Keiner der beiden Männer fragte, wohin Azura sie führte. Sie alle kannten den Weg. Die Andunierin, weil sie in dem großen Haus aufgewachsen war. Der Dunkelelf, weil er sie daraus entführt hatte. Der Shyáner, weil ... nein. Kannte Kjetell'o denn das Anwesen derer van Ikari? Er hatte Azura gezeugt, lange bevor Aquila und Alycide einander hatten finden können. Lange, bevor der Kaufmann seine neue Liebe und deren Spross in sein Heim und somit ein besseres Leben geholt hatte. Aber Kjetell'o wusste vom Verschwinden eben jenes Mannes und dass die Dunkelelfen ihn entführt hatten. Und er hatte versucht, Kontakt zu seiner Tochter aufzunehmen. Er musste sich informiert haben. Sie alle kannten folglich den Weg zum großen Anwesen des andunischen Adelsgeschlechts derer van Ikari.
Es lag nicht mehr ganz so entsetzlich da, wie Azura es verlassen hatte. Natürlich bräuchte es Gärtner und einige Handwerker. Das Gelände war groß und es würde seine Zeit dauern, die Schäden zu beseitigen. Bereits, als sie an der Grundstücksmauer mit dem Eisengitter vorbei gingen, um das sich gern einmal Rankengewächse tummelten, erkannte Azura, dass noch nicht alles wieder instand gesetzt worden war. An einer Stelle waren die schwarzen Stangen verborgen, weil ein Baum von Seiten des Gartens umgestürzt war. An anderer Stelle hatte jemand das Mauerwerk zertrümmert. Büsche und Unkraut wuchsen über die Stelle hinweg, als wollte die Natur selbst einen vorwitzigen Einbrecher nun an seinem Vorhaben hindern. Aber Azura war Tochter des Haushalts. Sie hatte keinen Grund, unerlaubt und durch einen nicht gewollten Eingang in das Anwesen zu gelangen. Sie nahm den Weg durch das große, eiserne Doppeltor. Es stand offen. Das war nicht ungewöhnlich. Ihr Ziehvater pflegte, viele Handelspartner und Gäste auch zu Hause zu empfangen und hatte irgendwann entschieden, dass er an einem Pförtner sparen konnte, wenn er das Tor einfach offen ließ.
Der weiße Kiesweg leitete die Ankömmlinge bis an das große, nahezu verspielte Gebäude heran. Das Anwesen sah besser aus. Die Fensterläden, die beim Überfall der dunklen Armee teilweise noch aus den Angeln gerissen worden waren, schienen repariert worden zu sein. Gleiches galt für das Geländer der Eingangsterrasse und auch für die Haustür. Jemand hatte ein Schild dort aufgehängt: "Unerwünschte unwillkommen", stand in celcianischen Lettern darauf, damit auch niemand die Ausrede zur Hand hätte, die Sprache nicht zu kennen. Lediglich Ungebildete, die des Lesens nicht mächtig wären, könnte man entschuldigen. Aber solche trieben sich ohnehin nicht in diesem Teil der Stadt herum - zumindest nicht vor der Eroberung durch das dunkle Volk. Doch Azura konnte keine Obdachlosen, keine Bettler und Halsabschneider auf dem Grundstück erkennen. In der Ferne sah sie die kleine, weiße Gartenlaube. Irgendwo hinter dem Haus mussten die Vogelkäfige für ihre Falken zu finden sein. Ob sich jemand um die Tiere gekümmert hatte oder waren sie inzwischen verendet? Dieser Gedanke konnte durchaus für einen Schrecken sorgen. Dafür beruhigte das Bild von Licht hinter den Fenstern des Hauses. Jemand wohnte hier und hatte sich sogar die Zeit genommen, bei einigen Räumen die Vorhänge aufzuziehen, damit graues Tageslicht ins Innere gelangen könnte. Hoffnung gaben auch die Pflanzkästen an den Fenstern der Terrasse. Jemand hatte Geranien angepflanzt und sie blühten bereits. Der Geruch machte viele gern benommen, aber der Anblick war stets angenehm. Vor der Tür lag eine Fußmatte bereit. Corax klopfte darauf den Schlamm von seinen Stiefeln. Es gab reichlich davon. Überhaupt machte ihre Kleidung inzwischen bei keinem von ihnen mehr einen sehenswerten Eindruck. Azuras natürliche Schönheit musste genügen.
Als sie die Terrasse und somit auch die Türschwelle erreichten, konnte die Andunierin ihren Zauber endlich fallen lassen. Er hatte sie reichlich ausgelaugt. Ein zweites Mal, beispielsweise für einen Rückweg, würde es ihr nicht gelingen. Sie müsste sich vorher ausruhen und vor allem etwas aufwärmen. Ein heißer Tee wäre jetzt genau das richtige. Stattdessen stand Azura nun die Konfrontation mit ihrer Mutter bevor. Corax, der neben ihr stand, schaute sie fragend an. Dann aber setzte er das Unausgesprochene in die Tat um. Jetzt gab es kein Zurück mehr und er wollte Azura offensichtlich auch keine Möglichkeit mehr dafür geben. Er klopfte an.
Kjetell'o war es, der Abstand hielt und sich halb hinter eine beim Fuß der Treppe gepflanzten Zypresse verbarg. Doch sowohl er als auch Corax und Azura mussten warten, bis sich überhaupt etwas im Inneren des Hauses tat. Man sah das Wandern des Lichts deutlich, denn noch immer war der Himmel grau und das Tageslicht eher matt. Der Schein einer Kerze wanderte vom ersten Stock an einigen Fenstern vorbei, verschwand dann gänzlich, nur um im Erdgeschoss wieder aufzutauchen. Er näherte sich den Fenstern zu beiden Seiten der Haustür und fand schließlich Ruhe. Jemand schien seine Lichtquelle irgendwo abgestellt zu haben. Dann öffnete sich die Tür einen Spalt. Der geradezu feurig kampfbereite Blick einer nobel gekleideten Adligen mit Azuras Locken, aber deutlich mehr Falten hinter dem Gesichtspuder musterte Corax zuerst.
"Wagt es Euch nicht, Elf, auch nur einen Fuß in mein Haus zu machen. Ihr habt mir bereits meinen Mann genommen. Alles andere lasse ich mir nicht-" Sie verfiel in Schweigen. Keinen Herzschlag später wurde die Tür weiter aufgezogen, so dass der volle Blick auf Aquila von Ikari frei wurde. In der rechten Hand und halb hinter dem Rücken verborgen hielt sie eine schwarze Eisenpfanne. Sie passte nicht zum Gesamtbild der gut gekleideten Frau. Trotz aller Umstände hatte sie sich zurechtgemacht. Das Haar war nobel hochgesteckt. Ein Diadem zierte es. In den Ohren glitzerten passende Steine und um den Hals trug sie eine Perlenkette, die Azura schon als Kind wunderschön gefunden hatte. Alycide hatte sie ihrer Mutter geschenkt, ebenso wie das Kleid, das sie heute am Leibe trug. Es war in einem noblen Bordeauxrot gehalten mit schwarzen Applikationen und Spitze am Rocksaum, sowie den Enden der weiten Trompetenärmel. Nur auf die zugehörigen Spitzenhandschuhe hatte die Edle van Ikari verzichtet. Sonst wäre ihr nur die Pfanne entglitten, die sie bereit gewesen wäre, Corax über den Schädel zu ziehen. Jetzt ließ sie diese mit einem lauten Geräusch zu Boden fallen. Sie riss beide Hände empor, vor ihren Mund und darüber quollen dicke Tränen aus ihren Augen, ruinierten sofort die aufgetragene Schminke. Es kümmerte Aquila nicht. "Mein Kind!", keuchte sie und stürzte sich auf Azura, um sie ganz undamenhaft in die Arme zu ziehen, eng an sich zu drücken und zu halten. Sie weinte offen, sie hielt Azura fest und wollte sie nicht loslassen. Immer wieder glitten ihre Hände dabei über den Körper der Tochter, um sie spüren zu können und zu wissen, dass sie nicht träumte. Schließlich löste sich die Mutter, starrte der Tochter ins Gesicht. "Ich dachte, ich hätte dich verloren. Wo kommst du nur her? Wo ist-? Hat ... hat ein Waldelf dich hierher gebracht?" Ihr Blick huschte kurz über Corax, dann zurück zu Azura und schließlich trat Kjetell'o von hinten in ihr Sichtfeld. Sofort engten sich ihre Augen etwas. Sie nahm Haltung an, musterte den Shyáner und richtete ihr Kleid. Dann aber legte sie geradezu beschützerisch einen Arm um Azura.
Kjetell'o aber blieb so ruhig wie die Andunierin ihren Erzeuger kannte. Was ihr fremd war, war die Härte in seinen Zügen. "Ich habe sie gefunden", begann Kjetell'o. Seine Stimme klang kühl und distanziert. "Sie wünscht keinen langfristigen Kontakt. Damit ist meine Frage geklärt, unsere Abmachung hinfällig. Ich werde jetzt gehen."
Er wollte sich abwenden. Corax' Brauen glitten in die Höhe, aber ehe er reagieren konnte, war es Aquila, die den Waldelfen mit einem Ruf aufhielt. "Und mein Mann? Was wird aus Alycide? Du vermaledeiter Lügner, du hast-"
"Ich arbeite noch daran und werde diesen Teil einhalten", schnitt Kjetell'o ihr ungewohnt scharf das Wort ab. Noch einmal blickte er über die Schulter zurück. Seine goldgefleckten Wälder brannten beinahe, so sehr loderte es in seinem Blick. "Auch wenn ich meinen Lohn vorab erhal-" Das Feuer schwand. Kjetell'os Kraft schwand. Er kippte einfach zur Seite und auf den Kiesweg, wo er bewusstlos liegenblieb. Er und Azura mussten wirklich verwandt sein.