Luft sauste, zu Fäusten gepresst, mitten in den Farn hinein. Immer und immer wieder schleuderte Tahmo den einzigen Zauber, der ihm instinktiv im Gedächtnis geblieben war, von sich. Er zielte nicht genau. Sein Ziel war das Meer aus Farnen unter ihm, in dem ein Wesen lauerte, von dem er hoffte, es treffen und ausschalten zu können.
Doch ein viel größerer Feind lauerte in ihm selbst.
Tahmo!
So wirst du es nicht bekommen.
Es wird dich erwischen und töten.
Das wollen wir beide nicht.
Lass mich den Kampf übernehmen und dir beistehen.
Lass dich einfach treiben, wie schon einmal, erinnerst du dich?
Du könntest den halben Urwald mit meiner Hilfe umreißen.
Dieses Monstrum und jegliche andere Gefahr im Umkreis wären vernichtet.
Komm, gib dich mir hin!
Zauberei war ein gefährliches Feld. Wieder war es die Luft selbst, die Tahmo zärtliche und zugleich machtverheißende Worte einflüsterte. Bei seinem Potenzial wäre er vielleicht wirklich in der Lage, große Verwüstung zu bringen. Vor allem dann, wenn er sich treiben ließ und nur noch zum lenkenden Part der Luftmagie würde. Sie würde durch ihn fließen und frei walten. Sie würde Zerstörung für alles bringen, was ihm Angst machte. Sie würde möglicherweise auch das Zelt, Lua und Faro erreichen...
Plötzlich fegten zwei Farnblätter beiseite. Tahmos letzte Luftfaust hatte das Spinnentier nur knapp verfehlt. Es klackerte gereizt mit seinen Beißwerkzeugen. Zwei Beine reckten sich in die Höhe. Auf dem haarigen Leib der Spinne glänzte ein dunkler Fleck im fahlen Mondlicht, das es endlich geschafft hatte, einige wenige Strahlen bis zum Boden zu schicken.
Die Spinne kreischte. Ihre Hinterbeine hatten ein kleines Netz gesponnen. Gleich würde sie es nach Tahmo werfen und vermutlich auch treffen. Der Jungmagier klebte noch immer am Baumstamm fest. Er konnte nicht fliehen. Die Spinne riss das Netz in die Höhe ...
Komm schon, Tahmo!
Leite mich und lass mich alles vernichten!
Wir sind die Kraft.
Du bist Sturm.
Ich bin Orkan.
Leite mich, Luftmagier!
SSSSSSSSRRRRRRRR!!!!!!!
Etwas Langes und Rosafarbenes schnellte rechts an Tahmo vorbei. Es war so schnell, dass die Konturen verschwommen. Und glitschig musste es sein, denn der Blondschopf bekam eine ordentliche Portion Feuchtigkeit ab. Zwar klebte diese nicht so sehr wie der Spinnenfaden an seinem Bein, aber reines Wasser konnte das auch nicht sein. Es hatte die Konsistenz von Speichel.
Ein weiteres Geräusch, wie aus dem Nichts. FLOPP! Danach das Kreischen der Spinne. Vergessen waren die Jagd, die Beute und auch der Plan, sie mit einem Netz einzufangen. Der Jäger wurde zum Gejagten. Das rosa Etwas umschlang den Spinnenkörper, danach sirrte es wieder ohrenbetäubend und schon schnellte es zurück. Erneut durfte sich Tahmo in einem Anflug widerlich riechender Feuchtigkeit baden. Die Spinnenbeine berührten im Vorbeifliegen seinen Arm. Einige der kleinen, aber dicken Borsten an ihnen rissen Kratzer in seine Haut. Dann verschwand die Spinne. Es folgte das beunruhigende Geräusch eines Gaumens, der sie erst zerdrückte und dann herunter schluckte.
Noch ehe sich Tahmo umdrehen konnte, falls er dies überhaupt vorgehabt hatte, ertönte ein gewaltiges: "QUOOOAAARRRKKK!" Der wohl größte Frosch, den der Bursche jemals in seinem Leben gesehen hatte, hockte wie ein Fels hinter ihm. Er war schwarz mit gelben Flecken, die selbst in der Dunkelheit leuchteten. Seine geschlitzten Augen musterten die Umgebung. Sie blieben auf Tahmo hängen. Der Riesenfrosch - er mochte so groß wie eine Pferdekutsche sein! - öffnete sein gewaltiges Maul. Tahmo konnte keine Zähne erkennen, aber einen Schlund, dunkelrot und schier endlos tief. Der Geruch verrottenden Fleisches drang aus diesem Loch heraus. Er vermischte sich mit dem Moschusduft des Urwaldes, so dass eine seltsame Note zurückblieb, die ganz benommen machte.
"QUOARK!", machte der Frosch. Anschließend schloss sich das Maul wieder. "Quuuurrrkkk!" Er blähte seinen gewaltigen Hals. Die Haut spannte sich wie ein Sack. Es erinnerte an die seltsamen, aber bei einigen Völkern sehr beliebten Blasebälge mit Flötenröhren dran, aus denen bei richtigem Gebrauch die tollsten Melodien hervorgebracht werden konnten. Der Frosch brachte nur das grollende Quaken zustande.
Er schaute Tahmo noch einen Moment lang an. Dann erzitterte die Erde, als sich das Tier mit kraftvollem Schwung vom Boden abstieß und einen Bogen über den Jungen am Baumstamm hinweg setzte. Er sprang weit ins strauchige Dickicht hinein. Die Farne richteten sich nach seinen Luftwirbeln aus. Als schwarzgelber, sich bewegender Flecken entschwand Tahmos Retter in die Nacht.