Faro war also bei Ikarus zurückgeblieben. Der Hymlianer würde sich gut um das Pony kümmern, da bestand kein Zweifel. Die Wiesen der Himmelsstadt mochten nicht so weitreichend wie am Boden sein - außerdem wuchs hier schillernd weißes Gras, als wäre es mir Reif überzogen -, aber für Faro würde es schon ausreichen. Das Pony könnte sich dort gehörig satt fressen, ebenso wie Nachtwind, der sich ebenfalls brav dorthin führen ließ. Lua nahm unterdessen Tahmo mit zur Luftakadmie. Ikarus' Idee, auf der Turmspitze zu üben, fand sie großartig. Dort wehte der Wind sicherlich sehr stark. Tahmo könnte die Luft am leichtesten leiten, seine Magie anwenden, ohne sich um die einzelnen Luftpartikel große Gedanken zu machen. Es war wie eine sprudelnde Quelle für den Wassermagier oder ein üppiger Wald für den Zauberer der Naturkräfte. Sie würden sich direkt an der Quelle befinden.
Ikarus holte die beiden rasch ein. Den Weg zur Akademie kannten sie ja, aber er würde sie auf den Turm hinauf führen. In den großen Hallen des Gebäudes konnte man sich so leicht verlaufen. Tahmos Training sollte nicht aufgrund von Orientierungslosigkeit verkürzt werden. Der Hymlianer grüßte einige luftmagische Eleven am Eingang und brachte seine Begleiter dann durch windige Gänge bis in den Ostflügel. Sie erklommen Dutzende Stufen, durchstreiften Korridore, die nicht enden wollten und schließlich ging es eine steinerne Rundtreppe so weit hinauf, dass sie zwischendurch Pausen einlegen mussten. "Huch, mir wird hier noch ganz schwindlig", kommentierte Lua. Sie hielt sich den Kopf, denn um sie herum drehte sich inzwischen alles.
"Ja, die Luft hier oben ist noch dünner als sonstwo, aber die Winde sind stark", lachte Ikarus. Er bot Lua seinen Arm an, dann ging es weiter. Tahmo brauchte auf diese Geste nicht eifersüchtig zu sein. Der Hymlianer hatte bislang nicht den Eindruck gemacht, ihm seine Liebste streitig zu machen. Die beiden waren befreundet, wenn auch sehr innig, aber mehr würde da wohl nicht entstehen.
Endlich oben angekommen, öffnete Ikarus eine Luke aus verblasstem Eichenholz. Hier noch hindurch und schon standen sie auf der Turmspitze. Der Himmelsreiter hatte nicht zu viel versprochen. Hier oben gab es eine Menge Platz. Die Brüstung war etwa hüfthoch, würde also verhindern, dass man gleich von einem starken Wind herab und in die Tiefe gefegt würde. Es gab kein Dach auf dem Turm, aber steinerne Bänke als Sitzgelegenheit sowie einige schwere Blumenkübel. Die saftig grünen Blätter der Pflanzen flatterten, aber waren nicht gefährdet, Opfer einer Böe zu werden.
Der Turm selbst ragte so hoch, dass sich um ihn herum ein Kragen aus halb durchsichtigen Wolken gebildet hatte, wie Nebel. Nicht einmal die Dächer Hymlias waren von hier aus zu sehen. Tahmo, Lua und Ikarus schienen vollkommen isoliert. Es stimmte: dies hier war der perfekte Ort zum Üben. Man konnte sich durch nichts ablenken lassen. Mit Ausnahme vielleicht vom Wind, aber der sollte dem Blondschopf bei seinem Training schließlich dienlich sein.
"Eine Menge Stufen", sagte Lua. Sie war nicht minder erschöpft als ihr Schüler. Lediglich Ikarus schien solche Gewaltmärsche auf Treppen gewohnt zu sein. Er winkte die beiden zur Bank. "Ruht euch einen Moment lang aus. Ich werde das Training für Tahmo vorbereiten."
"Was hast du denn vor, Ikarus?"
Der Hymlianer grinste nur. Er trat zu einem der Blumenkübel. Daneben stand eine Art winziger Altar. Nein, es war eine steinerne Kiste und Ikarus schob soeben mit aller Kraft die Lade beiseite. Er holte einen Beutel hervor, auf dem viele kleine Ornamente gestickt waren. Sie ergaben ein sich ineinander windendes Muster aus Wolkenarmen und kleinen Sternen. "Das hier ist ein Federbeutel. Ich weiß, dass unsere Magier ihren Schülern mit solchen Beuteln das Zaubern beibringen. Sie kämpfen auch oft gegen den Inhalt." Der Hymlianer schnürte den Beutel auf. Vier azurblaue Federn, deren Nebenfedern plüschig und weiß in alle Richtungen abstanden und so einen buschigen Kragen am unteren Ende bildeten, schwebten heraus. Sie flogen vollkommen selbstständig, ließen sich nicht vom Wind beeinflussen.
"Sie sind magisch", erklärte Ikarus. "Lua, du kannst sie mit deiner Luftmagie leiten oder angreifen lassen. Die Magier kämpfen nicht mit Schwertern oder gegen bissige Feinde. Wer sich nicht zu verteidigen weiß, wird zu Tode gekitzelt." Er lachte, aber das spielerische Auf und Ab der Federn ließ seine Aussage nachdenklich stimmen. Die Magierin erhob sich. "Bist du bereit, Tahmo? Kitzelattacken klingen nicht schlecht. Sollen wir es also mal mit einem Verteidigungszauber bei dir versuchen?" Sie erklärte nichts. Sie warnte nicht vor. Sie wollte sehen, was Tahmo denn überhaupt schon von sich aus konnte. Er hatte das dicke Zauberbuch studiert und Zeit bekommen, einen Blick auf die magische Schriftrolle zu werfen. Wie viel hatte er bereits aus der Theorie gelernt?
Die Federn sausten auf ihn zu, bereit zum Angriff.