Wenn sie nicht gewusst hätte, wie erschöpft Tahmo gewesen war, Lua hätte ihn dafür getadelt, dass er hinter ihrem Rücken einfach so einschlief. Einen Flug über Celcia, noch dazu auf einem mit magischen Schwingen versehenen Pferd ließ man sich nicht entgehen. Aber Tahmo hatte sich vollkommen verausgabt, vor allem psychisch. Die Windsbraut steckte noch in seinem Körper, irgendwo tief vergraben. Bisher hatte sie sich nicht mehr gezeigt, aber Tahmo hatte auch darauf verzichtet, Magie zu wirken. Würde sie nur dann mächtig genug sein, durch ihn zu handeln? Oder konnte sie auch agieren, wenn er sich gegen die Zauberei stellte? Bekam sie von ihren Plänen mit?
Hymlia lag schon weit hinter ihnen. Lua hatte gesehen, wie sie den Urwald Kapayu überflogen hatten. Eine gewaltige grüne Masse, die sich wie ein breiter Wurm in das Bild Celcias legte. Eine grüne Faldorhölle voller Gefahren und doch barg dieser Dschungel auch wundervolle Pflanzen, Tiere und andere Phänomene, die sich die Luftmagierin nicht einmal erträumte. Keines davon sollte sie vorerst wiedersehen, denn der Kapayu war nicht das Ziel. Ikarus leitete die Pferde, ritt selbst auf seinem Pegasus voran und warf hin und wieder seinen Zauber aus, damit die Schwingen seiner Begleiter nicht versagten. Bei Faro war das kein Leichtes, denn das Pony amüsierte sich in der Luft geradezu königlich. Es flog Schleifen, zeigte Loopings und gewagte Schrauben, während es im Sturzflug Richtung Celcia donnerte, nur um im letzten Moment wieder nach oben zu streben. Einige Bauern am Boden reckten erschrocken die Hälse, streckten die Finger gen Himmel aus und riefen etwas von einem geflügelten, dicken Pferd, das kam, um ihre Ernte zu reißen.
Aber nicht nur die Bauern hatten das fliegende Gespann bemerkt.
Schon lange vor ihrer Ankunft waren sie von den Spähern des Königs entdeckt worden. Wachen auf den Türmen, die in die Mauer eingelassen waren, welche Grandea umgab, hatten die fliegenden Pferde gesehen. Hörner waren gestoßen, Kuriere ausgesandt worden und auch die dunklen Besucher des Königreichs hatten ihre Aufmerksamkeit auf den Himmel gelenkt. Mit der Behauptung, Grandea würde von Schlachtrössern der Lüfte angegriffen war man in die Audienz des Königs hinein geplatzt. Dieser hatte sofort reagiert. Grandessa besaß nicht die besten Schützen Celcias, ihrer aber viele. Außerdem gab es ja noch die verbliebenen Armeetruppen der Dunkelelfen.
Einheiten beider Gruppierungen erwarteten den fliegenden Feind mit Armbrüsten und Bögen, die Pfeilspitzen zu den Wolken gerichtet.
Ikarus sah sie nicht. Er hatte den Blick nur kurze Zeit vom Boden abgewandt, vertraute auf seinen Pegasus, dass dieser schon sicher landen würde. Er ließ sich von Tahmo etwas aus den Provianttaschen reichen, nachdem der Blondschopf sich erkundigt hatte, ob sie hungrig waren. Auch Lua knabberte an einer Tomate, in der anderen Hand ein belegtes Brot. Niemand richtete derzeit den Blick nach unten. Niemand bis auf Faro.
"Faro, was hast du denn? Noch aufgeregter als sonst?" Lua lachte, spürte nicht den Hauch von Gefahr und dies war ein Fehler.
"Ich glaube, er ... AHHHRRRGGGHHH!" Ikarus riss es vom Rücken seines Pferdes. Er hatte sich zu einer Halbkugel gekrümmt, einen Pfeil in der Schulter, einen zweiten im Oberschenkel. Außerdem stürzte er gerade ab. Der Boden war noch gute 20 Meter unter ihnen. Der Aufprall würde tödlich enden.
Lua reagierte schnell. Sie wusste nicht, wie sie diesen Zauber plötzlich wirkte. Sie hatte ihn so nie gelernt, aber Ikarus' Magie bezüglich der magischen Flügel hatte sie beobachtet und ihn in einem ruhigen Moment auch darüber ausgefragt. Sie konzentrierte sich jetzt nur auf den Hymlianer. Sie bewegte ihre Finger, dass ihr Schweiß auf die Stirn trat. "Bring Nachtwind und Faro herunter", riet sie Tahmo noch, dann schloss sie sich in ihrer eigenen kleinen Welt ein. In dieser existierten nur sie, Ikarus und der harte Boden, vor dem sie ihn bewahren wollte. Ihre Magie wirkte. Ikarus wuchsen mit einem Mal Schwingen, ähnlich denen, die bei Faro und Nachtwind gewachsen waren. Nur die des Hymlianers flatterten wie lange Bahnen feinstem Stoff hinter ihm her. Sie waren halb durchsichtig, was seinem gesamten Fall etwas Mystisches verpasste. Er wurde gebremst, segelte jetzt mehr wie ein Blatt im Wind gen Boden. Doch dadurch war die Gefahr noch nicht gebannt.
Weitere Pfeile flogen, drohten, Lua und Tahmo oder eines der Pferde zu treffen. Und da meldete sich die Windsbraut wieder:
Du weißt, dass du zaubern musst.
Setze Magie ein, rette die, die du liebst.
Vernichte die, die dich zerstören wollen.
Lass mich dir helfen.
Du weißt, wir könnten sie alle zerschlagen.
Lass es zu, Windkind.
Jetzt!"