Es war ein grauer Tag und der Wind peitschte die unruhige See auf der das aufgebrochene Packeis im Hafen von Mantron schwamm. Kjartan sah hinaus aufs Meer und die "Drachenschwinge" näherte sich dem Ufer. Der Hafen war sein zu Hause, deshalb war das Bild, was sich ihm bot, auch nicht fremd. Die zwei einzigen langen Stege, die hinaus in die Bucht führten, knirschten in der Kälte und wurden ständig von Arbeitern mit Spitzhacken frei gehalten, da sonst die schweren Schiffe aus dem Holz der Eiseichen sie nicht erreichen würden. Die „Drachenschwinge“ war ein Eissegler wie die „Drachenodem“. Ihr mächtiger Rumpf schob sich bei guter Fahrt weit auf das Packeis und brach es unter sich. Hier für war der Bug mit dem mächtigen Drachenkopf sogar mit einer starken kantigen Kufe aus Metall verstärkt worden, die bis tief unter den Rumpf verlief. Sie war eines der Schiffe die den Kanal zwischen der Insel und dem Festland frei zu halten hatte, genauso wie Kjartans Schiff auf dem er seit seinem 17ten Lebensjahr diente. Er kannte hier jedes Schiff beim Namen und jedes hatte seine Eigenheiten. Die „Drachenschwinge“ war das schnellste Schiff der Mantroner, welche vor der Insel Esra kreuzte. Die „Drachenkralle“, die vor Anker lag, hatte zwei Klauen am Bug und war schon häufig aus Kämpfen mit Piraten siegreich hervor gegangen, in dem sie sie damit rammte. Die „Drachenodem“ hatte am Kopf eine versteckte Balliste, oder auch „Skorpion“ genannt, mit der man eine brennende Harpune auf große Entfernung auf seinen Feind abschießen konnte. Es gab noch andere glorreiche Schiffe, die nach Körperteilen der sagenumwobenen Tiere benannt worden waren und in Form und künstlerischen Schnitzereien den Schiffen ihre Namen gaben. Doch diese drei lagen grade in Sicht des Mantroners, der sich auf seine nächste Fahrt freute. Allein ein Blick auf die langen Rümpfe, in die grausam anmutenden Fratzen der Drachen und in die gerafften Seegel, ließ jedes Seemannsherz höher schlagen. Jeder Mantroner wusste nur zu gut, dass das Holz aus dem diese Schiffe gebaut wurden, härter und widerstandsfähiger waren, als sonst irgend eine wankende Schale die auf den Meeren schaukelte. Und jeden Mann, der das Meer liebte, erfüllte ein solcher Anblick mit Stolz.
Kjartan eben solch ein Mann und auch wenn er seine Landgänge liebte, so zog es ihn schnell wieder in Venthas Arme. Die See war seine Liebe, auch wenn er weiblicher Gesellschaft sicher nicht abgeneigt war. Vor drei Tagen hatte er die Nacht in der Taverne verbracht, zu mindestens, in der Lagerhalle die gemeinhin als Taverne der Mantroner her halten musste. Alles was man an alkoholischen Getränken in der Stadt besaß lagerte bei Ulmgard Immerdurst in seinem Haus, das er „Venthas Hammer“ getauft hatte, was man so mit Fug und Recht als Taverne bezeichnen konnte und wenn man Glück hatte und er nicht alles selbst ausgetrunken hatte, so bekam man dort aus allen Ecken Celcias, das herrlichste Gesöff. Da seine Frau Tomke Streitbrecher mit herrischer Hand und hölzernem Kochlöffel für Ordnung unter den rauflustigen Mantroners sorgte, war ein Besuch bei dieser Familie auch immer ein Vergnügen. Reisende wurden dort immer herzlich aufgenommen. Kjartan hatte dort die ganze Nacht gezecht und die neusten Geschichten, Gerüchte und alles in sich aufgesaugt, was es neues in Mantron zu berichten gab. Noch immer schwirrten ihm, durch den Genuss eines besonders feinen Mets verschwommen, Bruchstücke von Informationen durch den Kopf. Es war vieles dabei gewesen, was ihn nur am Rande interessierte. Einer der erfolgreichsten Jäger hier, Ornos der Wilde, hatte einen besonders großen und hässlichen Eisbären erlegt, dessen Fell nach seiner Aussage nur noch zum Putzen für sein Weib dienen konnte. An dieser Geschichte war nichts besonderes, aber trotzdem war sie Kjartan im Kopf geblieben, da es sich die Jagd ursprünglich um einen Wettstreit handelte und sein Gegner noch nicht zurück gekehrt war. Das hielt Orok aber nicht davon ab mit seiner gewaltigen Beute Hof zu halten, auch wenn feinsinnige Ohren schon eine gewisse Sorge heraushören konnten. Die Geschichte, wie er den Bären ganz allein erlegte, erinnerte Kjartan an seine frühen Erfahrungen mit den Bären. Sich allein einem solchen Tier zu stellen, war eine glorreiche und mutige Tat. Außerdem war Ornos ein hervorragender Erzähler und schmückte seine Erlebnisse gern farbenfroh und blutig aus. Kjartan erinnerte sich noch an seinen letzten Ausruf, bevor der die Schenke verließ:
„HAHA, die Jagt hat mich ganz wild gemacht! Ich werd dann mal nach Hause zu meiner Frau gehen und mich von ihr zähmen lassen! Bleibt zu hoffen, sie hat die Fesseln noch nicht fortgeräumt! HAHAHhaha...“
Derbe Späße gehörten bei ihm zum guten Ton und gute Laune verbreitete sich schnell in seiner Umgebung. Trotzdem waren Kjartan die stillen Momente aufgefallen, in denen er von dem jungen, überfälligen Jäger erzählte. Vielleicht würde er sich an den Namen erinnern, wenn er ihn noch einmal hörte. Aber auch andere Neuigkeiten verbreiteten sich schnell bei Tomke und Ulmgard. Es gab Gute wie auch schlechte Nachrichten. Norna Wolfruf hatte wohl Probleme mit dem letzten Wurf ihrer Zucht. Es kursierten Gerüchte, dass sie sich bald auf die Suche nach frischem Blut machen würde, was bedeutete, dass sie für Wochen in den Wäldern verschwinden würde. Bei ihrem Ansehen und dem ständigen Bedarf an Wölfen, war eine längere Abwesenheit ihrer Person nie etwas Gutes. Auch andere traurige Geschichten drangen an Kjartans Ohr. Eine Familie hatte ihr gerade geborenes Kind verloren, eine andere ihre 18 jährige Tochter. Zweites war schon eine Weile her, aber die Beschreibung der Mutter, die seit dem niemals wieder gelächelt hatte, wurde so plastisch untermalt, dass es die Tochter des Wirtes zu Tränen rührte, als sie beim Servieren am Nachbartisch stand. Es ging den Abend noch recht emotional zu und viel gesungen wurde auch. Später änderte sich die Stimmung und stieg, was auch die Themen wechseln ließ. Es wurde hinter vorgehaltener Hand gemunkelt, dass die Frau ihres Anführers Thure guter Hoffnung war. Die Robbenpopulation war wieder gestiegen, was viele der Jäger freute und es gab schon lange keine Zeichen auf das Wirken der Eisbestie in den Wäldern um Mantron. Insgesamt freute sich man auf einen ruhigen, wenn auch sehr harten Winter. Thures Frau, Elin Meersegen, die Venthapriesterin hatte einen sehr harten Winter vorausgesagt. Da die Temperaturen schon jetzt bei bis zu -24°C lagen, bereitete sich ganz Mantron auf harte Zeiten vor. Doch harte Zeiten machten harte Männer! Die Tapferen hatten schon viel überstanden!
Die nächsten zwei Tage hatte Kjartan, bei seiner Familie verbracht, die durch die Abwesenheit seines jüngeren Bruders, der gerade erst seine Ausbildung zum Krieger zur See auf einem anderen Schiff begonnen hatte, ausschließlich aus Mädchen bestand. Er vermisste seinen Bruder, doch dieser hatte sich für ein anderes Schiff als die „Drachenodem“ entschieden. Seine Gedanken formten den Wunsch, ihn vielleicht zu überreden mit ihm auf sein Schiff zu kommen, doch seine Schwestern hielten ihn für die Dauer seines Aufenthalt gehörig auf Trab! Jedes handgeknüpfte Seil musste begutachtet werden, jede Veränderung an ihrem Äußeren die ihm nicht auffiel, was fast alle waren, musste hervorgehoben werden und die Wölfinnen "Mondruf" und "Sonnentänzer" verlangten ebenfalls seine Aufmerksamkeit. Die neuste Familiennachricht war, dass Alvilde ihren Beinamen erhalten hatte in seiner Abwesenheit. Sie durfte sich nun nach einem gewonnenen Wettstreit mit vielen handwerklich begabten Künstlern „Alvilde Schöngeflecht“ nennen und so hatte noch eine seiner Schwestern vor Kjartan ihren Namen erhalten. Alvilde war in Zwischenzeit zu einer ansehnlichen Mantronerin gereift und Liva Zweileben erzählte ihrem größtem Bruder im geheimen, dass sie einige Verehrer hätte. Seinen Vater bekam er gar nicht zu sehen, da auch er unterwegs war. Auch er war ein erfahrener Krieger auf einem Eisbrecher und die „Drachenzahn“ war schon einige Wochen unterwegs. Kjartans Mutter hätte es sicher lieber gesehen, wenn ihr Mann sich langsam weniger zur See hingezogen fühlen würde, als mehr zu seiner Familie, doch selbst die langen Trennungszeiten taten ihrer Liebe keinen Abbruch. Alles in allem war zu Hause also alles in Ordnung und so konnte Kjartan sich auf die nächste Patrouille vorbereiten, was er auch gründlich getan hatte. Er hatte in aller Frühe das Haus verlassen und nicht zurück geblickt. Einzig die kleine Liva war ihm nachgelaufen und hatte ihm eine seltsam unförmig aussehende Schnitzer aus eigener Hand noch zugesteckt. Das sie kein handwerkliches Talent hatte, sah man überdeutlich! Der Fisch, oder was auch immer sein neuer „Glücksbringer“ darstellen sollte, hatte seltsame Auswüchse, Kanten und Scharten, aber war kaum mehr als ein grobes Stück Holz, so dass ihm vielleicht sogar der Gedanke hätte kommen können es einfach weg zu werfen, doch seine kleine Schwester hatte ihn solch unglaublich großen, tiefen, dunkelblauen Augen angesehen, dass er das Brennholzstück unmöglich hatte ablehnen können. Auf dem Weg zum Hafen spielten unbewusst seine Finger mit dem Kleinod, aber seine Gedanken waren schon wieder auf See.
Jetzt da die „Drachenschwinge“ anlegte, die ersten Männer von Bord kamen und er nach bekannten Gesichtern Ausschau hielt, fiel ihm auf, dass die Stimmung in den sonst glücklichen Heimkehrern finster und verschlossen wirkte. Viele der Seeleute machten sich eilig davon. Einige taten schweigend ihre Arbeit, das Schiff zu vertäuen und der Kapitän stand noch immer hinten am Ruder , als wollte er es nicht los lassen. Kjartan kannte ihn nicht, aber einer der Krieger kam ihn bekannt vor. Es war etwas älterer Krieger als er und bestimmt schon Ende 30ig, also noch seinen besten Jahren. Sein Name war Malte Schädelbrecher und er hatte vor einigen Jahren wegen Streitigkeiten auf der „Drachenzahn“ das Schiff gewechselt. Kjartans Vater hatte es so erzählt, aber an Genaues konnte sich der junge Mantroner nicht erinnern. Der Krieger rollte gerade ein dickes Tau auf und würde bald das Schiff verlassen, so wie es aussah. Auch seine Miene wirkte irgendwie mürrisch. Trat Kjartan in seine Nähe, so würde seine erste Reaktion ein bellendes:
„Was?!“
sein.