Wie viel Zeit war eigentlich seit ihrer unfreiwilligen Verlobung vergangen? Tag null, ihrer Zeitrechnung, war der Abend des Balls.War es wirklich erst Tag zwei? Das fragte sich Sarin nach einer viel zu kurzen Schlafphase blinzelnd und seufzte tief und lang. Dann zuckte sie mit den Schultern und setzte sich auf. Kein Stöhnen oder Jammern nahm ihr die Arbeit ab, die auf sie wartete und natürlich hielt auch dieser Morgen eine unschöne Überraschung für sie bereit, wenn gleich sie zwar nicht ganz unerwartet, sie aber doch wie ein herabfallender Stalaktit ins Herz traf.
Neben all den großen und kleinen Arbeiten hatte ihr Onkel Jafar es doch noch geschafft, sie erneut zu verletzten und ihr ihre Habseligkeiten in sehr endgültiger Form quasi vor die Tür gestellt. Sie fühlte sich wie ein ausgesetzter Hund dem man sein Halsband und sein Körbchen noch hinterher warf, als sie die Kutsche sah. Und so erstaunlich es war, es war somit Jafars Handeln, dass sie zu der Entscheidung trieb, Méntara von dem Zettelchen zu berichten.
Hatte sie noch nach dem Aufwachen kurz das kleine Gefühl von Handlungsfähigkeit und die Illusion genossen, selbst entscheiden zu können, vielleicht selbst erst einmal in die Schenke zu gehen, um heraus zu finden, wer der Urheber war und was er genau wollte, so hatte ihr Onkel sie wieder auf den Boden der Tatsachen gebracht. Sie war keine ausgebildete Spionin, auch wenn sie kurz darüber nachgedacht hatte, vielleicht mit ihren Gehilfen zusammen und damit nicht allein, abends in die Schenke zu gehen und ihren Abschied gebührend zu feiern. Das waren aber vorerst nur Ideen gewesen. Jafar hatte ihr noch einmal sehr deutlich gezeigt, dass sie hier nicht mehr erwünscht war und damit zog sich dann ihr Herz vollständig von ihm und dem kläglichen Rest ihrer Familie zurück. Ihr Inneres glich einem Scherbenhaufen, als sie die Möbel und Erinnerungen an ihre Kindheit verstaute. Es war als liefe sie über gläserne Splitter und wer sie gut kannte, der ahnte vielleicht auch ohne Worte, wie sie sich fühlte. In so wenigen Tagen seine Heimat, seine Wurzeln, ja sein ganzes Leben hinter sich zu lassen, das war nicht einfach. Sarin stand vor ihrem Schminktisch, strich über das Holz, dass einst auch ihrer Mutter berührt hatte und musste Abschied nehmen. Das war also das Ende ihrer Familie.
Vater hätte sich für Jafar geschämt...
, schoss ihr durch den Kopf, aber sie verwarf den Gedanken gleich wieder. Es brachte nichts irgendjemand Vorwürfe zu machen.
Es stellte sich nur noch eine Frage:
Wem also gilt meine Loyalität?
Und da war die Antwort einfach. Wenn es keine Familie mehr gab, um die sie sich hätte Gedanken machen brauchen, dann war es ihr Volk, ihr Land und ihre Herrin. Und diese musste wissen, was vor sich ging, zumal sie gerade dabei war einen Vertrag für Sarin und den Prinzen aufzusetzen. Hier waren Mächte am Werk, Kräfte, die dem entgegen wirken wollten und sei es selbst der Prinz höchstpersönlich. In dem mehr oder weniger unterbewussten Leid, dass sie beim Verlust ihrer Wurzeln empfand, so lenkte nun die Furcht ihr Handeln. Eine diffuse Angst, dass sie heimatlos war, entwurzelt und verstoßen sein würde, wenn etwas schief ging. Sarin war keine große Abenteurerin, die sich bisher nach fernen Ländern gesehnt hatte. Sie war eine Schneiderin, die ihr Handwerk liebte und ja ab und an gern mal etwas von der Welt gesehen hätte um dann ihre Kunden mit Geschichten bei Laune halten zu können. Doch nun war sie plötzlich selbst ein Teil dieses Abenteuers und jeden Tag wurde es realer. Sie brauchte Hilfe um auf diesem Weg nicht zu stolpern, zu fallen und Méntara war die Frau in ihrem Leben, die ihr eine Rückkehr im Notfall ermöglichen könnte. Denn wo sollte sie sonst hin wenn Morgeria sie nicht empfing? Wo sollte eine Nachtelfe leben, wenn nicht im Untergrund? Für einen Moment sah Sarin eine Zukunft in zwei vollständig unterschiedlichen Schattierungen:
Die eine war rosig und glamourös. Sie kehrte Jahre später als hohe Dame des Morgerianischen Hofs ab und an hier her zurück um ihr Erstgeborenes zu besuchen, wob die Verbindungen zwischen den Reichen und war mit Méntara fast so etwas wie befreundet, aber die andere war weit weniger rosig. In der andern kehrte sie geschlagen und verjagt, allein und einsam schon nach wenigen Monden zurück und nur durch ihre Loyalität wurde sie wieder aufgenommen. Diese beiden Varianten spukten ihr durch den Kopf, auch wenn es sicher noch viele mehr gab, so sah Sarin sie bisher nicht. Und so verging ein arbeitsreicher Vormittag mit dem Verstauen von ihren Habseligkeiten. Verschenken konnte sie vieles immernoch, wenn sie sicher war, sie nicht mehr zu brauchen. Wenn alles gut lief, würde sie per Nachricht die Sachen weiter verteilen können, wenn nicht, nun dann würde sie sie als Startkapital benötigen um wieder auf die Beine zu kommen. Einiges war durchaus von Wert. Die Möglichkeit, dass ihr Prinz, ihr Verlobter noch weitere Wege ihres Schicksals eröffnen könnte, daran dachte sie zu dieser Zeit nicht und es gab auch viel zu viel zu tun. Sie erbat per Briefbote bei Méntara die Erlaubnis ihr Stofflager vorerst um weitere Dinge, wie ihre persönlichen Habseligkeiten erweitern zu dürfen, bat um einen späteren Gesprächstermin, sofern sie Zeit erübrigen könnte und räumte dann mit Lariel alles fertig ein. Ein paar der Mädchen halfen vielleicht auch und so war gen Mittag alles verstaut.
Erst als sie wieder über ihrem zweiten Brautkleid saß und an den Details feilte, da kamen so langsam erneut Zweifel auf. Sie strich mit den Fingern über die Zeichnung. Wie eine Rosenrüstung kam es ihr vor und die Ranken, Runen und Muster verbanden sie mit den Gedanken an ihre Zukunft.
...Wenn der Fluch des Brautkleids sich erneut erfüllen soll...
Die Worte hatten sie im Traum begleitet.
Will ich das denn? … Was will ICH eigentlich?
Sarin wusste es gerade nicht so genau. Sie war verkauft, verstoßen und wurde an einen Mann gebunden, den sie nicht kannte. Eigentlich nichts was es nicht schon hundert mal auf der Welt gegeben hatte. Viele Frauen vor ihr hatten ein ähnliches Schicksal geteilt und das beste draus gemacht. Ihre Gedanken glitten zu dem Tanz zurück, zu seinen Augen, seinem Lächeln, seinen Armen und soooo schlimm war das alles nun doch nun wirklich nicht gewesen.
Dhansiar...
Sein Name brachte in ihr bisher zum klingen, geschweige denn Erinnerungen hervor um wirklich entscheiden zu können, ob sie ihn heiraten WOLLTE oder nicht. Aber er war freundlich und erstaunlich ehrlich zu ihr gewesen. Könnte er in diesem Spiel vielleicht kein Geliebter, aber ein …
… ein Verbündeter?
sein? Sollte sie vielleicht heute Abend doch in die Taverne gehen? Irgendwie erwartete sie, dass er den Zettel hinterlassen hatte. Der Faden wurde gerade immer dünner, den sie da spann. Sie hatte um ein Gespräch mit der Stadtherrin gebeten, aber das war ganz normal. Sie hatte noch tausend Fragen und ob sie nun den Zettel erwähnte oder nicht, dass konnte sie auch in der Situation entscheiden. Aber was war mit Dhansiar? Er steckte in der gleichen Situation wie sie.
Na ja, nur fast.
, gestand sie sich ein. Sollte sie ihm deswegen vielleicht einen Vertrauensvorschuss geben? ER könnte sich jederzeit jemand anderes suchen. Fühlte er sich überhaupt zu diesem Bund ihrer Heimatländer verpflichtetet, oder war es nur ein Spiel für ihn? Würde er einen Krieg riskieren nur um seiner Freiheit willen? Sarin begann zu merken, dass sie wirklich noch mehr Informationen brauchte. Das alles wurde zu einem Balanceakt ihrer Loyalität Méntara gegenüber, denn sowie sich fragte, was sie ihr überhaupt zu berichten hatte, das fühlte sie nur den Zettel über ihrem Herzen. Es waren wenig Worte, aber man konnte viel daraus schließen und die Stadtherrin war definitiv bewanderter in der Kunst der Intrige und Diplomatie. SIE könnte gewiss Sarin einen Rat geben, was am besten zu tun sei. Sollte sie allein zu dem Treffen gehen? Sich womöglich von Neidern überfallen und hinterrücks ermorden lassen? Nachtelfen galten als hervorragende Assassinen. Oder doch lieber in einer Gruppe erst mal nachsehen, wer das überhaupt etwas von ihr wollte – auch wenn sie es ja ahnte. Es gab so viele Variablen und Sarin fürchtete sich wirklich, das falsche zu tun. Sie war gut in der Kunst der Informationsbeschaffung, wenn Kunden während der Anproben über ihre Träume und Wünsche bei ihr sinnierten, aber sie hatte dies alles noch nie für sich selbst angewendet. So viele Jahre hatte sie vor sich hin gelebt und nun?
Sollte sie wie ein junges Ding ohne Plan zu Méntara laufen, sich von ihr sagen lassen, was sie genau zu tun hatte? Das passte nicht so Recht zu ihren 88 Jahren. Allerdings war es auch oftmals klug, wenn man sich Hilfe an Stellen holte, die mit Wissen und Erfahrung aufbieten konnten.
Noch immer fragte sich Sarin, warum die Herrin der Nachtelfen ausgerechnet SIE gewählt hatte. Sarin stellte sich vor den Spiegel in ihrer Schneiderei und versuchte sich mit Mentáras Augen zu betrachten. Ihr Äußeres ignorierte sie dabei bewusst und überlegte, was für Fähigkeiten sie sonst noch mitbrachte und als aller erstes fiel ihr dabei tatsächlich auf, dass sie durchaus anpassungsfähiger war, als die meisten Frauen bei Hof. Viele lebten in ihren gleichförmigen Bahnen, bestanden auf ihre Rechte und den Stand, auf ihre Ehre, selbst auf die kleinsten Annehmlichkeiten, die sie eben alle als selbstverständlich voraus setzten, als hätten sie eben diese Rechte geerbt und könnten sie nie verlieren.
Sarin wusste es besser.
Man konnte alles verlieren und sie hatte gelernt, trotzdem dabei zu lächeln. Sie hatte die Fähigkeit sich schwierigen Umständen anzupassen hart erlernt. Umgeben von sich die kleinsten Dinge neidenden Elfen, hatte sie ihren Platz gefunden. Sie konnte einen Schritt zurück gehen um das ganze Bild zu betrachten, während andere immer nur voran preschten.
Und noch etwas konnte sie gut.
Zuhören.
Allein das Wissen was sie über all die Jahre über ihre Kunden gesammelt hatte, könnte den ein oder anderen stürzen oder in den Hochadel erheben. Nutze sie es? Nein. Aber nun... Nun musste sie diese Fähigkeiten nutzen! Für SICH!
„Habt ihr mich deshalb ausgewählt, meine Herrin?“
, fragte sie den Spiegel leise flüsternd und lächelte mal freundlich, mal unterwürfig, mal arrogant, keck und versuchte sich sogar in verführerisch, was ihr nicht so recht gelingen wollte. Aber das brauchte sie auch nicht. Niemand erwartete von ihr die Rolle der Fame fatal. Ja, sie wusste um das Spiel der Eitelkeiten. Sich zuzwinkernd sah sie sich an. Jedes Wesen hatte ein Ziel und wenn man um Motive wusste, konnte man die Fäden so legen, dass das Netz entweder trittsicher war, oder so löchrig, dass man hindurch fallen konnte. Nur...
Will ich diese Fliege selbst fangen? Oder will ich das Netz weiter spinnen und die Fäden einer anderen Spinne durch mich wirken lassen? Ist das vielleicht ein Test?
Letzter Gedanke war ihr erst jetzt gerade gekommen.
Nicht zu viel interpretieren!
, ermahnte sie sich.
Fakten sammeln.
Sie stand mit in die Hüften gestemmten Händen vor der glatt polierten Fläche und grinste sich frech an. Dann bemerkte Sarin, dass sie tatsächlich ein paar Minuten „getrödelt“ hatte und machte sich wieder an die Arbeit. Das Schnittmuster war fast fertig, jetzt mussten die Stoffe zugeschnitten und umsäumt werden. Vielleicht kam bald der Kontakt von Meister Londro? Oder Méntara ließ sie zu sich rufen? Den frühen Nachmittag hatte sie genug zu tun. Am Abend würde sie so oder so gewiss eine Verabredung haben. Und vielleicht war es sogar gut, wenn sie in Begleitung ihrer langjährigen Gehilfen zur Dunkelschenke ging. Zum einen war es sicherer, zum anderen könnte sie sogar den Zeitpunkt, wann sie dort sein würde verlauten lassen und die Zielperson müsste nicht so lange auf sie warten. Ein paar private Worte konnte man immer in diesem Laden wechseln. Genug Möglichkeiten und dunkle Ecken gab es.
Also wartete Sarin auf die nächste Nachricht, den nächsten Boten, der ihr Tagwerk unterbrechen solle und machte derweil einen Brief für Meister Londro fertig.
| **Mein Freund und Meister Londro.
Ich würde euer Angebot mir in diesen Tagen zu helfen tatsächlich gern in Anspruch nehmen, da Zeit nun etwas geworden ist, an dem es mit ständig zu mangeln scheint. Ich vertraue dabei vollkommen auf euer Wissen um meine Maße und Vorlieben, sowie um eure Kunst Kleidungsstücke für die Oberwelt zu schneidern. Vielleicht wäre dies auch eine gute Übung für euren neuen Lehrling. Er macht einen guten und fleißigen Eindruck. Bitte gebt mir Bescheid, ob und in welchem Maße ich mich durch euch entlastet fühlen darf.
Für immer euch zu tiefst dankbar
Sarin.** | |
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Kurz hatte sie überlegt, ob sie einfach ihren alten Meister auf einen guten Wein für heute Abend mit einladen sollte, doch durch seinen angeknacksten Fuß war dies unmöglich. Doch das Treffen mit dem Kontaktmann von Meister Londro sehnte sie trotzt einer etwaigen Entlastung dringlich herbei, denn was man nicht selbst lernte, dass konnte man dann im Ernstfall auch nicht anwenden. Sarin musste lernen, worauf es auf der Oberfläche ankam, wie sie sich am besten schützen konnte und ob es Gefahren gab, die sie von hier aus ihrer Perspektive einfach nicht sehen konnte. Dieser Schirm-Mantel, gleich einem Pilzhut, den sie mal bei ihrem Meister gesehen hatte, war der wirklich notwendig? Reichten nicht Schleier und Kapuzen? Was trugen Nachtelfen am Tage um ihre Augen zu schützen? War die Sonne wirklich so hell? Würde sie sich vielleicht mit der Zeit an einiges gewöhnen? Und vor allem, falls sie doch plötzlich da oben ganz allein da stehen sollte musste sie eine gute Ausrüstung haben um wenigstens überleben zu können.
Und wenn Méntara sie zu sich rief, dann würde auch sie mit Fragen überschüttet werden, wie z.B. wie weit der Vertrag schon war, ob sie ihn schon lesen durfte um sich auf ihre Rolle darin besser vorbereiten zu können. Wieso sollte ihr Erstgeborenes hier her zurück kommen, bzw. was war das Motiv der Stadtherrin dahinter? Sofern sie dies überhaupt sich zu fragen wagte. Das kam auf die Situation an. Welche Pflichten würden ihr auferlegt werden und berücksichtigte man auch ihre sonnen empfindliche Konstitution darin? Gesellschaftliche Anlässe unter freiem Himmel bedürften ggf. gewisser Anpassungen und dem Verständnis ihres Gatten, wenn sie dann nicht daran teil nahm, oder sich eben entsprechend verhüllen musste. Wurden ihr auch Rechte eingeräumt als zukünftige Herrin im Hause Blutdorn? Wie würde ihr Alltag aussehen? Und um so mehr Sarin sich mit diesen Gedankenspielereien beschäftigte um so mehr schwirrte ihr der Schädel.
Konzentriere dich auf die Fakten!
, ermahnte sie sich abermals und nutzte ihre Kreativität um sie in produktivere Bahnen zu lenken. Das neue Hochzeitskleid nahm schnell erste Gestalt an.