Kannte man es nicht noch aus Kindertagen vom Kampf um ein Spielzeug? Kinder ignorierten Spielsachen, die sie nicht interessierten, aber sobald ein anderer kleiner Nachtelf danach griff, wurde die Puppe, der Bauklotz oder die geschnitzte Höhlenspinne plötzlich wertvoll. Dann wollte das Kind sie für sich haben und unter keinen Umständen stand Teilen zur Debatte.
War Sarin zu einem Spielzeug geworden? So wie sie aktuell begehrt und umworben wurde, schien es tatsächlich der Fall zu sein. Selbst Lariel zeigte auf unglaublich unbeholfene Art sein Interesse. Oder kam es Sarin nur so vor und die Männerwelt hatte schon immer Interesse an ihr gehabt, während sie die Avancen ignorierte? Wollte sie zum Spielball werden?
Bei Lariel wäre das nicht der Fall. Er hatte sie stets zuvorkommend und freundlich behandelt. Er würde sie nicht an seiner Seiten haben wollen, um aus ihr eine Vorzeigetrophäe zu machen wie es bei Fürst von Blutsdorn der Fall zu sein schien. Aber das wollte Sarin noch herausfinden, vielleicht konnte die Stadtherrin ihr ja helfen. Wenn nicht ... wie sähe ihr Schicksal aus? An welchen Fäden würde sie ziehen, während andere versuchten, sie einzuwickeln? Dhansair wollte sich ebenfalls in keinen Kokon der Ehe spinnen lassen. Möglicherweise ergab sich hier eine Lösung, bei der Sarin unabhängig und frei bleiben könnte, ohne dass es Konsequenzen für das Reich der Nachtelfen hätte. Ohne, dass sie einem Mann würde ein Kind ohne Liebe gebären müssen, das nicht einmal in ihrer Obhut aufwachsen dürfte. Eine Möglichkeit, die trotz ihrer Verlobung mit dem Blutsdorner Erbprinzen eine Zukunft mit einem anderen offenhielt. Vielleicht mit Lariel.
Sarin ertappte sich dabei, dass sich in ihrem Geist die Sehnsucht nach einer wilden Flucht entwickelte. Durchbrennen mit einem Mann, dessen Herz für sie schlug wie sie es aus nachtelfischen Liebesgeschichten kannte. Dieser Mann war meist nicht angesehen in der Gesellschaft: ein Strauchdieb, ein Verbrecher oder Fassadenkletterer. Ein Spion, der in Ungnade gefallen war. Gedanklich maß Sarin Lariel eine solche Rolle zu, einfach weil er aktuell hier war und so freundlich. So verlegen! Es war nicht abzustreiten, dass er etwas für sie empfand. Sie erinnerte sich doch gewiss noch an das Strahlen in seinen Augen, als er mit einem Abendessen zu zweit gerechnet hatte. Er empfand Zuneigung für sie, aber er hatte nie seine Chance genutzt und nun war es zu spät. Vielleicht wäre einiges anders gelaufen, wenn Sarin die Signale erkannt hätte. Vielleicht...
Sie musste aufhören, so zu denken. All die Grübelei führte zu nichts. Es war zu spät. Sie war dem morgerianischen Prinzen versprochen. Und sie beiden wollten dieses Schicksal nicht haben. Oder etwa doch? Sarin hatte sich schließlich schon damit abgefunden, nein, vorbereitet! Sie war bereit, neue Fäden in einer neuen Welt zu spinnen, selbst wenn die Wahrscheinlichkeit der Versklavung bestand. Vielleicht konnte sie die Ehe doch eingehen, aber in einem Gespräch mit Dhansair und Iryan sicherstellen, dass sie nicht als Trophäe, Lustsklavin, Gebärmaschine für Dunkelelfen oder Schlimmeres enden würde. Dhansair hatte beim Tanzball Eindruck hinterlassen. Nicht nur, weil er ein guter Tänzer war, sondern er hatte sich ihr gegenüber als höflich, freundlich und sogar seiner Leibwache gegenüber etwas spielerisch gezeigt. Schon damals hatte sie Anzeichen dafür gesehen, dass der Prinz und sein Wächter ein engeres Verhältnis als Dienstherr und Diener besaßen.
Wenn Sarin es ruhig durchdachte, standen ihr nach wie vor mehr Türen offen als die Zukunft ihr weismachen wollte. Leider hing an keiner dieser Türen Lariels Namensschild. Er wusste das. Sarin konnte es in der Nuance unglücklicher Sehnsucht sehen, die Lariels Blick ein wenig überschattete und die Kräuseln in seinen Mundwinkeln schmälerte. Er vermisste sie jetzt schon, setzte sich aber nicht damit auseinander, sie ziehen lassen zu müssen. Stattdessen genoss er die Zeit, die ihnen noch blieb.
Beide mussten nichts von Belang sprechen, solange Sarin ihm nur gewährte, neben ihr herzugehen. Lariel brachte sie zum Palast zurück, denn sie hatten denselben Weg. Sie schlenderten, ließen sich Zeit und obwohl es für die Schneiderin heißen würde, dass sie weniger Schlaf bekäme, fühlte es sich richtig an. Aber irgendwann war auch auf dem längsten Weg der letzte Schritt getan.
Sie erreichen Mentáras Palast. Lariel verließ sie nicht sofort. Er führte sie die dunklen Korridore mit blinder Kenntnis und sicheren Schrittes entlang, bis sie vor der Tür ihrer Schneiderstube standen. Nun war es Zeit, aber er ging noch nicht. Er sah Sarin im Zwielicht einer einzigen Kerze in einer nahen Wandhalterung aber auch nicht an. Stattdessen starrte der Nachtelf auf seine Hände, die er nervös knetete.
Schließlich erhob sich seine Stimme zu einem leisen Raunen. Es reichte aus, den gesamten Gang zu erfüllen, der in der späten Nacht so still da lag. "Da die Zeit knapp wird und Ihr sicher beschäftigt sein werdet, nehme ich an, es könnte der letzte Moment sein, an dem wir uns sehen, werte Sarin Kasani. Deshalb ..." Er atmete durch, straffte seine Schultern dabei. Lariel nahm allen Mut zusammen. Es gelang ihm, zu ihr zu schauen und ihren Blick zu finden. "Ich weiß, dass es angesichts der gesamten Situation mehr als vermessen ist. Es ist unvernünftig. Es ist falsch. Aber es ließe mich den Rest meines Lebens nicht mehr schlafen, wenn ich Euch nun diese Frage nicht stellen würde. Bitte verzeiht mir meine unangemessenen Worte um meines Seelenheils Willen. Würdet ... würdet Ihr mich küssen?"
Manthala entzog ihr jeden Zugang ins Reich der Träume und doch ... war das hier nicht gerade einer? Ein Traum?