das Bild seines angestrengten Gesichts unter Fieberschüben und der Last ihres eigenen Körpers schien für Azura nur noch eine weit entfernte Erinnerung zu sein.
Sie wollte es vorerst dabei belassen. Corax besaß mehr Möglichkeiten und sie beide weniger Einschränkungen, wenn er sich - erfolgreich! - einbildete, vollkommen gesund zu sein. Trotzdem zog er Blicke auf sich. Natürlich! Immerhin schleppte er Azura auch wie einen Sack Mehl über der Schulter durch die Gassen Nogrots. Hier gab es nicht mehr so viele Zwerge wie auf den Hauptwegen, doch jene wenigen blickten sich dennoch nach ihnen um.
Azura wies darauf hin und das führte endlich dazu, dass Corax stehen blieb. Er setzte sie allerdings noch immer nicht ab. Vielmehr schien er nachzudenken. Dann brummte er nur und setzte seinen Weg fort. Er bog erneut um eine Häuserecke und suchte dann noch schmalere Gassen auf. Hierher drang nicht einmal mehr das Licht der Stadt. Grau und unheimlich wirkten diese engen Gassen. Außerdem wurden sie wohl vordergründig für die Müllentsorgung genutzt. Es roch nicht sehr angenehm. Kisten, schmuddelige Fässer und ranzige Säcke reihten sich an den Hauswänden auf. Corax verlangsamte seinen Schritt, um teilweise über die Hindernisse hinwegtreten zu können, ohne zu fallen. Nach wie vor wollte er Azura aber nicht absetzen.
So ging es eine Weile weiter. Die Geräuschkulisse veränderte sich wie die Optik der Gassen, welche die beiden hinter sich ließen. Nur noch entfernt drangen klassische Stadtgeräusche an Azuras Ohr. In diesen schmalen Nischen zwischen Gebäuden und Lagerhäusern wirkte alles gleich viel gruseliger und spätestens als Corax versehentlich eine kleine Holzkiste umstieß und daraufhin zwei Fledermäuse erschreckt davon flatterten, hatte sich die Atmosphäre gewandelt. Es wurde zunehmend unheimlicher, weshalb Azura nun doch das Ziel ihrer Entführung wissen wollte.
Erneut hielt Corax an. Sie befanden sich inmitten einer schmalen Gasse von vielen. Über ihren Köpfen waren diverse Leinen mit Wäsche und Lappen zwischen zwei Hausfassaden aufgespannt worden. Über eine der Leine huschte eine Ratte entlang, um auf der anderen Seite in einer Mauerlücke zu verschwinden. Endlich setzte Corax seine Begleiterin ab. Er ging behutsam vor, stellt sie auf ihre Füße, so dass sie einander anschauen konnten. Seine Züge hatten die Wut verloren, die seine Aktion mit dem Messer bereits gezeigt hatte. Er schaute neutral auf sie herab oder gar ... nachdenklich? Dann neigte er sich vor, beute sich zu ihren Lippen, um sie flüchtig zu versiegeln. Allen Göttern sie Dank wollte er hier wohl keine Verführung einleiten, um zwischen Unrat und alten Kisten noch einmal über Azura herzufallen. Der Kuss war anders als sonst. Fast so, als wollte er sie beruhigen, aber natürlich blieb Corax ihr wie immer die Antwort schuldig. Stattdessen fragte er: "Deine Eltern befanden sich zum Zeitpunkt der Eroberung auch in Andunie? Dann sollten wir dorthin zurück ... oder eben da hin, wo du sie vermutest."