Ohne eine Antwort abzuwarten wurde die Tür aufgestoßen und Aurelia erkannte eine der Aufseherinnen, Fiona. Sie war für die innere Sicherheit zuständig und hatte immer sehr freundlich und diplomatisch auf Streitigkeiten zwischen den Frauen des Hauses eingewirkt, in dem noch einige andere der älteren Amazonen wohnten. Sie und die Elfe hatten jedoch bisher kaum zwei Worte miteinander gewechselt, was vielleicht auch daran lag, dass Fiona eine ältere Menschenfrau von schon fast 50 Sommern war und Aurelia immer wenn sie sie ansah, daran erinnert wurde, wie kurz ein Menschenleben sein konnte. Sonst hatte sie sie mit Besen oder Wischlappen die Flure entlang laufen sehen und hier und da sprach sie auch gern ein Machtwort, wenn die Jüngeren über die Stränge schlugen, doch bei Aurelia hatte sie nie Anlass zur Klage gehabt, was es um so verwunderlicher machte, dass sie mit so ernstem Gesicht plötzlich im Raum stand.
"Aurelia?!“
Sie nickte mechanisch.
„Du wirst im Heilerhaus verlangt. Beeil dich! Nicht anziehen! Lauf gleich los!“
Die Dringlichkeit in ihrer Stimme trieb Aurelia auf die Beine.
„ … Es ist Mira ...“,
hörte sie die alte Frau ihr noch hinterher rufen, während sie schon den Flur entlang rannte.
Mira, „Sternchen“... Irgendetwas musste passiert sein. Seit ihrem letzten Training vor zwei Tagen hatte sie das stille sechsjährige Mädchen nicht mehr gesehen. Auch den gestrigen Tag war sie nicht erschienen, aber sie hatte auch noch viele andere Aufgaben, weshalb auch Aurelia sich nicht gesorgt hatte. Mira war eines der Mädchen die man fast noch im Säuglingsalter auf die Insel gebracht hatte und sie war sehr selbständig. Ihr Mutter hatte tot am Wegesrand gelegen und ein aufmerksamer Bauer hatte das Neugeborene dann in einem nahen Dorf abgegeben. Ein ganzes Jahr suchte man nach weiteren Verwandten, doch vergebens. Sie war eine Weise wie sie, was vielleicht auch ein wenig Mitgefühl oder Verbundenheit in Aurelia geweckt hatte. Als dann ein Trupp Amazonen in dem Dorf nächtigte, war man darauf gekommen das Kind an sie weiter zu geben und war sich schnell einig geworden. Seit dem lebte Mira zwischen den Amazonen. Sie war eine stille Persönlichkeit, die gewöhnlich wenig sprach, aber sie lernte konzentriert und fleißig. Aurelias blanke Füße machten leise klatschende Geräusche und eine hoch gewachsene brünette Kriegerin, die anscheinend nach einem Einsatz grade nach Hause kam, wich grimmig murmelnd zurück, als sie an ihr vorbei rannte. Der Seesack, der an ihrer Schulter hing, roch stark nach Salz. Aurelia streifte ihn und er ging rumpelnd zu Boden. Die erbosten Worte hinter ihr verhallten ungehört. Nicht mal eine Minute später hatte sie, den sich zu dieser späten Stunde lehrenden Hauptplatz überwunden und das Heilerhaus erreicht. Eine junge Frau von vielleicht 16 Jahren stand am Eingang und fragte eilig:
„Zu dem Mädchen? … Folge mir.“
Viel zu langsam ging sie die breite Treppe hinauf in das erste Stockwerk und bog dann nach links ab. Tür um Tür zog an Aurelias Geduld vorbei, bis sie diejenige geöffnet wurde, die Mira beherbergte. Kaum hatte sie den ersten Blick auf sie erhascht, wusste sie was los war. Ihr kleiner Körper lag ausgestreckt auf einem Bett und gerade als sie sie ansah, schlug sie die Augen auf und holte tief Luft. Hinter dem Bett kniete eine Heilerin, deren Hände noch hell vom ihren Zauber schimmerten. Ihr Blick wirkte erleichtert aber auch erschöpft und todmüde. Die Frau, die die Elfe herein gebracht hatte eilte gleich zu ihr und griff der geschwächten Licht-Magi unter die Arme. Die beiden entfernten sich vom Bett und gaben so den Weg für die Amazone frei. Während Mira blinzelnd sich umschaute, setzte sich ihre Lehrerin an ihr Bett. Ihr kleine blasse Hand zitterte und ballte sich zur Faust. Die großen blauen Augen fixierten Aurelias. Angst und Erschöpfung waren darin zu lesen. Sie schielte verstohlen zu den beiden anderen hinüber und begann dann sehr leise und schnell zu reden:
„Bitte! Du musst ihm helfen! Er ist mein Freund und sie werden ihn betrafen, weil er mich verletzt hat, aber er hat das nicht mit Absicht gemacht! Bitte du musst ihn beschützen! Lass nicht zu, dass sie ihm weh tun! Bitteeee!“
Gerade als sie das letzte Wort so flehend in die Länge gezogen hatte, kam
Panthra herein und Mira verdrehte erschöpft mit einer Spur von Angst die Augen.

Die dunkelhäutige Kriegerin, die dort im Türeingang stand, strahlte eine derart starke Presence aus, das jeder im Raum unwillkürlich sich klein und unbedeutend vor kam. Ihre goldgelben Augen starrten auf das Mädchen und schienen nur noch sie zu sehen. Ihre Lieder waren mit roten Tätowierungen umrahmt, was sie noch strenger, ja fast fanatisch wirken ließ. Das Kinn war erhoben und der helle Kopfschmuck aus Knochenschädeln, Geweih und Fell umrahmte das martialisch anmutende Gesicht. Aus dem Augenwinkel bekam Aurelia eine Bewegung mit und sah, wie die junge Frau neben der Heilerin ihr verstohlen zu winkte, damit sie sich vom Bett entfernte und der Anführerin der Amazonen Platz machte. Panthra war eine der drei weisen Jungfern in Xytras und wachte mit eiserner Hand über ihre Frauen. Einer solchen Frau stellte man sich nicht in den Weg. Jeder, auch Aurelia wusste, dass sie die Strengste unter den Jungfern war, auch wenn sie sie bisher selten zu Gesicht bekommen hatte. Sie regierte mit Disziplin und Sorgfalt - fernab jeglicher Männer, denen sie nur Verachtung entgegenbrachte. Wenn man sie nicht für die Nachkommen der Amazonen bräuchte, hätte sie für ihre Ausrottung gekämpft. Sie stand im klaren Gegensatz zu ihren „Schwestern“ für die Stärke der Frauen ein. So war
Landyriel, ebenfalls eine der drei weisen Jungfern, Eldorische Elfe, das absolute Gegenteil. Sie war das Sanfte und Gute, was die drei Jungfern ausmachte. Stets um das Wohl der Frauen besorgt, drückte sie sogar auch dann einmal ein Auge zu, wenn eine Mutter ihren Sohn noch ein Jahr länger in der Amazonenstadt aufziehen wollte. Letztendlich strebte aber auch sie eine möglichst Männer- und somit gewaltfreie Kultur an. Die letzte der drei Jungfern bildete
Alyone, eine Nachtelfe.
Sie war stets die Neutrale. Eigentlich störte sie sich nicht einmal an Männern. Sie kam sogar gut mit ihnen aus - für eine Amazone. Aber sie störte sich daran, wenn Frauen und Mädchen unter ihrer Herrschaft leiden müssten. Trotz allem hörte sie am liebsten beide Seiten, ehe sie sich ein Urteil fällte und so war es immer ein gerechtes Urteil, wenn alle drei Jungfern zusammen kamen. Doch heute Abend stand nur Panthra allein am Bett des Kindes um zu hören was geschehen war. Mira setzte sich trotz ihrer frisch geschlossenen Wunden tapfer auf, auch wenn sie sicher noch weh taten. Das leichte Zittern ihrer Muskeln war nicht zu übersehen. Bei dieser Bewegung rutschte das Laken beiseite und man konnte die achte langen frischen Narben auf ihrem Körper sehen, die sich jeweils vier von ihren Rippenbögen auf ihrem Bauch kreuzend, hinunter bis zu ihren Hüften zogen. Auch am Rücken schien es noch zwei weitere Verwundungen gegeben zu haben. WAS hatte das Kind nur so zugerichtet? Es wirkte, als hätten zwei riesige mit Klauen bewehrte Hände, und sie mussten wirklich monströs gewesen sein, sie von hinten umgriffen. Die Richtung der Verletzungen verliefen von oben nach unten, was seltsam anmutete, da das Mädchen doch grade mal etwas über einen Meter hoch gewachsen war. Als sie sich diese Wunden zugezogen haben musste, musste der Angreifer also unter ihr gewesen sein. In Panthras Gesicht zeichnete sich bei diesem Anblick nur eine Regung ab. Ihre Pupillen verengten sich zu kleinen schwarzen Punkten. Dann sprach sie mit überraschend weicher Stimme:
„Du bist tapfer gewesen, mein Mädchen!“
Mira zitterte und Panthra legte ihre Hand auf die kleine Schulter um sie sanft zurück in die Kissen zu führen.
„Erzähle mir, was geschehen ist.“
Nach einigen schnellen Atemzügen begann das Kind zu sprechen. Es folgte ein Bericht der alle im Raum verwunderte. Zögerlich gestand das Mädchen, dass sie seit einigen Monaten schon Zeit mit ihrem Freund „Biest“ verbrachte, den alle für imaginär gehalten hatten. Sie berichtete von irrwitzig klingenden Abenteuern und wie ihr Freund wahre Berge für sie versetzte und ihr die schmackhaftesten Wurzeln des kargen Landes ausbuddelte. Wann immer sie Zeit gefunden hatte sich davon zu stehlen, war sie zu ihrem Treffpunkt gelaufen und er hatte sie auf seinem Kopf gehoben und sie sei über den Sand geflogen, dorthin wo er alleine lebte. Er war so schnell wie der Wind so stark wie Stein. Er aß Schlangen und sang für sie in einer brummenden Sprache, die sie nicht verstand. In der Zeit, die sie zusammen gewesen waren, hatte sie im das Sprechen beigebracht, erzählte sie stolz. Sie schwärmte von einer Höhle aus Lehm, die er unter die Erde, als sein Versteck gebaut hatte. Dann wurde sie plötzlich still. Nach einem aufmunternden Blick von der Heilerin, die im Hintergrund stand, fuhr sie fort:
„Ich … ich hab nicht auf ihn gehört und wollte selbst mal graben. Ich habe es an einer Stelle getan, die er nicht sehen konnte, weil er so groß ist. Biest hat sie gefunden, hat mich erwischt, als ich gebuddelt habe. Ich wollte doch nur ein eigenes Zimmer bei ihm haben und ich brauche nicht viel Platz … Er wurde wütend, hat mich raus gezogen und dann … Er ist irgendwo hängen geblieben. Es ging alles so schnell! Die Decke ist eingestürzt! Überall war Sand und Steine! Ich hab keine Luft mehr bekommen und hab geschrien! Alles war so schwer und drückte mich platt … so ganz platt! Versteht ihr?“
Panthra nickte zustimmend.
„Überall waren Steine. Ich hatte Sand in den Augen und konnte nichts sehen. Ich hab nach Biest gerufen, dann bewegte sich die Erde. Ich glaub, er hat die Decke hoch gedrückt und ein kleiner Spalt ging auf, klein genug dass ich hindurch passen konnte. Er hat mich gepackt und dort hinein geschoben. Es hat so schrecklich weh getan, weil seine Hände nicht mit durch gepasst haben. Er hat geschoben. Als ich endlich Halt gefunden habe, hab mich hoch gezogen … es hat so weh getan … Dann ist die Decke wieder eingestürzt.“
Tränen rollten ihr von den geröteten Liedern. Man hatte sie zwar gründlich gesäubert, doch in den Haaransätzen sah man noch immer ein wenig Sand.
„Bitte ihr müsst ihn finden! Er ist sicher noch da drin gefangen und wird sterben, wenn ihm keiner hilft.“
Panthra nickte abermals langsam und versprach, dass sie ihn suchen würden. Sie legte noch einmal die Hand auf die Schulter des tapferen Mädchens, dass es geschafft hatte sich schwer verletzt so weit in Richtung Xytras zu schleppen, bis sie jemand gefunden hatte, dann wandte sie sich ab und ging. Aurelia sah ihr hinterher und konnte noch mitbekommen, wie sich leise auf dem Flur mit einer ihrer Amazonen unterhielt. Mira sah sie noch einmal sehr eindringlich mit einem flehenden Ausdruck an und schloss dann die Augen. Ihre Geschichte hatte sie viel Kraft gekostet und die Heilerin begann nun alle aus dem kleinen Zimmer zu schieben.