Die Gruppe war bereits unterwegs, noch ehe Madiha sich richtig klar werden konnte, dass Caleb wohlauf war. Sie ging neben ihm durch das Tunnelsystem oder hinter ihm, wenn die Gänge etwas schmaler wurden. Dabei hielt sie unentwegt seine Hand. Caleb wirkte fast vollends genesen. Er hielt sich mit der anderen Hand zwar immer noch die verbundene Hüfte, aber er grinste jedes Mal zu Madiha herüber, falls sich ihre Blicke trafen. Der Trank der Stärkung musste einiges bewirkt haben. Trotzdem war Caleb noch lange nicht vollends unversehrt. Er schritt langsamer voran als seine Vordermänner und regelmäßig stieß einer der Diebe hinter ihnen Madiha in den Rücken, dass sie zügiger laufen sollte. Haraams Männer ließen den falschen Vater samt Tochter zwischen sich gehen, um jede Möglichkeit einer Flucht direkt im Keim zu ersticken. Madiha konnte sich nicht einmal mit Devin unterhalten. Sie sah ihn nicht, wusste aber, dass er irgendwo weiter vorn bei Haraam sein mutte. Immerhin war er dessen Eigentum.
Aber sie fände Gelegenheit, sich mit Caleb zu unterhalten, während sie wo auch immer hin gingen. Solange sie dabei leise sprach, würden die Wüstendiebe nur ein gerauntes Gespräch zwischen Vater und Tochter vermuten. Das hieß aber nicht, dass ihre Hintermänner kein Auge auf die beiden hatten.
Der Weg erstreckte sich scheinbar über Stunden. Madihas Füße brannten und sie musste im Laufe der Zeit irgendwo auf einen spitzen Stein getreten sein, denn eine kleine Stelle an ihrer Fußsohle tat beim Auftreten besonders weh. Vielleicht hatte sie sich aber bereits bei dem Angriff auf die Stadt verletzt, es nur angesichts all der Ereignisse nicht so intensiv wahrgenommen.
Die Gruppe machte noch zwei Mal Rast, jeweils jedoch nur wenige Minuten. Dabei wurden Trinkschläuche herum gereicht, damit keiner von ihnen aufgrund von Wassermangel zusammenbrach. Somit erhielten auch Caleb und Madiha stets eine Ration. Niemand kam dem Mädchen nochmal so zu nahe wie anfangs, als sie bereit gewesen war, ihren Körper gegen Calebs Leben einzutauschen. Soweit sie es zu sagen vermochte, schien auch keiner über sie zu sprechen. Hin und wieder schnappte Madiha Wortfetzen auf, aber sie verstand diese nicht. Die Diebe blieben konsequent darin, ihre eigene Sprache zu nutzen, wenn sie sich unterhielten. Da aber auch Caleb nicht ein einziges Mal eingriff, schienen die Themen für sie ohne Belang zu sein.
Immer dann, wenn sich ihr Blick nicht mit senem kreuzte, veränderte sich Calebs Miene. Dann wirkte er ernst wie Madiha ihn noch nicht erlebt hatte. Seine Kiefermuskulatur war deutlich zu sehen und gelegentlich konnte sie sogar hören, dass er mit den Zähnen knirschte. Die Stirn war gerunzelt, der Blick finster. Wo auch immer es hin ging, er ahnte es wohl und es gefiel ihm nicht.
Endlich erreichte die Gruppe ihr Ziel: eine gemauerte Steinwand. Niemand schien überrascht, in die Sackgasse geraten zu sein. Caleb schaute zu Madiha hin. Er lächelte sie an, neigte sich in ihre Richtung und ließ dabei ihre Hand los. Denn er wollte ihr den Arm um die Schultern legen. Doch statt verschwörerisch mit ihr zu flüstern, hob er seine Hand plötzlich doch wieder etwas mehr an und schob sie von der Seite über ihre Augen.
"Ruhig bleiben, es ist alles in Ordnung."
Von vorn drang seit langem wieder die herrische Stimme des Anführers heran: "Kennt dein Gör unsere Geheimnisse?"
"Hältst du mich für einen Verräter, Haraam?", entgegnete Caleb. Ein betretenes Schweigen legte sich über die Versammelten, bis er aufstöhnte. "Öffne endlich den Zugang, wie du es vor hattest. Sie kann nichts sehen."
Vorn brummte es, dann war ein leises Klicken und kurz darauf ein metallener Mechanismus zu hören, bei dem offenbar einige schwere Ketten in Gang gesetzt wurden. Calebs Finger spreizten sich, so dass Madiha zwischen ihnen hindurch sehen konnte. Dann nahm er die Hand gänzlich von ihren Augen. Die Sackgasse war verschwunden. Der gang führte weiter und zwar schon nach knapp einem Meter in einen breiten Raum. Nein, das war ein Gewölbe, welches tief in die Erde führte und zu einem gewaltigen achteckigen Saal wurde. Entlang der okatgonen Wände führten breite Treppen bis tief zum Grund, wo in einem bunten, sternförmigen Mosaik ein protziger Springbrunnen stand. Auch er war sternförmig mit acht Zacken und aus weißem Stein gefertigt. An den Seiten seines niedrigen Beckens hatte jemand Kacheln angebracht, die verschiedene Sternmuster in Blau, Rot und Gelb zeigten. Aus der Mitte des Brunnens erhob sich die Statue eines stolzen Elefanten. Er stand auf einem Hinterbein, das andere angewinkelt, ebenso wie vir Vorderbeine, die er an seinen runden Bauch drückte. Ober seinen Kopf hinweg führte der Rüssel in Schlangenform das Wasser als spritzende Quelle zurück in das Becken, so dass der ganze Elefant im Regen stand. Die Halle wurde ansonsten von vielen Sitzgelegenheiten geziert. Teppich-Ecken wie Madiha sie aus den reichen Anwesen kannte, waren mit reichlich Kissen und Sitzpolstern ausgestattet. Überall fanden sich antik wirkende Tische, auf denen entweder Gebäck, volle Obstschalen oder ganze Sätze aus prunkvollen Teekannen mit passenden Tassen standen. Dazwischen fanden sich immer wieder Wasserpfeifen mit vier oder fünf Plätzen. Madiha konnte den Tabak erst riechen, als sie schon die Hälfte der Treppen zurückgelegt hatten.
Große Keramiktöpfe, manche in klassischem Terracotta, andere mit bunten Motiven bemalt, dienten unzähligen Pflanzen als Heim. Kleine Palmen, Kakteen, Feigengewächse und Wüstenrosen verteilten sich über die gesamte Halle Unterhalb der Treppen waren sogar Hängepflanzen in Flechtkörben angebracht. Woher all diese Lebewesen ihr Licht bezogen, konnte sich das Mädchen nicht beantworten. Es schien aber jeder einzelnen Pflanze gut zu gehen. Auf den ersten Blick wirkte keine vertrocknet.
Von der Halle führten achte Portale in weitere Bereiche. Manche luden ein, noch mehr Stufen in die Tiefe zu steigen, andere warteten mit breiten oder schmalen Korridoren. Unzählige Wüstendiebe fanden sich hier an diesem Ort. Es wirkte fast wie ein öffentlicher Platz unterhalb Sarmas. Die meisten waren vermummt wie Haraams Gruppe, aber hier und da konnte Madiha auch klassisch gekleidete Männer oder Frauen in bauchfreien Schleiertanz-Roben sehen. Interessant war, dass es nicht dabei blieb. Madiha erkannte auch Frauen unter den Vermummten. Sie waren bewaffnet, scherzten oder diskutierten mit ihresgleichen oder den Männern - auf einer Augenhöhle. Niemand duckte sich hier oder versuchte, nicht aufzufallen, wie Madiha es von den Sklaven gewohnt war. Zwar schlichen auch reichlich Bedienstete durch die Hallen, welche Nahrung oder Getränke servierten, doch jeder von ihnen strahlte einen inneren Stolz aus. Und überall dieser Prunk! Wandteppiche, Bodenteppiche, teure Vasen für die noch so kleinste Pflanze, vergoldete Ketten für golden schimmernde Laternen, die die komplette Halle erhellten. Es war wie im Märchen.
Am Fuß der Treppe angekommen sammelte Haraam seine Männer um sich. Er nickte einigen von ihnen zu. Sie erwiderten und strömten in verschiedene Richtungen davon. Devin erhielt vom Anführer eine Kopfnuss. "Such dir etwas zu Essen und mir eine freie Wasserpfeife ... und eine Hure, verstanden?"
Devin nickte. Er schulterte seine Tasche, um den Auftrag auszuführen. Hier unten schien niemand in Aufregung, was über ihren Köpfen vor sich ging. Doch das war nur der erste Eindruck. Madiha konnte an jedem der Diebe mindestens eine Waffe vorfinden. Die meisten besaßen auch Verbände oder wirkten erschöpft. Dieser Ort war zum Erholen gedacht, bevor man sich erneut in eine Schlacht wagte, dessen Ausgang sie selbst überhaupt nicht kannte.
"Eine Hure für dich, Haraam?", erhob Caleb plötzlich das Wort. "Dann nehme ich an, du hast nichts mehr mit mir zu-"
"Nicht so schnell, du Bastard. Jetzt schuldest du mir noch Verbandsmaterial und diesen Trank, den der Bengel dir eingeflößt hat. Ich geb dir einen Tageslauf Zeit, dann hak ich bei Devin nach, ob du seinen Vorrat aufgestockt hast. Und wag's bloß nicht, wieder abzuhauen. Wir finden dich, das weißt du."
"Abhauen? Ich?! Haraam ... ich hab oben geschaut, was passiert ist. Wirklich! Hatte niemals vor, meine Schulden bei dir einfach zu vergessen. Keine Sorge, dein Junge bekommt alles und ... ja, ich hab auch das Geld für dich. Nicht hier. Es ist oben. Ich muss also bald wieder hoch und es holen. Wenn du mich also entschuldigst..."
Haraams Blick auf Caleb war mit so viel Skepsis gefüllt, dass es ihm fast schon aus den Augen lief. Er wechselte den Fokus, richtete ihn auf Madiha. "Deine Tochter könnte als Pfand bei mir bleiben, bis du das Geld rangeschafft hast. Oder du zahlst in Naturalien. Sklaven kann ich immer brauchen."
Calebs Ausdruck versteinerte sich. Sofort griff er wieder nach Madihas Hand. "Meine Made kennt das Versteck, nicht ich. Deshalb muss ich sie mitnehmen. Sie muss mich führen."
"Das hast du dir ja gut ausgedacht. Na, meinetwegen ... Morgen um dieselbe Zeit, Caleb. Hier in der Halle. Sonst war es unser letztes Treffen, bei dem du mit heilem Auge davonkommst."
Caleb nickte. Haraam wandte sich ab. Seine verbliebenen Männer folgten ihm. Er suchte sofort eine freie Wasserpfeife mit genug Sitzplätzen auf. Erst als er weit weg von ihnen war, wagte Caleb tief auszuatmen. Madihas Hand hielt er immer noch.