Die Erkenntnis hatte kaum Zeit, Bitterkeit auf Madihas Glücksmoment zu legen. Zwar wurde sie zunächst von einem Schrecken vertrieben, doch auch jener konnte sich in ihr nicht festigen. So unheimlich der Riss aussah, der sich über ihr und dem Drachen am Himmel auftat und so schaurig das Wesen auch kreischte, das dem Riss entstieg, sie erkannte schnell, was es war. Die Wahrheit pochte zwei Mal in ihr, zusammen mit ihrem Herzschlag, aber Madiha wagte noch nicht zu hoffen. Erst als das Wesen sich in einen Schwarm Raben aufteilte und dabei einen Regen aus schwarzen Federn zu ihr herabfallen ließ, wichen die Zweifel einem hoffnungsvollen Unglauben.
"Corax...?" Er war hier. Er lebte und er war zu ihr gekommen, weil er ihren rituellen Ruf gehört hatte. Er war wirklich hier! Aber er sah den Drachen offenbar als Gefahr an und wollte ihn attackieren. "Nicht!", versuchte Madiha noch zu verhindern, was scheinbar nicht mehr aufzuhalten war. Es war nicht alles gut. Was konnte sie schon ausrichten, die kleine Madiha Al'Sarma? Ich bin da. Jeder Atemzug erinnerte sie daran. Größe war nicht wichtig. Sie besaß Mächte, um andere an Dingen zu hindern. Sie besaß enorme Macht! Wichtig würde sein, wie sie diese einsetzte, aber sie könnte etwas unternehmen. Sie war nicht länger das dürre Sklavenmädchen. Ihr Feuer hatte ihr stets einen trotzigen Überlebenswillen geschenkt und diesen musste sie nun nicht einmal mehr in sich heraufbeschwören, um sich daran zu klammern. Nein, er stand ihr stets zur Seite und hielt ihre Hand. Alles, was sie tun musste, war, ihn zu umarmen, um sich seiner Kräfte - ihrer Kräfte! - zu bedienen.
Dies zu erkennen, brauchte jedoch zu viel Zeit. Zeit, in der das Leben fortbestand und andere Lebewesen agierten. Das schwarze Ungeheuer, in dem sie Corax vermutete, griff den Drachen nicht an. Es hatte sie erhört. Es stürzte auf sie zu, umhüllte sie vollständig und nahm sie im Schwung mit, so dass beide sich mehrmals wie ein Ball überschlugen, der über den Sand der Wüste hüpfte. Dann endlich blieben sie liegen. Madiha auf dem Rücken und Corax über ihr. Ja, er war es. Er schaute sie aus seinen funkelnden Rubinen an. Er strahlte! Und er rief sie bei diesem ominösen Titel, den sie nur ihm gestattete.
"Corax!" Sie umschlangen einander, hielten einander. Madiha spürte die Wärme ihrer Magie auf der Seele, aber darüber legte sich von außen die Wärme des anderen Körpers wie ein neuer Schutzfilm. Er hatte Recht behalten. Es war alles gut. Endlich! Tränen sammelten sich in ihren Augen, so dass ihre Sicht ein wenig verschwamm, als sie wieder die Lider hob. Seine Rubine glitzerten dadurch nur noch mehr. "Du lebst ... du lebst noch! Ich dachte, wir dachten ... wir dachten, du wärst tot..." Sie lächelte und er lachte auf. Das Rubinrot wurde von allen anderen existierenden Farben überlagert. Unter seinen schwarzen Strähnen schimmerte es weiß und dann doch wieder so farbenfroh wie unterhalb seines Federgewandes, das ihn und Madiha bedeckte. Er trug das Glück so wie Madiha ihre Magie: im Innern, verborgen und sie holten es hervor, wann immer sie es brauchten. Die vernarbte, dunkle Hülle außen war nur ein schutz und Beweis für ein hartes Leben, aber weder Corax noch sie selbst hatten dadurch jemals ihr Glück verloren. Er beteuerte ihr gar, dieses Glück schützen zu wollen. Er würde sie für immer beschützen, er schwor es. Doch Madiha ließ sich von der Wiedersehensfreude dadurch nicht blenden.
"Nein, Corax, du musst mich nicht beschützen. Ich habe gesehen, wie deine Perle schwarz wurde. Und ich habe dich gerufen, damit ich DIR helfen kann. Du hast gesagt, die Perle würde dunkel werden, wenn dir etwas zugestoßen ist. Und ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass du verletzt bist oder sogar..."
Ihre Worte dämpften ein wenig das Glück. Das regenbogenfarbene Schillern schwand nicht, aber es legten sich einige Dutzend schwarzer Federn wieder darüber und nur jene, die von dem Geheimnis wussten, würden es finden. Corax lehnte sich zurück, damit Madiha sich aufsetzen konnte. Er musterte sie mit einer Mischung aus Schuld und Rührung, aber er lächelte noch immer leicht dabei. Wie schön er aussah, wenn er das tat. Nun war es an ihm, ihre nicht mehr ganz so langen Haare zurückzustreichen. "Ich will nicht lügen. Ich bin verletzt worden", seufzte er aus. "Der Angriff an sich hätte nicht einmal eine Trübung der Kugel bewirkt, aber ich habe nicht mit Gift gerechnet. Einer seltsamen Form von Gift. Das Wesen war befallen und ich kämpfte einige Tage um mein Überleben, das stimmt. Die Perle dürfte nicht mehr existieren, denn man erzählte mir, dass es in der ersten Nacht so aussah, als würde ich dem Hybridenvirus erliegen." Er senkte den Kopf, als wäre es seine Schuld, dass ein Gift ihn fast dahingerafft hätte. "Es ist wahr, ich stand an der Schwelle des Todes. Aber er hat mich nicht hereingebeten, genauso wie ich das Virus abschütteln konnte, ohne dass es mich veränderte."
"Du bist schon anders genug", grollte es über ihnen. Der Drache hatte sich genähert und musterte Corax mit geschlitzten Augen. Dann streckte er seine Pranke vor. Sie war so riesig, dass nur die äußerste Spitze seiner Kralle sich für die Geste überhaupt unter den Kopf des Elfen schieben konnte. Er hob ihn mit einer feinmotorischen Sanftheit an, die man ihm nicht zugetraut hätte. Dann betrachtete der Drache sie beide.
"Schon in Ordnung, er ist ein Freund. Mein Freund." Corax griff nach Madihas Händen. Sie brauchte sein Regenbogenglück nicht sehen. Sie fühlte es. Er streichelte mit den Daumen über ihre Handrücken. Madiha aber wandte sich immer noch dem Drachen zu. "Er tut dir nichts."
"Das hoffe ich", entgegnete der Geschuppte. "Denn er könnte es. Ihr beide könntet es." Damit ruhte sein goldgelber Blick sehr lange auf dem Mädchen, dem er einen Bruchteil seiner eigenen Macht geschenkt hatte. "Ihr solltet einander immer auf Augenhöhe ansehen. Ihr seid ebenbürtig ... und ich fliege nun, ehe ich euch fürchten muss." Ob es Scherz oder Ernst war, ließ sich nicht einschätzen. Bei einem Drachen war die Mimik nun einmal schwer zu lesen. Aber er verabschiedete sich und kurz wurde Madiha von einer Sehnsucht erfasst, die nicht die ihre war. Ihr Feuer verband sie eben noch mit der alten Macht, die dem Drachen jetzt innewohnte. Er wollte sich endlich um seine Bedürfnisse kümmern. Fliegen, jagen, fressen, ein Weibchen finden, ein Gelege gründen... Drache zu sein war leichter, aber nicht unbedingt besser. Denn Madiha spürte, dass es nun gut war. Außerdem spürte sie eine ganz sanfte Brise auf ihrer Haut, als der Geschuppte sich in die Lüfte schwang. Sie schaute an sich herab, bemerkte ihre Nacktheit. Dann huschte ihr Blick zu Corax, der sie nun auch mit anderen Augen musterte, ein wenig rot um die Wangen wurde und sofort höflich den Kopf beiseite drehte. "Ehm ... Lange Geschichte..."
Er nickte. Dann ließ er Madihas Hände los und griff hinter sich. Es knackte und Corax ächzte. Außerdem konnte Madiha Blut durch die Luft glitzern sehen, als er sich seinen Federumhang ausriss. Wie warm sich das darunter verborgene Glück anfühlte, als er ihr das Federkleid umlegte. Es raschelte und hüllte Madiha vollständig ein. Ihr Feuer erkundete es neugierig, denn von den Federn selbst ging ebenfalls eine Macht aus. Madiha spürte sie. Sie konnte sie endlich wahrnehmen, da ihre eigenen Kräfte dafür ausreichten. Es war ein zauberhaftes Gemisch aus Glück und Leid, aus Lachen und Schabernack, Streichen und flatterhafter Unbekümmertheit. Es waren die Stockmännchen - die verderbten Kobolde - sowie geheimnisvolle, kunterbunte Feen, die wie Kolibris durch ihren Geist wirbelten. Dann legte sich die Kraft, denn natürlich hatte Corax sie nicht an Madiha abgegeben. Sie trug nur seinen Federumhang. Er saß noch immer vor ihr und seine Kräfte ruhten in ihm.
"Caleb, Jakub und Kjetell'o werden sich so sehr freuen, dass du lebst, dass es dir gut geht ... Dir geht es doch gut?"
Ein Schatten huschte über seine Miene. Das Lädcheln schwand, wenn auch nur für einen Augenblick. Es wich einem Rascheln, als Schwärze aus jenen Wunden herauswuchs, wo Corax sich das Federkleid ausgerissen hatte. Sofort war auch er wieder in einen Umhang aus Gefieder gehüllt, wenngleich er nicht so lang und wuchtig wirkte wie jener, den er über Madihas Schultern geworfen hatte. Das Lächeln kehrte zurück. Corax schüttelte sacht den Kopf. "Ich kämpfe trotz allem mit Liebeskummer, aber es wird vergehen. Ich habe erfahren, wie wahre Liebe aussehen sollte. Meine eigene ... war eine Lüge. Zu einseitig, zu unausgeglichen, ich..." Dann brachen Tränen sich ihre Bahn und rannen über sein Gesicht. Corax legte seine Hände darüber, verbarg seinen Blick, beugte sich vor und weinte. Aber sein Leid währte nur kurz, ein knapper Ausbruch, den man haben durfte, wenn Liebeskummer die Quelle war. Er schluchzte noch ein, zwei Male, ehe er wieder zu Madiha aufschaute. "Darf ich bei dir bleiben, kleine Herrin? Ich habe nur noch dich und ich möchte das nicht verlieren. Dich nicht und Kjetell'o und Caleb und ... und Jakub nicht. Es ist schwer, Glück in Einsamkeit aufzubauen. Bitte, weise mich nicht ab, kleine Herrin." Er war drauf und dran, sich vor ihr niederzubeugen, so wie sie es selbst oft genug bei Khasib und anderen getan hatte. Doch dann ging eine Veränderung mit ihm vor sich. Eine, auf die Madiha wohl schon lange gehofft hatte. Eine, die vielleicht auch die Worte des Drachen ausgelöst hatten. Corax verharrte, richtete sich wieder auf. Sein Gesicht war noch tränenfeucht, aber die Züge glatte, als hätte er soeben inneren Frieden gefunden. Er musterte Madiha. Er begann zu lächeln. Dann nickte er - entschieden. "Ich bleibe bei dir. Bei euch. Ich freue mich auch, die anderen wiederzusehen. Vor allem, weil wir ihnen das hier zeigen müssen." Er deutete auf sie. "Ich kann es riechen, atmen, spüren wie deine Wärme meine Haut kitzelt. Du ... bist eine Göttin der Feuermagie geworden. Was kannst du damit alles machen? Zeigst du es mir? Ich möchte es sehen!"