Schicksals Domäne
Verfasst: Dienstag 16. April 2024, 22:39
(Kazel kommt von: Das Anwesen der Familie Belyal Sinth)
Vermutlich hatten sie alle nicht geahnt, in was sie hier hineingeraten würden. Sowohl Arbeiter, als auch die Wachen standen ihnen nun als Gegner gegenüber. Es herrschte ein klares Missverhältnis und wenn ihnen nicht irgendetwas einfiel, würden sie eine Niederlage erleben. Und was dann mit ihnen geschehen würde… darüber wollte keiner von ihnen nachdenken.
Kazel spürte die Anspannung in seinem ganzen Körper, wie ein elektrisches Kribbeln, das sich unter seiner Haut ausbreitete. Er ballte die Hände zu Fäusten und versuchte die Übersicht zu behalten. Einige Schweißtropfen benetzten seine Stirn, von denen einer seine Schläfe hinabrann. Im Augenwinkel sah er eine Bewegung und erkannte für Bramo die drohende Gefahr. Einer der Soldaten war imstande Feuermagie anzuwenden und zielte mit einem Feuerstoß auf den Andunier. Es war keine Frage von Zeit, sein Körper reagierte einfach! Kazels gutes Herz hatte erneut eine Entscheidung getroffen. Er wollte nicht, dass seine Kameraden verletzt, oder gar getötet wurden. Genauso, wie er für die gefangenen und grausam missbrauchten Frauen eine Schicksalswende hatte herbeiführen wollen. Nicht noch einmal… diese Ringe mussten endgültig zerschlagen werden!
Seine Füße stießen sich in einem Spurt vom Boden ab, dessen Schwung er nutzen wollte, um Bramo aus der Reichweite des Angriffs zu stoßen – da geschah es! Kazel spürte ein kitzelndes Gefühl, ähnlich dem, wenn man mit einem Drachen oder Pegasus einen Sturzflug vollführen würde. Für ihn wurde plötzlich um sich herum alles langsamer, als würde dem Lauf der Zeit die Kraft entzogen werden und in seinem Kopf hörte er Tods Stimme:
Schicksal! Ich sagte, misch dich nicht ein! Die sonst so ruhige, fast monotone Stimme seines Meisters klang für seine Verhältnisse geradezu aufgebracht! Doch bevor sich der junge Mischlingself darüber wundern, oder gar Gedanken machen konnte, hallte in seinem Kopf eine weitere – neue Stimme, einem Echo gleich wider:
Es ist an der Zeit! Die weibliche Stimme klang gereift, erhaben und rigoros. Doch vor seinen Augen sah er keine Gestalt, die zu eben dieser passen wollte. Alles, was er sah, war Nells bunter Ring, der, ähnlich einer schimmernden Seifenblase, alles um sich eingeschlossen hatte. In der Mitte stand Nell – zumindest waren es Nells Körperkonturen, doch gefüllt war ihre Gestalt von chaotisch, buntem Licht, das für die Augen schwer zu betrachten war. An ihrer Seite stand die Goblinoma Kuralla, die dagegen immer mehr an Farbe verlor. Es war das reinste, bunte Chaos und lud keineswegs zum Beruhigen ein. Doch es lag nicht an Kazel etwas dagegen zu unternehmen. Er spürte den altbekannten Sog, das unangenehme Kribbeln, das ihm häufig auf den Magen schlug und im nächsten Moment stand er in einem tageslichtgefüllten Raum aus… Nichts!
Es gab weder Wände, Decke, noch Boden. Das Einzige, was eine räumliche Orientierung bot, war der Blick zu seinen Füßen, wo die Struktur des Untergrunds, wenn man es überhaupt so nennen konnte, der von weiß-puderndem Marmor glich, durch den sanftes Licht glomm. Doch trotz allem wirkte es so, als würde er in diesem Raum schweben.
Um ihn herum herrschte eine Weite aus Licht, die weder Anfang, noch Ende zu kennen schien. Und doch konnte er nahe sich eine Gestalt ausmachen. Bei Kazel stand eine hochgewachsene, alte Frau, die jedoch keinen Moment Gebrechlichkeit ausstrahlte. Klare, blaue Augen, heller als die seinen, blickten ihm wach und scharfsinnig aus dem gereiften Gesicht entgegen, das von grauweiß, schulterlang gelockten Haaren umrahmt wurde. Spitze Ohren waren erkennbar, an denen schwere, silberne und aus hunderten hauchdünngewebten Drähten zu bestehende Kreolen hingen. Ein nachtblauer Umhang ruhte auf ihren geraden Schultern und verdeckte bodentief ihre Gestalt. Das Besondere an ihm waren, die abertausenden von haardünnen Lichtfäden, die sich wie fließendes Wasser aus über den dunklen Stoff zogen.
Durch den Spalt, den die Öffnung des Umhangs bildete, konnte man auch die weitere Kleidung erkennen: ein ebenso blaues und enganliegendes Gewand mit silberweißen Verzierungen an den Rändern betonte die schlanke Figur. Wer auch immer diese Frau war, sie strahlte Erhabenheit aus.
„Du hast deine Sache bisher überraschend gut gemacht – Kazel Tenebrée!“ Es war dieselbe Stimme, die er zuvor in seinen Gedanken gehört hatte, nur hallte sie nicht mehr wie zuvor aus verschiedenen Richtungen und Entfernungen durch seinen Kopf.
Die Frau machte ein paar Schritte auf ihn zu und blieb dann vor ihm stehen. Ihr blauer Blick wanderte musternd von seinem Kopf bis zu den Fuß, bis er zurückkehrte, um dem Seinen zu begegnen. In ihre Augen trat ein kleiner Funken Wohlwollen.
„Es ist das erste Mal, dass wir uns auf diese Weise begegnen. Ich bin Schicksal und auch ich war es, die dich zu sich holte – Geselle von Tod!“ Die Bewegung ihrer Augen tastete einmal über das lichtgefüllte Nichts, indem sie sich befanden. Eilig schien sie es nicht zu haben – doch würde Kazel ahnen können, dass er sich in einem Raum befand, indem die Zeit stillstand.
„Bevor du fragst – deine Freundin hat ihr Schicksal erfüllt! Zusammen mit Kuralla konnte sie das Leid der Frauen beenden und sie erhielten eine neue Chance von Leben! Deinem anderen Begleiter geht es ebenfalls gut. Die Schwestern Amandin und Serunda Belyal Sinth wurden jedoch von Tod geholt!“ Als würde dieser durch seine Erwähnung gerufen werden, breitete sich plötzlich ein kalter Hauch um sie herum aus. Dieser war für Kazel nicht mehr unangenehm. Im Gegenteil – in der Präsenz seines Meisters fand er mittlerweile Ruhe!
Wie aus dem Nichts erschien plötzlich die, von einem dunklen Mantel, umhüllte knochige Gestalt Tods. Seinem Knochengesicht war nie eine Miene abzulesen, doch kannte der junge Elf den Seelenfarmer gut genug, um zu bemerken, dass er nicht wie sonst, die Ruhe selbst war. Die glimmenden Funken in den Augenhöhlen waren auf die Frau gerichtet, deren Miene wiederum einen strengen und leicht trotzigen Zug annahm.
„Er ist mein Geselle Schicksal! Ich weiß…“, begann er, doch war es ihm nicht möglich den Satz zu beenden. „Du weißt also?“, unterbrach sie ihn mit einem provokativen Tonfall, der annehmen ließ, dass sie dieses Wissen anzweifelte.
„Du weißt, was ich meine! Die Zeit ist noch nicht…“ – „Sie ist gekommen! Und es ist meine Aufgabe das zu beurteilen, nicht deine! Liest du die Fäden, oder ich?“ Wieder wurde er von der erhabenen Dame unterbrochen. Schicksal sah verärgert aus, was man an ihren leicht zusammengezogenen Augenbrauen erkannte, wodurch ihr Blick noch strenger wirkte. Tod schwieg daraufhin, doch sein Schädel neigte sich leicht und ein kaum merkliches Schütteln wurde von einem tonlosen Seufzen begleitet.
Kazel verstand vermutlich nicht, was vor sich ging. Der junge Mann war aus einem bedrohlichen Chaos gezogen worden und sah sich nun zwei Ewigkeiten gegenüber, die offen einen Disput austrugen, bei dem es ganz offenbar um ihn ging. Was hatte er nur getan?
„Ich werde deutlich sein! Anders, als du es in der Regel bist!“, begann sie, nicht ohne eine kleine Stichelei gegenüber dem letzten Begleiter allen Lebens. Sie wandte sich wieder Kazel zu und sah ihn unumwunden in die Augen
„Kazel, verschiedene Verstrickungen der Lebensfäden führten dazu, dass Tod dich zu seinem Lehrling machte. Doch mit dieser Wahl veränderte er dein Schicksal! Nun muss sich zeigen, ob es wirklich das deine ist und bleiben wird! Du musst den nächsten Schritt gehen und diesen eigenständig wählen!“ Ein schabendes Geräusch war seitens des Kuttentragenden zu hören, als er seine Zähne aufeinander mahlte. Offenbar schmeckte es ihm nicht, dass sich Schicksal in seine und die Belange von Kazel einmischte, doch wusste er offenbar, dass ihre Worte einen Zweck verfolgten und nicht aus rein zänkischer Absicht gesprochen wurden.
„Tod mag von dir überzeugt sein und ich muss zugeben, dass du bislang gute Arbeit geleistet hast, allerdings hängt mehr daran, als die reine Wahl unsererseits. Die Seelen selbst sind es, die während ihres Lebens durch Entscheidungen und Begegnungen ihr Schicksal herbeiführen. In deinem Fall traf Tod sie für dich und ich fordere dich nun auf diese Entscheidung, die nicht die deine war, zu prüfen! Nur so kann sie die deine werden und dadurch zu deinem Schicksal der Geselle Tods zu sein!“ Die strenge Miene Schicksals lockerte sich ein wenig auf und das Wohlwollen kehrte zurück in ihre blauen Augen.
„Missverstehe mich nicht. Ich war anfangs skeptisch, doch mittlerweile trage auch in die Hoffnung in mir, dass Tod mit dir die richtige Wahl traf. Es ist allerdings auch meine Aufgabe die Ordnung und das Gleichgewicht der Welt zu bewahren, deshalb muss ich auf diesen Weg bestehen!“
Tod hatte bisher still zugehört und legte Kazel nun eine Hand auf die Schulter. Es wirkte mittlerweile so, als würde er ein Einsehen haben. Schicksal schien dem jungen Mann, den er an seine Seite zum Lernen holte, nicht abgeneigt zu sein und das schien den Gevatter zu beruhigen.
„Du bist eigentlich ein Wesen des Diesseits, Kazel, doch dadurch, dass ich dich zu meinem Gesellen machte, wurdest du vorrangig eines der Ewigkeit. In fast vergessenen Sagen der Sterblichen nennt man euch auch Weltenspringer. Aber ich bezweifle, dass du jemals von diesem Ausdruck gehört hast. Es gibt nicht viele von euch und das wird auch so bleiben!“ Die alte Dame nickte leicht und wirkte zunehmend versöhnlicher. Schicksal war offenbar doch nicht so launisch, wie es anfangs gewirkt hatte. Sie schien viel mehr pflicht- und verantwortungsbewusst.
„Ich bezweifle, dass Tod dir die Tragweite deiner Rolle ausreichend erklärt hat. Und ich kann sein Zögern sogar nachvollziehen. Einen passenden Lehrling für unsere Seite finden wir selbst innerhalb von tausend Jahren selten!“ Sie machte eine kurze Pause und schien Kazels Miene lesen zu wollen. Sie besaß einen Blick, bei dem man meinen konnte, dass sie alles sah – und vielleicht war dem auch so!
„Was du begreifen sollst ist, dass die Ewigkeit, die du akzeptieren musst, mehr Pflichten als Annehmlichkeiten mit sich bringt. Dadurch, dass du beide Seiten betrittst, muss von dir eine Grenze gewahrt werden. Wenn du zu sehr am irdischen Leben hängst, wird der Preis große Einsamkeit sein! Das kann nicht nur deine Seele gefährden, sondern auch die Strukturen Celcias aus dem Gleichgewicht bringen und damit das Schicksal allen Lebens bedrohen. Denn Tod und sein Gehilfe müssen verlässlich sein! Ihr steht am Ende, verwaltet die Zeit, die das Leben den Seelen geschenkt hat. Persönliche Empfindungen dürfen bei euch keine Einmischung verursachen!“
Es war viel! Obwohl Schicksal deutlich sein wollte, waren die Informationen, die auf Kazel einbrachen eine Masse und noch immer war nicht alles gesagt! Was war es, dass er tun musste? Wenn er denn der Geselle bleiben wollte! Hatte er sich jemals gefragt, ob er auf diesem Weg gehen wollte? Es war einfach alles so gekommen, wie es gekommen war und der Mischling hatte sich in sein Schicksal gefügt. Nun schien Schicksal höchstpersönlich von ihm zu fordern, dass er sein Schicksal in die Hand nahm! Selbst entschied, doch… für was, oder wogegen?
„Es gibt noch viel zu lernen und zu begreifen, um zu verstehen, was es wirklich bedeutet der Geselle von Tod zu sein. Dieser sagte dir, dass du dein irdisches Leben leben sollst, doch in diesem Punkt widersprechen sowohl Leben, als auch ich ihm. Deine Pflichten und Aufträge von Tod werden sich häufen, junger Mann - gleichzeitig werden dich deine Bande aus dem irdischen Leben und deine Gefühle für die Sterblichen beeinflussen und fesseln. Du musst eine Distanz wahren, zu der du derzeit nicht fähig bist und wenn alles bleibt, wie es jetzt ist, wirst du es niemals lernen!“ Der Sensenmann schien das nicht gerne zu hören, doch er wiedersprach auch nicht. Er richtete seinen Blick auf Kazel, der hier in eine völlig unerwartete Situation geschleudert worden war.
Schicksal atmete ruhig ein und aus und setzte dann offenbar zum finalen Teil dieser ganzen Erklärung an.
„Wenn du den Weg des Gesellen fortführen möchtest, musst du das Opfer bringen deine Erinnerungen an dein bisheriges Leben freiwillig abzulegen, denn du musst dafür vollkommen wertfrei und unbeeinflusst sein! Du wirst wissen, wer und wie alt du bist, woher du kommst und was für Fähigkeiten du besitzt. Du wirst dich daran erinnern Geselle von Tod zu sein! Du wirst im Leben zurechtkommen und dich auch an fast alles von diesem Moment zurückerinnern können. Allerdings wirst du dich an keine Personen und mit ihnen gemachten Erlebnisse erinnern! All deine Bindungen wirst du vergessen, denn es sind eben diese, die deine Entscheidungen beeinflussen. Du wirst deinen moralischen Kompass, den du bisher gebildet hast weiter in dir tragen, doch ohne Erinnerungen, werden sie für dich neu formbar werden. So wirst du deine Rolle, deine Aufgaben und das Leben neu kennenlernen und so unverfälscht deine endgültige Entscheidung treffen können. Solltest du herausfinden, dass dies nicht das Schicksal ist, das du für dich wählen willst, erhältst du deine Erinnerungen zurück und wirst in dein irdisches Leben zurückkehren.“
Die Luft in diesem Raum aus Nichts schien plötzlich spürbar dick zu werden und still zu stehen. Kazel wurde hier und jetzt vor die Wahl seines Lebens gestellt, die sein bisheriges Leben vollkommen spalten würde. Das, was bisher nebeneinander existierte, schien nun nicht länger miteinander zu vereinbaren zu sein. Die Informationsflut, die Emotionen, die all diese Neuigkeiten in ihm aufwirbelten mussten überwältigend sein – schockierend! Konnte er überhaupt nachempfinden, wieso?
„Vor diese Wahl muss ich dich stellen, denn Tods Geselle wird die Verantwortung für alle endenden Leben mittragen und darf sich nicht von persönlichen und irdischen Bedürfnissen lenken lassen. Seine Pflichten gelten der Ewigkeit – nicht nur dem des eigenen endlichen Lebens!“, sprach Schicksal und auch Tod gab mit etwas belegter Stimme zu bedenken: „Wähle, indem du auf dein Herz hörst und in deinem Verstand nach der Antwort suchst. Es muss deine freie Entscheidung sein. Vielleicht hilft es, wenn du das alles als Chance siehst, das Schicksal – das Leben zu finden, das wirklich das deine und für dich bestimmt ist!“
Tod wirkte selbst befangen, denn er wusste, was seinem Schüler gerade zugemutet wurde. Doch er wusste auch, dass er ihn davor nicht bewahren konnte. Zu lange hatte er die unangenehmen Pflichten und Regeln hinausgezögert. Zu lange hatte er Schicksal herausgefordert, indem er das Unabwendbare hinausgezögert hatte. Für Kazel, doch vielleicht war es nun wirklich gut Klarheit zu schaffen. Leben, Tod und Schicksal waren nicht einzelnen Leben verpflichtet – sie waren allen verpflichtet und mussten dafür sorgen, dass das Gleichgewicht bewahrt bleibt!
Dennoch war es viel und das wussten wohl alle beide! Schicksals Blick wurde einfühlsamer und sie neigte mit einem kleinen Lächeln den Kopf.
„Tod hat recht. Es ist eine Chance und die Fäden, die du zerschneidest sind dadurch noch nicht verloren! Wenn du dich dafür entscheidest wirst du von Tod und mir ins Diesseits geschickt. Dort wirst du, wie bereits gesagt, das Leben vom Standpunkt des Gesellen aus neu kennenlernen. Gleichzeitig werden wir dir mehr und mit der Zeit anspruchsvollere Aufträge geben. Damit du, besonders am Anfang nicht vollkommen ohne Orientierung bist, werde ich dir jemanden zur Seite stellen, der dich unterstützt.“
Nun war es an Kazel! Was würde er tun? Würde er überhaupt schon eine Entscheidung treffen können, oder wurde ihm gerade alles zu viel und er verlor die Luft zum Atmen? All seine Erinnerungen aufzugeben war kein Opfer, das man leichtfertig und einfach treffen konnte! Doch würde er vielleicht verstehen, dass seine Position etwas Besonderes war und dieses mit der Ehre auch ein Privileg darstellte, das Pflichten und Entbehrungen mit sich bringen musste…
Sowohl Tod, als auch Schicksal schienen Kazel als würdig anzusehen. Doch war das Trost? Was es das alles wert? In dem knochigen Schädel des Gevatters war keine Miene abzulesen. Und doch könnte man meinen, dass in den Lichtern, die wie zwei kleine Seelen in den Augenhöhlen schimmerten, das Gefühl von Bangen zu finden war.
Vermutlich hatten sie alle nicht geahnt, in was sie hier hineingeraten würden. Sowohl Arbeiter, als auch die Wachen standen ihnen nun als Gegner gegenüber. Es herrschte ein klares Missverhältnis und wenn ihnen nicht irgendetwas einfiel, würden sie eine Niederlage erleben. Und was dann mit ihnen geschehen würde… darüber wollte keiner von ihnen nachdenken.
Kazel spürte die Anspannung in seinem ganzen Körper, wie ein elektrisches Kribbeln, das sich unter seiner Haut ausbreitete. Er ballte die Hände zu Fäusten und versuchte die Übersicht zu behalten. Einige Schweißtropfen benetzten seine Stirn, von denen einer seine Schläfe hinabrann. Im Augenwinkel sah er eine Bewegung und erkannte für Bramo die drohende Gefahr. Einer der Soldaten war imstande Feuermagie anzuwenden und zielte mit einem Feuerstoß auf den Andunier. Es war keine Frage von Zeit, sein Körper reagierte einfach! Kazels gutes Herz hatte erneut eine Entscheidung getroffen. Er wollte nicht, dass seine Kameraden verletzt, oder gar getötet wurden. Genauso, wie er für die gefangenen und grausam missbrauchten Frauen eine Schicksalswende hatte herbeiführen wollen. Nicht noch einmal… diese Ringe mussten endgültig zerschlagen werden!
Seine Füße stießen sich in einem Spurt vom Boden ab, dessen Schwung er nutzen wollte, um Bramo aus der Reichweite des Angriffs zu stoßen – da geschah es! Kazel spürte ein kitzelndes Gefühl, ähnlich dem, wenn man mit einem Drachen oder Pegasus einen Sturzflug vollführen würde. Für ihn wurde plötzlich um sich herum alles langsamer, als würde dem Lauf der Zeit die Kraft entzogen werden und in seinem Kopf hörte er Tods Stimme:
Schicksal! Ich sagte, misch dich nicht ein! Die sonst so ruhige, fast monotone Stimme seines Meisters klang für seine Verhältnisse geradezu aufgebracht! Doch bevor sich der junge Mischlingself darüber wundern, oder gar Gedanken machen konnte, hallte in seinem Kopf eine weitere – neue Stimme, einem Echo gleich wider:
Es ist an der Zeit! Die weibliche Stimme klang gereift, erhaben und rigoros. Doch vor seinen Augen sah er keine Gestalt, die zu eben dieser passen wollte. Alles, was er sah, war Nells bunter Ring, der, ähnlich einer schimmernden Seifenblase, alles um sich eingeschlossen hatte. In der Mitte stand Nell – zumindest waren es Nells Körperkonturen, doch gefüllt war ihre Gestalt von chaotisch, buntem Licht, das für die Augen schwer zu betrachten war. An ihrer Seite stand die Goblinoma Kuralla, die dagegen immer mehr an Farbe verlor. Es war das reinste, bunte Chaos und lud keineswegs zum Beruhigen ein. Doch es lag nicht an Kazel etwas dagegen zu unternehmen. Er spürte den altbekannten Sog, das unangenehme Kribbeln, das ihm häufig auf den Magen schlug und im nächsten Moment stand er in einem tageslichtgefüllten Raum aus… Nichts!
Es gab weder Wände, Decke, noch Boden. Das Einzige, was eine räumliche Orientierung bot, war der Blick zu seinen Füßen, wo die Struktur des Untergrunds, wenn man es überhaupt so nennen konnte, der von weiß-puderndem Marmor glich, durch den sanftes Licht glomm. Doch trotz allem wirkte es so, als würde er in diesem Raum schweben.
Um ihn herum herrschte eine Weite aus Licht, die weder Anfang, noch Ende zu kennen schien. Und doch konnte er nahe sich eine Gestalt ausmachen. Bei Kazel stand eine hochgewachsene, alte Frau, die jedoch keinen Moment Gebrechlichkeit ausstrahlte. Klare, blaue Augen, heller als die seinen, blickten ihm wach und scharfsinnig aus dem gereiften Gesicht entgegen, das von grauweiß, schulterlang gelockten Haaren umrahmt wurde. Spitze Ohren waren erkennbar, an denen schwere, silberne und aus hunderten hauchdünngewebten Drähten zu bestehende Kreolen hingen. Ein nachtblauer Umhang ruhte auf ihren geraden Schultern und verdeckte bodentief ihre Gestalt. Das Besondere an ihm waren, die abertausenden von haardünnen Lichtfäden, die sich wie fließendes Wasser aus über den dunklen Stoff zogen.
Durch den Spalt, den die Öffnung des Umhangs bildete, konnte man auch die weitere Kleidung erkennen: ein ebenso blaues und enganliegendes Gewand mit silberweißen Verzierungen an den Rändern betonte die schlanke Figur. Wer auch immer diese Frau war, sie strahlte Erhabenheit aus.
„Du hast deine Sache bisher überraschend gut gemacht – Kazel Tenebrée!“ Es war dieselbe Stimme, die er zuvor in seinen Gedanken gehört hatte, nur hallte sie nicht mehr wie zuvor aus verschiedenen Richtungen und Entfernungen durch seinen Kopf.
Die Frau machte ein paar Schritte auf ihn zu und blieb dann vor ihm stehen. Ihr blauer Blick wanderte musternd von seinem Kopf bis zu den Fuß, bis er zurückkehrte, um dem Seinen zu begegnen. In ihre Augen trat ein kleiner Funken Wohlwollen.
„Es ist das erste Mal, dass wir uns auf diese Weise begegnen. Ich bin Schicksal und auch ich war es, die dich zu sich holte – Geselle von Tod!“ Die Bewegung ihrer Augen tastete einmal über das lichtgefüllte Nichts, indem sie sich befanden. Eilig schien sie es nicht zu haben – doch würde Kazel ahnen können, dass er sich in einem Raum befand, indem die Zeit stillstand.
„Bevor du fragst – deine Freundin hat ihr Schicksal erfüllt! Zusammen mit Kuralla konnte sie das Leid der Frauen beenden und sie erhielten eine neue Chance von Leben! Deinem anderen Begleiter geht es ebenfalls gut. Die Schwestern Amandin und Serunda Belyal Sinth wurden jedoch von Tod geholt!“ Als würde dieser durch seine Erwähnung gerufen werden, breitete sich plötzlich ein kalter Hauch um sie herum aus. Dieser war für Kazel nicht mehr unangenehm. Im Gegenteil – in der Präsenz seines Meisters fand er mittlerweile Ruhe!
Wie aus dem Nichts erschien plötzlich die, von einem dunklen Mantel, umhüllte knochige Gestalt Tods. Seinem Knochengesicht war nie eine Miene abzulesen, doch kannte der junge Elf den Seelenfarmer gut genug, um zu bemerken, dass er nicht wie sonst, die Ruhe selbst war. Die glimmenden Funken in den Augenhöhlen waren auf die Frau gerichtet, deren Miene wiederum einen strengen und leicht trotzigen Zug annahm.
„Er ist mein Geselle Schicksal! Ich weiß…“, begann er, doch war es ihm nicht möglich den Satz zu beenden. „Du weißt also?“, unterbrach sie ihn mit einem provokativen Tonfall, der annehmen ließ, dass sie dieses Wissen anzweifelte.
„Du weißt, was ich meine! Die Zeit ist noch nicht…“ – „Sie ist gekommen! Und es ist meine Aufgabe das zu beurteilen, nicht deine! Liest du die Fäden, oder ich?“ Wieder wurde er von der erhabenen Dame unterbrochen. Schicksal sah verärgert aus, was man an ihren leicht zusammengezogenen Augenbrauen erkannte, wodurch ihr Blick noch strenger wirkte. Tod schwieg daraufhin, doch sein Schädel neigte sich leicht und ein kaum merkliches Schütteln wurde von einem tonlosen Seufzen begleitet.
Kazel verstand vermutlich nicht, was vor sich ging. Der junge Mann war aus einem bedrohlichen Chaos gezogen worden und sah sich nun zwei Ewigkeiten gegenüber, die offen einen Disput austrugen, bei dem es ganz offenbar um ihn ging. Was hatte er nur getan?
„Ich werde deutlich sein! Anders, als du es in der Regel bist!“, begann sie, nicht ohne eine kleine Stichelei gegenüber dem letzten Begleiter allen Lebens. Sie wandte sich wieder Kazel zu und sah ihn unumwunden in die Augen
„Kazel, verschiedene Verstrickungen der Lebensfäden führten dazu, dass Tod dich zu seinem Lehrling machte. Doch mit dieser Wahl veränderte er dein Schicksal! Nun muss sich zeigen, ob es wirklich das deine ist und bleiben wird! Du musst den nächsten Schritt gehen und diesen eigenständig wählen!“ Ein schabendes Geräusch war seitens des Kuttentragenden zu hören, als er seine Zähne aufeinander mahlte. Offenbar schmeckte es ihm nicht, dass sich Schicksal in seine und die Belange von Kazel einmischte, doch wusste er offenbar, dass ihre Worte einen Zweck verfolgten und nicht aus rein zänkischer Absicht gesprochen wurden.
„Tod mag von dir überzeugt sein und ich muss zugeben, dass du bislang gute Arbeit geleistet hast, allerdings hängt mehr daran, als die reine Wahl unsererseits. Die Seelen selbst sind es, die während ihres Lebens durch Entscheidungen und Begegnungen ihr Schicksal herbeiführen. In deinem Fall traf Tod sie für dich und ich fordere dich nun auf diese Entscheidung, die nicht die deine war, zu prüfen! Nur so kann sie die deine werden und dadurch zu deinem Schicksal der Geselle Tods zu sein!“ Die strenge Miene Schicksals lockerte sich ein wenig auf und das Wohlwollen kehrte zurück in ihre blauen Augen.
„Missverstehe mich nicht. Ich war anfangs skeptisch, doch mittlerweile trage auch in die Hoffnung in mir, dass Tod mit dir die richtige Wahl traf. Es ist allerdings auch meine Aufgabe die Ordnung und das Gleichgewicht der Welt zu bewahren, deshalb muss ich auf diesen Weg bestehen!“
Tod hatte bisher still zugehört und legte Kazel nun eine Hand auf die Schulter. Es wirkte mittlerweile so, als würde er ein Einsehen haben. Schicksal schien dem jungen Mann, den er an seine Seite zum Lernen holte, nicht abgeneigt zu sein und das schien den Gevatter zu beruhigen.
„Du bist eigentlich ein Wesen des Diesseits, Kazel, doch dadurch, dass ich dich zu meinem Gesellen machte, wurdest du vorrangig eines der Ewigkeit. In fast vergessenen Sagen der Sterblichen nennt man euch auch Weltenspringer. Aber ich bezweifle, dass du jemals von diesem Ausdruck gehört hast. Es gibt nicht viele von euch und das wird auch so bleiben!“ Die alte Dame nickte leicht und wirkte zunehmend versöhnlicher. Schicksal war offenbar doch nicht so launisch, wie es anfangs gewirkt hatte. Sie schien viel mehr pflicht- und verantwortungsbewusst.
„Ich bezweifle, dass Tod dir die Tragweite deiner Rolle ausreichend erklärt hat. Und ich kann sein Zögern sogar nachvollziehen. Einen passenden Lehrling für unsere Seite finden wir selbst innerhalb von tausend Jahren selten!“ Sie machte eine kurze Pause und schien Kazels Miene lesen zu wollen. Sie besaß einen Blick, bei dem man meinen konnte, dass sie alles sah – und vielleicht war dem auch so!
„Was du begreifen sollst ist, dass die Ewigkeit, die du akzeptieren musst, mehr Pflichten als Annehmlichkeiten mit sich bringt. Dadurch, dass du beide Seiten betrittst, muss von dir eine Grenze gewahrt werden. Wenn du zu sehr am irdischen Leben hängst, wird der Preis große Einsamkeit sein! Das kann nicht nur deine Seele gefährden, sondern auch die Strukturen Celcias aus dem Gleichgewicht bringen und damit das Schicksal allen Lebens bedrohen. Denn Tod und sein Gehilfe müssen verlässlich sein! Ihr steht am Ende, verwaltet die Zeit, die das Leben den Seelen geschenkt hat. Persönliche Empfindungen dürfen bei euch keine Einmischung verursachen!“
Es war viel! Obwohl Schicksal deutlich sein wollte, waren die Informationen, die auf Kazel einbrachen eine Masse und noch immer war nicht alles gesagt! Was war es, dass er tun musste? Wenn er denn der Geselle bleiben wollte! Hatte er sich jemals gefragt, ob er auf diesem Weg gehen wollte? Es war einfach alles so gekommen, wie es gekommen war und der Mischling hatte sich in sein Schicksal gefügt. Nun schien Schicksal höchstpersönlich von ihm zu fordern, dass er sein Schicksal in die Hand nahm! Selbst entschied, doch… für was, oder wogegen?
„Es gibt noch viel zu lernen und zu begreifen, um zu verstehen, was es wirklich bedeutet der Geselle von Tod zu sein. Dieser sagte dir, dass du dein irdisches Leben leben sollst, doch in diesem Punkt widersprechen sowohl Leben, als auch ich ihm. Deine Pflichten und Aufträge von Tod werden sich häufen, junger Mann - gleichzeitig werden dich deine Bande aus dem irdischen Leben und deine Gefühle für die Sterblichen beeinflussen und fesseln. Du musst eine Distanz wahren, zu der du derzeit nicht fähig bist und wenn alles bleibt, wie es jetzt ist, wirst du es niemals lernen!“ Der Sensenmann schien das nicht gerne zu hören, doch er wiedersprach auch nicht. Er richtete seinen Blick auf Kazel, der hier in eine völlig unerwartete Situation geschleudert worden war.
Schicksal atmete ruhig ein und aus und setzte dann offenbar zum finalen Teil dieser ganzen Erklärung an.
„Wenn du den Weg des Gesellen fortführen möchtest, musst du das Opfer bringen deine Erinnerungen an dein bisheriges Leben freiwillig abzulegen, denn du musst dafür vollkommen wertfrei und unbeeinflusst sein! Du wirst wissen, wer und wie alt du bist, woher du kommst und was für Fähigkeiten du besitzt. Du wirst dich daran erinnern Geselle von Tod zu sein! Du wirst im Leben zurechtkommen und dich auch an fast alles von diesem Moment zurückerinnern können. Allerdings wirst du dich an keine Personen und mit ihnen gemachten Erlebnisse erinnern! All deine Bindungen wirst du vergessen, denn es sind eben diese, die deine Entscheidungen beeinflussen. Du wirst deinen moralischen Kompass, den du bisher gebildet hast weiter in dir tragen, doch ohne Erinnerungen, werden sie für dich neu formbar werden. So wirst du deine Rolle, deine Aufgaben und das Leben neu kennenlernen und so unverfälscht deine endgültige Entscheidung treffen können. Solltest du herausfinden, dass dies nicht das Schicksal ist, das du für dich wählen willst, erhältst du deine Erinnerungen zurück und wirst in dein irdisches Leben zurückkehren.“
Die Luft in diesem Raum aus Nichts schien plötzlich spürbar dick zu werden und still zu stehen. Kazel wurde hier und jetzt vor die Wahl seines Lebens gestellt, die sein bisheriges Leben vollkommen spalten würde. Das, was bisher nebeneinander existierte, schien nun nicht länger miteinander zu vereinbaren zu sein. Die Informationsflut, die Emotionen, die all diese Neuigkeiten in ihm aufwirbelten mussten überwältigend sein – schockierend! Konnte er überhaupt nachempfinden, wieso?
„Vor diese Wahl muss ich dich stellen, denn Tods Geselle wird die Verantwortung für alle endenden Leben mittragen und darf sich nicht von persönlichen und irdischen Bedürfnissen lenken lassen. Seine Pflichten gelten der Ewigkeit – nicht nur dem des eigenen endlichen Lebens!“, sprach Schicksal und auch Tod gab mit etwas belegter Stimme zu bedenken: „Wähle, indem du auf dein Herz hörst und in deinem Verstand nach der Antwort suchst. Es muss deine freie Entscheidung sein. Vielleicht hilft es, wenn du das alles als Chance siehst, das Schicksal – das Leben zu finden, das wirklich das deine und für dich bestimmt ist!“
Tod wirkte selbst befangen, denn er wusste, was seinem Schüler gerade zugemutet wurde. Doch er wusste auch, dass er ihn davor nicht bewahren konnte. Zu lange hatte er die unangenehmen Pflichten und Regeln hinausgezögert. Zu lange hatte er Schicksal herausgefordert, indem er das Unabwendbare hinausgezögert hatte. Für Kazel, doch vielleicht war es nun wirklich gut Klarheit zu schaffen. Leben, Tod und Schicksal waren nicht einzelnen Leben verpflichtet – sie waren allen verpflichtet und mussten dafür sorgen, dass das Gleichgewicht bewahrt bleibt!
Dennoch war es viel und das wussten wohl alle beide! Schicksals Blick wurde einfühlsamer und sie neigte mit einem kleinen Lächeln den Kopf.
„Tod hat recht. Es ist eine Chance und die Fäden, die du zerschneidest sind dadurch noch nicht verloren! Wenn du dich dafür entscheidest wirst du von Tod und mir ins Diesseits geschickt. Dort wirst du, wie bereits gesagt, das Leben vom Standpunkt des Gesellen aus neu kennenlernen. Gleichzeitig werden wir dir mehr und mit der Zeit anspruchsvollere Aufträge geben. Damit du, besonders am Anfang nicht vollkommen ohne Orientierung bist, werde ich dir jemanden zur Seite stellen, der dich unterstützt.“
Nun war es an Kazel! Was würde er tun? Würde er überhaupt schon eine Entscheidung treffen können, oder wurde ihm gerade alles zu viel und er verlor die Luft zum Atmen? All seine Erinnerungen aufzugeben war kein Opfer, das man leichtfertig und einfach treffen konnte! Doch würde er vielleicht verstehen, dass seine Position etwas Besonderes war und dieses mit der Ehre auch ein Privileg darstellte, das Pflichten und Entbehrungen mit sich bringen musste…
Sowohl Tod, als auch Schicksal schienen Kazel als würdig anzusehen. Doch war das Trost? Was es das alles wert? In dem knochigen Schädel des Gevatters war keine Miene abzulesen. Und doch könnte man meinen, dass in den Lichtern, die wie zwei kleine Seelen in den Augenhöhlen schimmerten, das Gefühl von Bangen zu finden war.