Cassandra hatte es mit Sicherheit gut gemeint, als sie den Hybriden vor den pattroulierenden Truppen der Besetzer gewarnt hatte. Doch was weder die kleine Pelgarerin, noch der geflügelte Bote wussten, war das die Hauptwache sich vor einigen Minuten in dieser Gasse befunden hatte und sich bereits wieder auf dem Weg zurück zur Kaserne befand. Und da der nächste Durchgang erst in einigen Stunden seine Runden drehen würde, hätte Uriel durchaus die besten Chancen gehabt, sich auf dem direkten Weg ins Reichenviertel zu begeben. Doch sicherlich war Vorsicht immer besser als Nachsicht und, abgesehen von einem recht großen Zeitverlust, schadete es dem Halbelfen auch nicht, sich durch die Seitengassen abseits der Aquäduktstraße zu schlagen. Immerhin war das alte Pergament, mit dem sich der Dunkelelf durch die Stadt hatte schlagen wollen, noch genau genug, dass sich Uriel zumindest immer wieder zurück zum eigentlichen Hochweg finden konnte.
Ansonsten war der Marsch des hybriden zwar lange, aber ansonsten ereignislos und eintönig. Die Stadt selbst zeigte sich von einer düsteren und tristen Seite. Kaum ein Mensch begegnete Uriel auf seiner Wanderschaft, von den freiwilligen, welche die Leichenkarren beluden einmal abgesehen. Viele der Häuser wiesen verbarrikadierte Fenster und oder Türen auf und Schutthaufen zeigten einem etwaigen Passanten, wo vor der Eroberung einmal Holzstände aufgebaut worden waren. Dabei stand das schlimmste eigentlich noch bevor. Noch mussten die Pelgarer den Schock überstehen. Erst danach würden sie verstehen, was sie wirklich alles verloren hatten. Dann würden die Straßen wieder voll sein – voller Bettler und Prostituierte.
Der Übergang zwischen dem Reichenviertel und der Unterstadt war deutlich zu erkennen. Hier hatten weniger Kämpfe stattgefunden, wohl vor allem weil sich die feinen Pinkel zu fein gewesen waren, selbst Hand an die Waffe zu legen. Und nun lebten hier die hochrangigen Mitglieder der Dunkelelfenarmee, zusammen mit dem reichen Adeligen, die sich Bestechungen leisten konnten. Als Uriel endlich die Aquäduktstraße verlassen musste, um sich einen anderen Weg an sein Ziel zu suchen, begann die Sonne langsam zu sinken und der Wind wehte kühl auf. Wie sich nach einigem Suchen herausstellte, lag das Anwesen, dass Uriel suchte, am Rande des Reichenviertels; nur leider auf der entgegengelegenen Seite.
So ging noch einmal eine gute Stunde rum und der rote Himmel färbte sich allmählich dunkelblau. Inzwischen war Uriel eine wirklich lange Zeit auf den Beinen, in denen er einiges mitgemacht hatte. Vom Absturz von der Klippe bis hin zum Kampf mit dem Kommandanten Marek und der Verletzung, die er infolge dessen mit sich getragen hatte. Ein verdammt langer tag war das inzwischen und im Grunde hatte der Hybrid bisher keine Gelegenheit gehabt, zu rasten oder etwas zu essen. Und so langsam machte sich das auch bemerkbar. Es wurde wirklich Zeit, dass Uriel Zeit zum Verschnaufen fand und sich eine Mahlzeit gönnte.
So bog der geflügelte Elf um die letzte Ecke, die ihm vor seinem Ziel trennte. Er musste jetzt nur noch bis fast zum Ende der Straße laufen und wäre endlich da. Die Schneerosenallee, so hieß diese Nebenstraße voller Prachtbauten, und die Adresse war Nummer 13. Welche Ironie. Aber die Anwesen, an denen Uriel vorbei lief, wirkten verwaist. Die Oberstadt hatte bisher keinen so verlassenen Eindruck gemacht, aber diese Straße erinnerte sehr stark an das Marktviertel, aus dem Uriel gekommen war. Nummer 11. Nummer 12. Nummer 13. Er war am Ende der Gasse angekommen. Das Gebäude vor ihm war folglich sein Ziel. Aber wenn es ein Gebäude im Reichenviertel gab, dass nicht mehr bewohnt war, dann musste es dieses sein: Die früher einmal zweistöckige Villa schien vollkommen ausgebrannt zu sein. Die obere Etage fehlte vollkommen und die Gebeine des Erdgeschosses erstreckte sich nur noch über drei Seiten. Der Halbelf konnte gradewegs auf die Rückwand sehen und auf den Schutt im Inneren.
„Wirklich eine Schande, nicht wahr?“ Eine recht angenehme und vollkommen akzentlose Stimme erklang in Uriels Rücken. Dann löste sich ein Schatten von der hohen Mauer hinter dem Rabenmann und trat an dessen Seite. Es handelte sich zweifelsfrei um einen Menschen, etwa 40 Jahre alt und mit schulterlangen, glatten, schwarzen Haaren und einem gleichfarbigen Spitzbart. Der Fremde trug einen schwarzen Dreispitz, auch seine restliche Kleidung war schwarz und mit goldenen Ziersäumen und knöpfen verschönert. An seinem breiten Nietengürtel hing eine weißgoldene Karnevalsmaske, die einem sehr schönen Gesicht nachempfunden worden war. Der Mann stütze sich auf einen schwarzen Gehstock, dessen Ende in einem Glasstein oder Diamanten endete. „Schneerosenallee 13,“ sagte der Fremde freundlich, als würde er mit einem alten bekannten plaudern, „früher einmal eines der Schönsten Gebäude der Stadt. Aber keiner will es wieder aufbauen, seit es vor gut 20 Jahren niedergebrannt ist. Und nun, wo die Stadt nicht mehr in unserer Hand ist ... wird es vielleicht nie wieder, was es einmal war.“
Der elegante Pelgarer, der sich selbst noch nicht vorgestellt hatte, wandte seinen Blick von den Grundmauern der Ruine ab und seinem schweigsamen Gesprächspartner zu. Seine eindringende, ruhige Stimme hatte eine sehr seltsame Wirkung. Er hörte sich einfach wie jemand an, dem man gerne vertraute. „Nun, mein geflügelter Freund, lass mich dir eine Frage stellen. Wer möchte den wahren Nachthimmel sehen?“
Das war nicht nur eine seltsame Frage, vielmehr klang es wie der erste Teil einer Parole. Vielleicht war dieser Edelmann, der schon so mysteriös an Uriel heran getreten war, mehr als man vermuten mochte?