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Der Scheideweg

Verfasst: Montag 29. Oktober 2018, 21:24
von Erzähler
Die folgenden Wochen verbrachten die beiden, Meister und Lehrling, auf Feldwegen, und kleineren Waldpfaden fernab der Hauptstraße. Sie heilten sich versteckt vor dem dunklen Volk, dass auch hier draußen immer wieder kleine Spähtrupps aussandte. Aber um so weiter sie sich von der Hauptstadt entfernten, um so seltener wurde diese Bedrohung. Ein kleines Aufatmen schien auch durch den Meister zu gehen und auch wenn sich seine Laune dadurch nicht wirklich besserte, so ging er aufrechter und sie machten häufiger Pausen. Balian hatte nicht die geringste Ahnung, wohin die Reise ging und mittlerweile wusste er es besser, als den Alten danach zu fragen. Er folgte ihm einfach, alleine den schweren Rucksack schleppend, und bestaunte die grüne Natur um sie herum. Oftmals hielten sie, um ihre Wasserflaschen zu füllen oder diverse Kräuter zu sammeln, die der Meister für seine Phiolen verlangte. Er beobachtete den Meister bei seiner Arbeit genau, ließ sich kein Detail entgehen. Er sah zu wie einzelne Ingredienzien ihren Weg in den Mörser des Meisters fanden und lernte gerade in der Heilkunst und der Kräuterkunde hier draußen viel besser, als in der Theorie. Auch wenn Heilung nicht das Spezialgebiet seines Meisters war, so konnte er Balian doch viele nützliche Dinge beibringen. Die Pflanzen nicht nur auf Bilden zu sehen, sondern sie zu riechen und zwischen den Fingern reiben zu können, brachte ihm einige wertvolle Erfahrungen. Sie kamen zwar so sehr langsam voran, aber er erlangte so genug Wissen, um seine eigenen ersten Experimente anzustellen. Experimente, die ihm nach zahlreichen Fehlschlägen eine den Schmerz lindernde Brandsalbe bescherte, die seine zahlreichen Wunden pflegte. Vieles lernte er in diesen Wochen, an Magie und sonstigem Handwerk, und war doch noch gerade am Anfang seines Weges.

Sie waren schon eine Weile unterwegs als sie der Weg an eine Gabelung führte. Ein verwitterte Wegestein sollte hier dem Reisenden eigentlich die Richtung weisen, doch irgendjemand hatte grob darauf eingeschlagen und die Bruchstücke langen verstreut im Gras herum. Natürlich war es Balians Aufgabe das Puzzle zusammen zu fügen, während der Meister eine kleine Mahlzeit am Wegrand einnahm. Es dauerte eine ganze Weile bis der Lehrling Erfolg hatte und wenigstens zwei Richtungen wieder her stellen konnte.
Die eine war wohl, die Richtung aus der sie kamen, Grandea.
Bei der anderen fehlte ein Stück am Anfang des Wortes. Es war nur
„...erna“
zu entziffern. Balian war noch nie außerhalb Grandeas gewesen, aber er wusste, dass es drei Dörfer im Königreich gab: Troman, Berna und Alberna. Troman schied als Ziel sowieso aus, da jeder in der Stadt wusste, dass es nahe der Front zu Jorsa lag und dort die königlichen Truppen, sowie einige kleinere Regimente der Dunkelelfen dort unterwegs waren. Vielleicht erinnerte er sich an noch ein bisschen mehr, aber so oder so hatte er gerade die Möglichkeit sich und seinen Meister in eine von ihm bestimmte Richtung zu führen. Da er das Puzzle zusammen setzte, konnte auch er bestimmen, in welchen Dorf sie als nächstes landeten. Er musste es dem alten Mann nur gut verkaufen.

Re: Der Scheideweg

Verfasst: Dienstag 20. November 2018, 11:22
von Balian
Einstiegspost

Ein Kamm. Ein Ohr. Ein Nest. Ein Zelt. Ein Esel. Ein weiteres Nest. Ein Tisch. Der merkwürdige Wurm mit Beinen, der ihm so viel Probleme beschert hatte, bis er sich schließlich als Raupe herausgestellt hatte. Ein Apfel. Noch ein Tisch. Das stachelige Tier, das der Meister Igel nannte. Wieder ein Ohr. Und ein letztes Nest. „K-O-N-Z-E-N-T-R-A-T-I-O-N.“ Balian blickte von seinem bebilderten Alphabet auf und verglich es noch einmal mit dem soeben mühsam entzifferten Wort aus dem aufgeschlagenen Buch vor ihm. „Konzentration.“ Das in rubinroter Tinte geschriebene Wort stach aus der dichten Wand an Text hervor und war zu allem Überfluss noch zwei Mal unterstrichen worden. Neben dem Absatz waren in einem kunstvoll verziertem Rahmen zwei Gestalten zu erkennen. Sie sahen beide identisch aus, trugen die selben wallenden Roben, lange Bärte und dümmlich-ausdruckslosen Mienen zur Schau. Die linke Figur hatte die Handflächen in Form eines Korbes zusammengefaltet, eine Kugel aus roten Flammen ruhte darin, von der übertrieben zackige Lichtstrahlen ausgingen. Sein rechter Gegenpart hingegen war etwas anders dargestellt, seine Handhaltung war schief, der Kopf kasperhaft quer gelegt und die Beine übereinandergeschlagen. Ganz zu schweigen von den Flammen, die nicht gebündelt in seinen Händen, sondern in der Form roter Dreiecke über seine ganze Robe verteilt waren. Die Botschaft schien klar zu sein. Mach es wie das linke Männchen, sonst endest du so wie das rechte. Ein Narrativ, welches das Lehrbuch scheinbar nicht müde wurde zu perpetuieren.
Balian gähnte und strich sich übers tränende Auge. Es war wieder einmal spät geworden. Zu spät, wenn man ihn fragen würde — doch wer käme denn auf die Idee, das zu tun? Wie gewohnt hatte der Meister darauf bestanden, bis Sonnenuntergang in Bewegung zu bleiben. Für seine hohen Jahre war der Alte außerordentlich fit, sein Tempo äußerst zügig und nicht selten hatte Balian ihn keuchend um eine Pause erbeten, während jener vom andauernden Gewaltmarsch kaum aus dem Atem gekommen zu sein schien. Es half nicht, dass dem Jungen unfreiwillig das Dasein des Packesels zuteil geworden war. Am Rücken und über den Schultern, um die Hüfte und sogar den Hals zerrten tagein tagaus an ledernen Gurten das Gewicht der verschiedenen Besitztümer des Meisters. Manche klirrten und schepperten, andere raschelten und rauschten, wiederum andere pochten dumpf auf wenn er auch nur eine falsche Bewegung tat. Die Sohlen an seinen Schuhen nutzten sich am rauen Gelände jenseits der blank geschliffenen Straßensteine so schnell ab, dass er bald nur noch auf den improvisierten Einlagen aus Gras und Blättern ging, die er sich unter die wunden Füße band.
Das tägliche Reisen war eine Tortur, doch eine Tortur, die Balian trotz allem gerne auf sich nahm. Zu groß war der Lohn für seine Mühen, die im Vergleich dazu lächerlich unbedeutend wirkten. Allein die alltägliche Szenerie, die sie morgens bis abends umgab, war jede Anstrengung wert, die der Alte dem Jungen auftat. Balian hatte in seinem bisherigen Leben nichts anderes gekannt als die Enge der Stadt und die trostlose Grubenlandschaft, die im Schatten ihrer Mauern lag. Hier draußen jedoch, tat sich ihm eine gänzlich neue Welt auf, eine Welt reich an vielfältiger Wunder. Bäume, die bis in den Himmel ragten, wild rauschende Flüsse mit glänzenden Fischen, kniehohe Gräser, die vor ungebändigtem Leben nahezu summten, prallgefüllte Büsche mit Beeren nie gekosteter Süße. Oft war er versucht gewesen, seinen schweigsamen Reisegefährten zu fragen, ob sie sich immer noch im Königreich Grandessa befanden. Demselben Königreich Grandessa, das allseits für seine unbarmherzige Strenge bekannt war, ein Land, in dem nur die Reichen lebten und die Armen auf den Tod hofften. Die Offenbarung, dass an den Geschichten seiner Kindheit, den Erzählungen über ferne und wundersame Orte, auch nur ein Funken Wahrheit haften konnte, sei er noch so klein und unscheinbar, löste in ihm ein unvergleichliches Hochgefühl aus. Er nahm sich vor, die Welt in den kommenden Jahren zu erkunden, so gut er es konnte. Doch noch war es nicht er, der den Kurs angab und dieser Kurs führte zurzeit — sofern Balian es beurteilen konnte — ins Ungewisse.
Das Feuerholz knackte und riss ihn aus seinen Gedanken. Beschämt senkte er den Blick wieder in das Lehrbuch. „Konzentration.“ Es war ihm nicht leicht gefallen, noch zu so später Stunde den ledernen Folianten aufzuschlagen. Das tat es nie. Wie immer lockte der Schlafsack, der die ersehnte Rast für die schmerzenden Glieder bot. Sein Meister zeigte stets vor, wie leicht es gehen konnte: Kaum hatte sein treuer Lehrling das Lager aufgeschlagen und das Feuer entzündet, brach er bereits das Brot und wenn Balian sich zu ihm setzte, wandte sich dieser bereits zum Schlaf um. Doch die wenigen Stunden der Nacht waren die einzigen Momente, die er nur für sich allein hatte. In denen er tun konnte, was er wollte. Und er wollte noch immer das selbe, wie vor jenem verheißungsvollem Abend, an dem er den Meister das erste Mal begegnet war. Er wollte lernen. Er wollte sich verbessern, wachsen, jene unergründliche Rolle annehmen, die ihm der Gott des Feuers und des Lichts mit seinem Geschenk zugewiesen hatte. Und dies geschah bestimmt nicht von allein im Schlaf.
Balian strich die Seite glatt und überflog noch einmal die Anweisungen auf dem Pergament. Diese waren vage und nicht besonders hilfreich, verwiesen auf Namen und Werke die er nicht kannte oder setzte das Wissen bestimmter Begriffe voraus, die er nie zuvor gehört hatte. Oftmals lies ihn das Lehrbuch mit mehr Fragen als Antworten zurück. Doch ab und zu gelang es ihm, dem alten Wälzer einige nützliche Tipps abzugewinnen, die er auf Anhieb verstehen und sich einprägen konnte. So wie heute. „Der Atem des Magiers sei ruhig, sein Körper entspannt." Balian rutschte auf dem moosbedecktem Boden herum, bis er mit aufrechtem Oberkörper dasaß, die Hände flach auf die Knie gelegt. Mit vollen Lungen zog er die kalte Waldluft in sich auf, die vom feinen Rauch des Lagerfeuers durchzogen war. „Er schließe die Augen.“ Balians unversehrtes Auge schloss sich. „Den Kopf reinige er von jeglichem Gedanken“. Stille. Um ihn herum nur das Geräusch des Waldes, das leise Schnarchen des Meisters sowie das knisternde Feuerholz. In der Ferne heulte ein Tier. Vermutlich ein Wolf. Nein, etwas größeres. Ein Bär vielleicht. Wie hörte sich der Schrei eines Bären wohl an? Gab es in diesem Wald denn eigentlich Bären? Balian runzelte angestrengt die Stirn. Konzentration. Wenn es doch nur so einfach wäre. Schon immer hatte er Probleme gehabt, Herr seiner eigenen Gedanken zu werden. Sein Unterbewusstsein kam ihm zumal wie eines der mehrköpfigen Schlangenwesen aus den Geschichten vor — während er eine ablenkenden Eingebung verdrängte, fielen ihn gleich zwei weitere hinterrücks an. Nachdem er auf diese Weise einige Minuten in sich hineingehorcht hatte und der Meinung war, dem inneren Seelenfrieden wohl so nahe gekommen zu sein wie es ihm irgendwie möglich war, fuhr er fort. „Der Magier entzünde eine Flamme“ Balian hob die Hand von seinem Bein, die Handfläche vor sich gen Himmel gestreckt. Er wartete auf die allzu vertraute wohlige Wärme, die langsam aus dem Inneren seines Körpers schwappte, durch seine Adern in die Arme wanderte, die Handfläche allmählich zum Glühen brachte. Bis er es spürte. Das leise Kitzeln einer Flamme, klein und schmächtig, sich mit aller Kraft gegen den schwachen Wind der Lichtung aufbäumend und doch jeden Moment den verfrühtem Tod erwartend. Der erste Atem eines Feuers. Balian wölbte die Handfläche, sodass seine Finger einen schützenden Kranz um das Flämmchen bildeten, welches sich darauf dankbar aufrichtete und sogleich hell erstrahlte. Es züngelte munter auf seiner nackten Haut, strich mit der wabernden Zunge über die Linien seiner Handfläche und hinterließ dabei weder Schmerz noch das unangenehme Gefühl von Hitze. Es war zahm. Es war seine Flamme. Es würde ihm keinen Schaden zufügen, solange er die Kontrolle behielt. Dies war die Regel.
Licht und Schatten huschten über Balians vernarbtes Gesicht, das in stiller Anstrengung verzogen lag. Warum war es nur so verdammt schwer? Immer noch. Er war von der Meisterschaft über das Feuer so weit entfernt, wie die Sonne vom Mond. Warum war ihm nicht durch seine anhaltende Beharrlichkeit, durch seine vielen Opfer, die er bereits geleistet hatte, ein wenig Erfolg vergönnt? Er fühlte sich wie eine winzige Ameise, die einen riesigen Berg erklomm, dessen Gipfel weit in die Wolken ragte, sodass das Ziel nie vor Augen lag. Ein Berg, der zu allem Überfluss Tag für Tag zu wachsen schien, ihm schwere Steine in den Weg legte und durch herabbrechendes Geröll seinen Fall hervorrufen wollte. Ein Berg, den sein Meister einst erklommen hatte — ja vermutlich sogar mit Leichtigkeit — und von dessen Spitze er ihn herablassend betrachtete. Seine Magie war rein, makellos und ging scheinbar ohne jegliche Anstrengung von der Hand. Neben ihm wirkte Balian wie ein kleines Kind, dass mit dem Feuer spielte. Und sich dabei regelmäßig die Finger verbrannte.
Balian beugte sich vor und hob sein kümmerliches Flämmchen ans Gesicht. Die weisen Ratschläge des Lehrbuches waren schon längst vergessen, er hatte die Geduld verloren. Behutsam doch bestimmt blies er in seine Handfläche. Der schwache Luftzug brachte die Flamme zum Flackern, stachelte sie auf. Die wohltuende Wärme auf seiner Haut wich einem unbehaglichem Pochen. Genährt von seinem Atem stieg das Flämmchen in die Höhe, wuchs, unnatürlich schnell doch folgsam, dem Hauch ihres Herren folgend. Binnen weniger Augenblicke füllte es seine gesamte Handfläche aus und wandte sich eifrig dem Himmel entgegen. Sie wurde größer. Stärker. Balian erhob sich rasch, den Arm immer noch ruhig haltend. Er langte mit der Linken nach dem Kern der Flamme, wich hastig zurück, als ihre Spitzen nach ihm schnappten. Doch er gab nicht auf. Behutsam umschloss er das Feuer mit beiden Händen. Formte es. Ignorierte die kleinen Stiche, die sich nun schmerzhaft in seine Handflächen bohrten. Noch hatte er die Kontrolle. Aus dem Augenwinkel spähte er ein letztes Mal auf das Buch zu seinen Füßen, auf die kunstvolle Überschrift der aufgeschlagenen Seite. Die verschnörkelten Letter formten eine fremdartige Abfolge an unbekannten Begriffen, waren jedoch durch die schnellen Striche einer fremden Feder kommentiert. Eine Notiz eines Vorbesitzers, wohl ein Lehrling, wie er. „ Einfacher Feuerball“
Die Beine fest in den Erdboden gestemmt, hob Balian die Hände an die Brust, zwischen den Fingern pulsierte das Licht hervor und tauchte die Wiese in flackernd-rötliche Schlieren. Der eben noch ruhige Puls war binnen Sekunden auf Höchstleistung gestiegen, sein Herz raste. Schweiß stand auf seiner Stirn, brannte auf seiner vernarbten Haut wie das Feuer in seinen Händen. Es sog die Kraft aus ihm, drohte ihn zu verzehren wie eine Kerze. Stück für Stück, bis nichts mehr von ihm übrig war als seine Überreste. Doch Balian gab nicht auf. Nun, da er so weit gekommen war. Nun, da das Feuer so gleißend hell brannte. Ein leiser Schmerzenslaut entwich seinen Lippen. Vor Anstrengung zitternd sah er sich hektisch auf der Lichtung um. Sein Auge blieb an der Silhouette eines umgefallenen Baumes hängen. Er drehte sich in dessen Richtung. Fixierte den knorrigen Kadaver, der allmählich zu verschwimmen schien. Sein Sichtfeld begann sich einzuschränken, die Schwärze kroch aus allen Ecken auf ihn zu. Er war kurz davor, die Bewusstlosigkeit zu verlieren. Dann tat er, worauf er sich den gesamten Abend vorbereitet hatte. Mit letzter Kraft stieß er den Ball aus Flammen von sich. Ließ ihn fliegen über die Lichtung. Seinem Ziel entgegen, den Aufprall erwartend.
Es geschah anders, als erwartet. Kaum hatte Balian seine Hände geöffnet, brachen die Flammen in sich zusammen, verkümmerten von einer gebündelten Kugelform zu einem instabilem eiförmigen Feuer. Es verließ seine Hände, schoss etwa einen Meter in die ungefähre Richtung des geplanten Zieles, dann verpuffte es ins Nichts und ließ einen kleinen Funkenregen zurück, der harmlos, gleich toten Leuchtkäfern, gen Boden rieselten. In einem Augenblick war alles vorüber. Die Lichtung lag wieder im Halbdunkel. Vielleicht dunkler, als sie es zuvor war.
Balian sank keuchend auf die Knie. Sein Kopf fühlte sich schwer an. Schwer und leicht zugleich. Seine Glieder zitterten. Eine unbeschreibliche Kälte erfasste ihn, hielt sein Herz umklammert und lies ihn nicht mehr los. Merkwürdige bunte Punkte tänzelten vor seinem Auge und bevor er es wusste übergab er sich gekrümmt über das sanft wiegende Gras. Eine Weile verbrachte er würgend und spuckend auf der dunklen Wiese. Dann wischte er sich das Erbrochene aus den Mundwinkeln und kroch wie ein lahmer Krüppel zurück ans Lagerfeuer. Sein Meister lag noch auf gleicher Weise dort. Nur schnarchte er nicht mehr.
Noch immer am ganzen Leib bebend nestelte Balian am Verschluss seiner Tasche herum, bis er ein kleines hölzernes Döschen hervorbrachte. Nach mehreren Versuchen gelang es ihm es zu öffnen und sofort entwich ihr der intensive Duft von Kräutern. Zaghaft begann Balian seine krebsroten und mit Blasen übersäten Hände mit der groben Paste zu bestreichen. Die schmerzlindernde Wirkung trat fast augenblicklich ein und entlockte ihm einen erleichterten Seufzer. Während er sich unbeholfen bandagierte, sah er hinauf in den Sternenhimmel. Zählte geistesabwesend die hellen Punkte am Firmament, bis ihm die Zahlen ausgingen und das Augenlid unerträglich schwer wurde. Bevor er jedoch endgültig auf seinem Lager zusammenbrach, faltete er noch einmal die Hände zu einem stillen Gebet an Lysanthor. Er dankte dem Gott des Feuer und Lichtes, ersuchte ihn um Vergebung und wiederholte seine Bitte, die er seit seiner Kindheit auf gleiche Weise formulierte. Er tat es so, wie er es jede Nacht tat. Und Lyanthor schwieg, so wie er es jede Nacht tat. Dann fiel der Schlaf über Balian hinweg und tauchte ihn in wohltuende Ohnmacht.

Re: Der Scheideweg

Verfasst: Samstag 24. November 2018, 15:22
von Erzähler
Der Vortag war so lang und anstrengend gewesen, dann hatte Balian auch noch den ganzen Abend für seine Studien genutzt. Seine Hände brannten auch wenn die Salbe wirkte. Das Brennen verfolgte ihn in seine Träume:

„Dummer Junge!“
, schalt der Meister ihn und packte unwirsch seine Hände. Die starken knorrigen Finger umschlossen seine Handgelenke und der alte Mann drückte seine Handflächen zurück in die gerade noch glimmende Glut, als würde dies das Feuer nähren können. Tat es aber nicht. Ganz das Gegenteil war der Fall. Wieder einmal versagte die Magie Balian den Dienst. Die Glut unter seinen Händen erlosch und nur unnatürlich eisig kalte Asche schmerzte an seiner überreizten Haut.
„Du hast das Feuer ausgehen lassen! Jetzt muss ich kalten Tee trinken!“


„Dummer Junge, du hast das Feuer ausgehen lassen! Soll ich kalten Tee trinken?“
Balian erwachte und setzte sich ruckartig auf. Der Meister stand am Lagerfeuer, das herunter gebrannt war und schalt ihn einmal wieder. Seine starren alten Augen bohrten sich in seine und er schüttelte missbilligend den Kopf. Dabei rutschte einer der langen Zöpfe aus seiner Kapuze und er streckte sie wieder zurück. Diesen kurzen Moment konnte Balian nutzen um sich zu sammeln, dann beobachtete er, wie der Meister mit einer schon beneidenswerten Leichtigkeit die Hand nach der Glut ausstreckte und die Flammen neu entfachte. Rasend schnell stiegen knisternde Funken unter der Asche hervor und fraßen sich in die äußeren Reste des Holzes. Für einen Moment sah es fast so aus, als würden kleine Hände aus Flammen die Äste und den Reisig zusammen suchen und in der Mitte zusammen sammeln. Es wirkte wie ein lebendiges Wesen, dann trat der Meister in Balians Sichtlinie und versperrte ihm damit die Sicht.
„Streck die Hände aus!“
Der junge Mann tat wie ihm geheißen und der Meister inspizierte die neusten Brandblasen. Wie immer, wenn er mürrisch war, murmelte er etwas in einer unverständlichen Sprache. Dann trat er zwei Schritte zurück und musterte Balian eingehend. Die starren Augen des Alten blieben an seinen Füßen hängen und er schüttelte noch einmal missbilligend den Kopf, sagte aber nichts dazu. Er drehte sich nur ruckartig um und setzte sich auf sein eigenes Lager. Dort nestelte er an seinen Habseligkeiten herum.
„Koch Tee und mach Frühstück. Ich will bald weiter.“
Da es Balians Aufgabe war, seinen Meister zu umsorgen, im den Alltag angenehmer zu gestalten und er dafür den Geheimnissen der Magie näher kam, beeilte er sich dem Wunsch des Meisters nachzukommen. In den Taschen war noch Proviant und so öffnete er gerade eine als der Alte leise sprach:
„Du willst zu sehr und konzentrierst dich zu wenig...“
Was?... Meinte er den Tee? Nein, sicher nicht. Hatte der alte Mann ihn gestern Abend doch beobachtet? Er hatte nach einer Weile aufgehört zu schnarchen.
„... Dein Maß an Motivation übersteigt noch deine Fähigkeiten. Es verzehrt dich, wenn du zu viel auf einmal willst. Der Feuerball, an dem du gestern Abend dich versucht hast, er hat deine Energie verbraucht, weil du sie nicht richtig kanalisierst... Ich kann dein Erbrochenes immernoch riechen und wünsche das nicht noch einmal zu erleben!“
Er verzog angeekelt seine Nase und holte eine Phiole mit einer pulverisierten Substanz darin aus seinen Taschen. Vorsichtig öffnete er sie, tupfte etwas davon auf seinen linken Handrücken und verschloss das Gefäß wieder sorgsam. Dann schnupfte er das Pulver erst in das linke dann in das rechte Nasenloch und hielt einen Moment die Luft an. Als er dann wieder den Mund öffnete stieß er bläulich-weißen Rauch hervor und sein Rachen leuchtete im Innern blau. Er hustete einmal kräftig, wobei ein paar bläuliche Funken aus ihm heraus stoben.
„...*räusper*...Besser!“
Er verstaute die Phiole wieder und sah zu Balian.
„Konzentration ist nur der halbe Weg zu wahrer Magie. Du musst auch etwas in deinem Innern finden, was deine Macht fokussiert, lenken und zusammen halten kann. Du bist allerdings noch sehr jung und manchen von uns gelingt es nie dieses eine Gefühl zu finden.“
Er musterte seinen Schüler abschätzend, als wog er gerade ab, ob es sich lohnte noch weiter zu reden. Dann stand er plötzlich auf und murmelte:
„Die Natur ruft.“
und verschwand im nahen Unterholz. War seine Entscheidung gefallen? Lohnte es sich Balian zu fördern, seine Neugierde und seinen Wissensdurst zu nähren? Begierig genug war er, aber reichte das?
Für einen Moment war Balian mit seinen Gedanken allein. Das er irgendetwas falsch machte, dass er sich oft nicht konzentrieren konnte, das wusste er selbst. Aber was meinte sein Meister mit „dem halben Weg“? Was meinte er mit diesem „Gefühl“ was er in sich finden musste um zu wahrhaftiger Magie zu gelangen? Der alte Mann „fütterte“ ihn nur hin und wieder mit solchen Gedankenanstößen, aber heute morgen, da war er regelrecht gesprächig gewesen. Verbesserte er sich? War das eine Belohnung für seine Mühen? Der Alte war schlecht zu durchschauen, aber er hatte ihn als seinen Schüler akzeptiert. Und der Trick mit dem glühenden Rachen war auch faszinierend gewesen, fast als hätte er im nächsten Moment Feuer speien können! Und da auf seinem Lager lag die Tasche mit der Phiole, greifbar nah und verboten gut! Balian war allein, sein Meister im Wald um seine Notdurft zu verrichten und niemand sah ihm zu. Neugierde keimte sicher in ihm, aber auch Vernunft und Verstand war ihm gegeben. Trotzdem wäre es interessant zu wissen, was dieses Pulver genau bewirkte.
Doch bevor Balian die Phiole untersuchen konnte, bevor der Tee gezogen war und der Haferbrei fertig gekocht, da hörte er in einiger Entfernung Getrappel und das Knirschen von beschlagenen Rädern auf dem Weg. Sie hatten ihr Lager gut gewählt, so dass man es von der Straße aus nicht sah, aber das hell lodernde Feuer, was der Meister entfacht hatte, das könnte doch ihren Standort verraten, wenn aufmerksame Augen suchten. Instinktiv hob er schnell eine der Decken um den Lichtschein im Morgennebel in Richtung der Geräusche abzuschirmen. Mit weit ausgebreiteten Armen stand er da. Ein paar angestrengte Minuten verstrichen, in denen er sich nicht sicher sein konnte, ob sie gesehen worden waren oder nicht...
Plötzlich stand der Meister hinter ihm:
„Was soll der Unsinn! Pack die Sachen ein.“
Er setzte sich an das Feuer, unterhielt sich sogar leise mit den Flammen und aß dabei den Brei und trank den Tee, während Balian ihr Lager abbrach. Zum Schluss machte der alte noch eine merkwürdige Geste am Feuer, die wie ein Dank, oder eine Verabschiedung zwischen Freunden wirkte. Es war seltsam anzusehen. Er berührte sein Herz, dann seine Lippen, seine Stirn und führte dann seine Hand sich öffnende Hand zurück zu seinem Herzen. Das Feuer knisterte, flackerte kurz und erlosch vollkommen rauchfrei. Der Meister schulterte jene Habseligkeiten, die er selbst trug und weiter ging die Reise.

Sie waren schon eine Weile unterwegs als sie der Weg an eine Gabelung führte. Ein verwitterter Wegstein sollte hier dem Reisenden eigentlich die Richtung weisen, doch irgendjemand hatte grob darauf eingeschlagen und die Bruchstücke langen verstreut im Gras herum. Natürlich war es Balians Aufgabe das Puzzle zusammen zu fügen, während der Meister eine kleine Mahlzeit am Wegrand einnahm. Es dauerte eine ganze Weile bis der Lehrling Erfolg hatte und wenigstens zwei Richtungen wieder her stellen konnte.
Die eine war wohl, die Richtung aus der sie kamen, Grandea.
Bei der anderen fehlte ein Stück am Anfang des Wortes. Es war nur
„...erna“
zu entziffern. Balian war noch nie außerhalb Grandeas gewesen, aber er wusste, dass es drei Dörfer im Königreich gab: Troman, Berna und Alberna. Troman schied als Ziel sowieso aus, da jeder in der Stadt wusste, dass es nahe der Front zu Jorsa lag und dort die königlichen Truppen, sowie einige kleinere Regimente der Dunkelelfen dort unterwegs waren. Vielleicht erinnerte er sich an noch ein bisschen mehr, aber da es ihm gleich war, wohin der Meister ihn führte, wies er ihn auf die Bruchstücke hin und der Meister entschied nach einigem missmutigen Gemurmel über Vandalen, dass sie den linken Weg nehmen würden. So ging der lange Fußmarsch weiter, sehr zu Lasten von Balians geschundenen Füßen. Auch die Ledergurte der Taschen schienen mit jeder Stunde tiefer in sein Fleisch eindringen zu wollen. Sogar seine Hände brannten wieder ein wenig mehr und eine Pause war dringend nötig.

Die Landschaft änderte sich langsam und Balian merkte, dass er sich mehr und mehr von seiner Heimat entfernte. Die Stadt, die er nie verlassen hatte, lag schon lange hinter ihnen und derzeit dominierten Felder das Bild, auch wenn in der Ferne schon erste dichte Wälder in der ansteigenden Gegend zu erkennen waren. Bauern grüßten hin und wieder oder starrten ihnen nur argwöhnisch hinterher. Am Wegesrand fanden sie einige Kräuter, die sie gut gebrauchen konnten und so duldete der Alte, dass sie ihr Tempo verlangsamten und Balian einige sammeln konnte. Kamille wuchs hier viel, Brenneseln und einige Ähren auf den Feldern waren schwarz verfärbt. Ein Bauer, der mit seiner Sichel gerade sein Feld aberntete kam etwas näher, als er beobachte, wie die beiden Wanderer hin und wieder etwas vom Wegesrand zupften:
„Vorsicht, mein Junge!“
, sprach er den jungen Magier an. Er war bestimmt schon über 50 Sommer, wirkte aber noch rüstig. Sein Haar war schon weiß, wie auch sein Bart. Er war hager und drahtig gebaut, mit gegerbter Haut von der Arbeit auf den Feldern. Sein Blick wanderte in Balians Gesicht und seine Augen weiteten sich ein Stück. Der junge Magier fühlte den Blick auf seinen Narben, aber der Bauer sprach einfach weiter:
„Was du da pflückst ist Mutterkorn! Wenn du nicht krank werden willst, lass lieber die Finger davon.“
Der Meister hielt sich im Hintergrund und musterte seinen Schüler mit dem Bauern, wie diese sich austauschten. Balian erfuhr auf Nachfragen von dem gesprächigen Mann, dass Mutterkorn als Heilpflanze, wie auch als Droge eingesetzt werden konnte, aber immer mit Vorsicht zu genießen sei.
„Der Mutterkornpilz ist ein Parasit, der sich während der Getreideblüte an der Frucht festsetzt. Schau die breiten, blauschwarzen, kornähnlichen Gebilde an. Das Mutterkorn ist wesentlich größer als ein Getreidekorn und daher recht auffällig. Vor allem bei den schlechten Ernten in letzter Zeit sprießen sie wie verrückt! Man muss aufpassen, dass nichts davon ins Mehl gerät, kann ich dir sagen! Verdirbt alles, kann ich dir sagen!"
Der Mann redete gerne und erfreute sich anscheinend an der unverhofften Gesellschaft.
„Das Zeug ist wirklich giftig. Hast du schon mal von Florencias Feuer gehört? Soll ne schlimme Krankheit sein, die man davon bekommen kann. Aber die Dunkelelfen lieben das Zeug und machen sich sogar Drogen daraus. Lass da aber lieber die Finger von, Junge. ...“
Der alte Meister näherte sich langsam von hinten und der Bauer nickte ihm grüßen zu, wandte sich doch dann ab.
„Ich wünsche euch noch eine gute Reise. Muss heute noch viel schaffen. Alberna ist ist mehr weit, da wollt ihr doch hin, oder? Liegt gleich hinter dem nächsten Hügel.“
Er griff wieder nach seiner Sense, winkte damit zum Abschied und lief langsam auf sein Feld zurück wo er in einem stetigen, fast meditativen Rhythmus sein Werkzeug schwang. Ein netter Mann, wenn auch ein wenig einsam wirkend. Wer so weit ab der Hauptstadt wohnte, der freute sich über jedes Gesicht.

Der nächste Hügel offenbarte dann tatsächlich den Blick auf ein kleines Dorf, das eingebettet in ein sanftes Tag malerisch sich an einen kleinen Bach schmiegte. Der Meister blieb neben Balian auf der Kuppe stehen und sie schauten einen Moment auf die vor ihnen liegende Szenerie. Seine Hand stützte sich auf Balians Schulter. Die Geste hätte fast väterlich wirken können, wenn da nicht sein starrer Blick voraus gewesen wäre.
Ein paar Felder säumten noch den Weg, aber die Straßen waren hier breiter. Alberna war schon immer ein wichtiger Handelsknoten des Landes. Es verband Berna, das Landesinnere des Königreiches mit dem Rest von Celcia und war das Tor zum Westen. Die Einheimischen nannten es die Kornkammer Grandessas, für Reisende war das Dorf eher ein Umschlagplatz für Güter und Informationen.
„Wir werden heute Nacht dort unter kommen. Ich muss noch etwas besorgen, bevor wir weiter reisen... Es gefällt mir nicht und ich hoffe, dass dort keine Dunkelelfen sind... Falls wir welche sehen, halte dich bedeckt.“
Damit setzte er sich wieder in Bewegung, in Richtung der langsam unter gehenden Sonne. In weniger als einer Stunde würden sie in Alberna ankommen.

Re: Der Scheideweg

Verfasst: Mittwoch 31. Juli 2019, 17:10
von Erzähler
(Mia kommt von: Ein kleines Schäfchen, zwei kleine Schäfchen...)

Eine ganze Weile ging es sehr mühevoll voran, denn die Wege zwischen den Feldern und Weiden waren kaum als solche zu erkennen. Als Trampelpfade zogen sie sich durch die Gegend und verlangsamten die beiden „großen“ Mädchen. Fidel kümmerte sich vorerst um die Herde und bot dann nach einer Weile, ganz von selbst, seine Hilfe an. So wechselten sie sich ab und kamen dann doch recht gut voran. Auch das Wetter war ihnen hold und so konnten sie die Reise eine Weile genießen.
Sie zogen durch flache Landschaften, ohne große hügelartige Erhebungen oder Gebirge, die vor allem in der Zeit des Erwachens und der Zeit des Wandels morastartige Teilgebiete aufweisen konnten. Solche saisonal bedingten Moore entstanden durch Hochwasser von der Küste her und den erhöhten Niederschlag, wenn eine kältere Jahreszeit herein brach, doch noch waren sie davor verschont geblieben. Generell ließ sich durchaus sagen, dass Grandessa ein Landschaftsgebiet mit viel Niederschlag ist. Dennoch blieb es auch in der Zeit des Übergangs immer warm genug, dass nicht das ganze Land in Eis erstarrte. Das Wetter heute war mild und auch wenn immer wieder Wolken über den Himmel jagten, so war der Wind noch warm und auch der ab und an einsetzende leichte Nieselregen störte nicht. Es war gutes Wanderwetter.
Die Landschaft war geprägt von einem vielfältigen Bewuchs aus verschiedenen Nadel- und Laubbäumen, meist zu kleineren Wäldchen zusammengefasst, um die sich in Hochwasserzeiten Bäche und Strömungen, sowie morastische Tümpel und Sumpfteiche bilden. Selbst jetzt sah man hier und da so etwas wie kleine Flussbetten, die noch kein Wasser führten. Doch wenn die Zeit kommen würde, so ragten die Wälder oftmals wie kleine Inseln aus dem Land heraus, die dann kaum zu erreichen waren.Die hohe Feuchtigkeit der Landschaft sorgte allerdings auch für einen überaus fruchtbaren Boden. So wird in Grandessa weniger Wert auf Jagd, als vielmehr auf Ackerbau und Weideland gelegt. Die Viehzucht bildet eine wesentliche Nahrungsgrundlage für jeden Grandessarer und in der Zeit des Erwachens zieht es Pflanzenkundige, sowie Kräutersammler gern ins Landesinnere, um dort die Vorräte aufzustocken. Eine diese Liebhaberinen lief gerade neben Mia und zog gemeinsam mit Fidel den Wagen. Die drei wählen Wege, die zwar für den Wagen gerade so geeignet waren, aber wo sie nicht all zu vielen Leuten begegneten, denn noch etwas anderes prägt Grandessa:
Die andauernde Kriegszustände mit dem im Fehde gelegenen Königreich Jorsan machten die Landschaft vor allem an den Grenzen zu weiten Teilen unfruchtbar. Zu viel Blut war dort geflossen, zu viel des kostbaren Lebenssaftes hat den Boden getränkt. Unfruchtbarkeit war die andauernde Folge, wo jetzt einzig eine besonders wiederstandsfähige Distelart gedeiht. Lisa erzählte auf dem Weg davon und erzählte aber auch noch etwas anders in diesem Zusammenhang:
"Wir sollten uns von den großen Straßen fern halten. Das bedeutet, dass wir länger brauchen, aber das dunkle Volk ist dort vermehrt unterwegs."
Mia hatte bisher zum Glück und weil gütige Götter eine schützende Hand über sie gehalten hatten, noch kaum Kontakt zu den Dunkelelfen oder ihren Schergen den Orks gehabt. Es war bekannt, dass Morgeria als Verbündete angesehen wurden, doch außer dem Adel und den König selbst, brachte das dem Volk von Grandessa kaum Vorteile.
"Ich hoffe, dass wir keinen von denen über den Weg laufen."
Finster starrte sie vor sich hin, aber auch Sorge ließ sie sich immer wieder umsehen.
"In Alberna sind sie kaum aktiv, aber die Hauptstadt ist nicht weit weg. Warst du schon mal in Alberna? Es liegt wenige Kilometer vor der Stadt, es ist sozusagen die Vorhut. Dort ist eines der wichtigsten Handelszentren, neben der Stadt. Auch viele Bauern leben dort, welche rundum ihre Felder bestellen. Neben Grandea ist es vermutlich noch der beste Ort zum Leben... und Grandea ist nur gut zu einem, wenn man Geld hat. Wir sollten Grandea weiträumig meiden, was meinst du?“

Re: Der Scheideweg

Verfasst: Sonntag 4. August 2019, 01:41
von Mia
Knarrende Holzreifen auf knirschendem Grund, ein Wind der nicht zu stark wehte aber Kühle brachte und ein Wolkenspiel am Himmel, was Fantasie-Schlösser, dreibeinige Katzen und fliegende Einhörner gebar, so waren die Tage gestaltet, die Mia, Fidel und Lisa miteinander verbrachten, während sie angefüllt mit Durchhaltevermögen und Zielstrebigkeit, ihren Weg in Richtung des Hofes von Job Logerfleld fortsetzten. Mia freute sich. Ja, denn zum ersten Mal seit langem hatte sich Fidel wieder einigermaßen ruhig verhalten, zwar nicht mehr so sorglos und naiv wie früher aber doch so, dass sich die Hirtin nicht mehr wie eine Schuldige vorkommen musste, die emsig den Fehler in ihrem Verhalten suchte. Nein, er bot sogar selbständig an, den Wagen zu ziehen und beschwerte sich nicht über die Arbeit die sie verrichten mussten. Sie war zufrieden, denn die Entscheidung, ihn mit Bauer Wenzel alleine zu lassen, war wirklich gut gewesen und nun zeigten diese Gespräche erste Wirkung. Blieb nur zu hoffen, dass dies anhalten würde. Aber Mia verzichtete darauf, ihre Gedanken allzu weit in die Zukunft zu lenken, denn vermiesen wollte sie sich diesen Augenblick nicht. Sie besaßen Essen, Geld und ein Ziel. Mehr wollte die Hirtin für sich und ihre Schützlinge vorerst nicht. Trotzdem hieß das nicht, dass Mia sorglos neben den anderen beiden hertrottete und die Schafe vor sich her trieb, als gäbe es nichts Böses in der Welt. Vorsicht und Wachsamkeit waren Tugenden, die sie sich hatte angewöhnen müssen, denn selbst wenn sie weit weg von der Front waren, die mehr und mehr kriegsverdrossene, frustrierte Soldaten ausspie, die sich sonst was mit den Einwohnern des Landes erlaubten, auf ihrer Flucht vor ihrer Pflicht, so gab es doch nun auch eine Gefahr, der Fidel und Mia zum Glück bislang noch nicht begegnet waren. Das dunkle Volk. Es gab Geschichten über sie, doch immer, wenn eine solche ihr Ende gefunden hatte, beteuerte sie in ihrer Schlusspointe noch einmal, dass es noch weitaus schlimmere Erzählungen gab und das man besser weghörte, wenn man zu seinen Lebtagen noch einmal ruhig schlafen wollte. Das schlimmste an diesen Geschichten war nämlich, dass sie einer grausamen Wahrheit entsprachen, die irgendeine arme Seele auf dieser Welt am eigenen Leib erfahren hatte, nein ganze Siedlungen und Dörfer zugrunde gerichtet hatten. Wie konnte Grandessa mit diesen Kreaturen der Finsternis einen Pakt schließen? Es war Mia nicht in den Kopf gegangen, doch sie musste damit leben oder besser: sie musste versuchen diese scheußliche Tatsache aus ihrem und dem Leben ihres Bruders fern zu halten und das war ihr in den bisherigen vier Jahren zum Glück ganz gut gelungen. Sie blieben also dabei die gut befahrenen Straßen zu meiden und über weite Flur Ausschau zu halten. „Nein, ich will ihnen auch nicht begegnen.“, gab die junge Hirtin also kund und die Sorge es könne doch eben das passieren, beherrschte für einen Moment die Atmosphäre rund um die Reisegruppe. Auch wenn die Schafe weiter blökten und in trippelnden Schritten vor ihnen hermarschierten und auch wenn die Landschaft in ihrer malerischen Ruhe eine gewisse Sicherheit vermittelte, war die Angst der Reisenden doch nur allzu deutlich zu spüren.
„Nein, wir waren noch nie in Alberna.“ Doch gesehen hatten sie es schon mal. Von weitem. Es war nicht gerade so, dass sie nie mit dem Gedanken gespielt hatte, nach Alberna zu gehen, jedoch hatte es irgendwie immer andere Ziele gegeben. „Ja...“ fügte sie gedankenverloren an, denn um die Dunkelelfen und Orks zu meiden hatte sie auch Grandea gemieden. Sie hatte nichts dagegen, dieses Verhalten beizubehalten. „Wie lange brauchen wir wohl noch bis zu diesem ...Schafszüchter? Kennst du ihn?“ Dann richtete sie ihren Blick in die Ferne und schmälerte ihn um eine Winzigkeit. „Ich frage mich, was das für Schafe sind. Angora... Hast du solche schon einmal gesehen?“

Re: Der Scheideweg

Verfasst: Montag 5. August 2019, 21:48
von Erzähler
„Nein, ich will ihnen auch nicht begegnen.“
, gab die junge Hirtin also kund und die Sorge es könne doch eben das passieren, beherrschte für einen Moment die Atmosphäre rund um die Reisegruppe und unangenehme Stille legte sich über das Land, als wenn allein die Erwähnung des dunklen Volkes, dieses herauf beschwören könnte. Sogar Fidel, der sonst so unschuldig und verspielt in die Welt geschaut hatte, war still geworfen und schaute sich aufmerksam und ein wenig ängstlich um. Weit hinten am Horizont zwischen den Feldern war eine kleine Staubwolke zu sehen, doch sie kam nicht näher. Das Schweigen hielt, bis Mia die andere Frage beantwortete und sich damit der Knoten in ihrer aller Bäuchen wieder löste.
„Nein, wir waren noch nie in Alberna.“
Doch gesehen hatten sie es schon mal. Von weitem. Es war nicht gerade so, dass sie nie mit dem Gedanken gespielt hatte, nach Alberna zu gehen, jedoch hatte es irgendwie immer andere Ziele gegeben.
„Wie lange brauchen wir wohl noch bis zu diesem ...Schafzüchter? Kennst du ihn?“
Dann richtete sie ihren Blick noch einmal in die Ferne und schmälerte ihn um eine Winzigkeit. Ihr Gesichtsausdruck wirkte dabei sehr angestrengt und nachdenklich.
„Ich frage mich, was das für Schafe sind. Angora... Hast du solche schon einmal gesehen?“
Lisa schüttelte bei den Fragen den Kopf und meinte dann:
„Ich hab von beidem nur gehört, hab sie nie gesehen, weder den Züchter, noch seine Schafe. Ich weiß nur das, was man sich so in der Umgebung erzählt, was die alten Weiber bei uns so tratschen und auf deren Worte gebe ich nicht viel. Sie sind alle samt bösartige und gemeine...“
Lisa biss die Zähne aufeinander, bevor ein arg unfeines Wort ihr in der Gegenwart des Jungen heraus schlüpfen konnte. Da schwang wohl unausgesprochene eigene Erfahrung mit. Sie sah auf die kleine Herde und ihren Wagen, zuckte dann mit den Schultern und sprach weiter:
„Ich denke, ein paar Nächte unter freiem Himmel werden wir brauchen. Mit unseren kleinen Wollnasen kommen wir halt langsam voran und einen Umweg machen wir ja auch. Aber Sicherheit geht vor.“
Sie lächelte dabei aufmunternd und sah auch zu Fidel. Dieser lächelte sogar kurz zurück und dirigierte dann ein Schaf zurück zur Herde, dass gerade eine kleine Staude leckeren Löwenzahn gefunden hatte.

So reisten sie eine Weile weiter, erzählte sich allerlei kleine Geschichten und später kam das Gespräch noch einmal auf den Bauern Logerfeld und was man sich so erzählte. Dieses Mal hatte Fidel nach gefragt, dem das Thema wohl auch noch im Kopf herum spukte. Lisa wand sich etwas, aber rückte dann doch mit ihrem Wissen heraus:
„Trude, dieses dumme Weib vom Bauer Eckhard, die hat erzählt, dass der Mann nur geheiratet hat um die Gerüchte zu zerstreuen, dass er eigentlich auf junge Kerle steht. Meiner Meinung nach, spricht aus dieser Frau nur der Neid. “
Fidel sah plötzlich äußerst irritiert aus und murmelte leise etwas von:
„... aber das geht doch garnicht...“
Lisa sprach auch schnell weiter:
„Sie hat auch gesagt, dass sein Hof der einzige Wolllieferant für den Königshof sei. Deshalb sei er auch so reich. Er soll sogar seine eigene Spinnerei haben, Weber und Schneider. Ach ja, und einen unverheirateten Bruder hat er wohl auch. Der soll wohl der „Prachtkerl“ der Familie sein und wohnt in Alberna, wo sein Bruder sein Land nicht weit von hier hat.“
Lisa kratzte sich am Kopf und überlegte kurz.
„Die Wegbeschreibung meines Vaters gab an, dass wir uns nördlich halten sollen und dann...“
Sie sah sich nach einer Landmarke um und entdeckte sie dann auch.
„Dort hinten müssen wir noch durch ein Trockenmoor, dahinter sollte Lagerfelds Land beginnen. Bis nach Alberna ist es noch weiter. Ich begleite dich zu diesem Bauern, aber davor müssen wir noch zur Spinnerin.“
Gesagt, getan.

Am Abend erreichten sie eine kleine, schon arg in die Jahre geratene Hütte, die malerisch vor einem verwunschenen wirkenden Moor lag. Nur dass der Maler einen Hang zu dunklen und gruseligen Themen gehabt haben musste, als er diese Landschaft erschuf. Die Bäume waren hier knorrig und schief, oft tot. Die Gräser wuchsen dick und Wurzeln luden zum stolpern ein. So manch ein Tier, so manch ein Zweibeiner, fiel mit der Nase voran, doch das dicke Moos überall auf den moderigen Ästen und Steinen federte und verhinderte ernsthafte Verletzungen. Sogar das Hausdach war von Moos komplett überwuchert.
Lisa klopfte an der etwas schief in den Angeln hängenden Tür, doch niemand antwortete. Dafür schwang die Tür durch den Druck einen Spalt auf und zeigte ein im Halbdunkel liegendes kleines Heim. Mehrere Spinnräder fielen einem sofort auf und ein aufgerissener fast leerer Jutesack mit Wolle lag daneben. Rings herum hatten sich die kleinen Wollwolken auf dem Boden verteilt. In der Kochstelle hing ein Topf und darunter brannte noch etwas Glut. In der anderen Ecke des Raumes saß eine Gestalt in einem Schaukelstuhl und schlief anscheinend.
Lisa trat in den Raum hinein und ging vorsichtig auf die Gestalt im Stuhl zu. Etwas an der Szenerie ließ einen die Luft anhalten.
„Frau Sila?“
fragte Lisa in die vollkommene Stille hinein...
War die Frau tot? War sie garnicht da und da saß ein Fremder, der sie gleich überfallen würde, so wie im Märchen, wo das Böse den Platz der Großmutter einnahm???
Ein lautes Grunzen, ließ alle zusammen zucken und verwandelte sich im nächsten Moment in ein sonores Schnarchen!
Puh!
„Frau SILA!“
sprach nun Lisa etwas lauter und trat an ihre Seite. Erst als sie die Frau an der Schulter berührte zuckte diese unwillig und murmelte etwas unverständliches. Dann machte sie aber doch die Augen auf und fragte mit knarrender lauter Stimme:
„HILDE, BIST DUUU DAS?“
Frau Sila brüllte eben wie jemand der schwerhörig war.
„Nein Frau Sila, ich bin es Lisa Wenzel.“
„LILA SCHWÄNZE?“
„NEIN, ICH BIN ES. LISA WENZEL. ICH BRING EUCH NEUE WOLLE!“
Die schwerhörige Frau richtet sich nun doch in ihrem Stuhl auf und fuchtelte gebieterisch in eine Richtung.
„MACH DOCH DIE LAMPE AN, KIND! ICH SEH JA GARNIX!“
Lisa nickte und eilte zu einer Lampe, die auf einer windschiefen Kommode stand, die nur noch aus guter Absicht zusammen die Seitenteile zusammen hielt. Das Holz war schon so verzogen, dass die Schubladen schräg in den Führungen hingen und sicher furchtbar klemmten. Lisa nahm die Lampe oben auf, holte einen Holzspan vom Kaminsims und entzündete die Lichtquelle.
„AH, DIE WENZEL-TOCHTER! UND WER SEID IHR?“
Damit wies sie auf Mia und Fidel, die noch nah der Tür standen. Brav stellten sie sich vor.
Dann wandte sich Lisa wieder deutlich und laut sprechend an die alte Frau:
„Ich habe euch neue Wolle mitgebracht.“
„DAS IST GUT, KIND!“
Das Gebrüll zwischen Lisa und Frau Sila ging weiter, während Lisa Mia und Fidel mit einem Handzeichen bat, die Wolle von draußen rein zu holen. Sie diskutierten lautstark über die fallenden Preise und die schreckliche Lage im Land. Viel weniger Silber als gehofft, wechselte den Besitzer und Frau Sila dankte laut den Göttern:
„LYSANTHORS LICHT AUF UNEREN WEGEN! ... DOCH LANG WERDEN SICH MEINE SPINNRÄDER NICHT MEHR DREHEN. ICH SPÜHR DAS ALTER IN DEN KNOCHEN UND KANN KAUM NOCH DIE NADEL HALTEN! MEIN GUTER SEELIGER EGON IST LANG VOR MIR GEGANGEN UND SEIT DEM LEBE ICH HIER ALLEIN.
ICH WEISS NICHT OB ICH MICH GLÜCKLICH SCHÄTZEN SOLL ODER NICHT, SO WEIT AB VOM WEG ZU WOHNEN? SO FINDET MICH GEVATTER TOD UND AUCH DIE DUNKLEN NICHT UM MEIN LEID GEPLAGTES LEBEN EIN ENDE ZU BEREITEN! EINZIG HILDE KOMMT MICH NOCH BESUCHEN UND BRINGT MIR WEIN UND BROT IM TAUSCH FÜR GELD UND GARN.“
Sie seufzte schwer und faltete die Hände andächtig vor der hageren Brust. Die alte Sila war ein Jammerbild der grandessanischen Unterschicht. Vielleicht hatte deshalb Lisa auch nicht groß gehandelt und den Löwenanteil der alten Frau überlassen.
„IHR KÖNNT HEUTE NACHT HIER RUHEN, WENN IHR WOLLT?“
Lisa wechselte einen kurzen Blick mit Mia. Eigentlich wollten sie noch an diesem Tag den Hof von Job Lagerfeld erreichen. So weit war es nicht mehr, aber sie würden wohl in die Nacht hinein laufen müssen. Die Sonne stand schon tief und der Himmel begann sich rot zu färben. Die alte Frau bemerkte wohl Mias gehetzten Blick und sprach:
„IHR HABT ES EILIG! JA JA, DIE JUGEND! IMMER IN EILE. WARTET, ICH BEGLEITE EUCH HINAUS...“
Sie erhob sich umständlich und wackelte dann mit vor die Hütte. Sie begutachtete kurz noch den nun leeren Handkarren und Lisas schicken Korb auf dem Rücken und schüttelte dann deren Hand liebevoll.
„ICH WÜNSCH EUCH SICHER PFADE UND GLÜCK IM LEBEN...!“
So wie sie es sagte klang es merkwürdig endgültig und als Mia, Lisa und Fidel sich nach einer Weile zu ihr umsahen, stand sie immernoch einsam vor ihrer Hütte.
Es war schon traurig. Einsamkeit und Leid hatte diese früher sicher lustige Frau gebeutelt und gebrochen. Lisa meinte:
„Frau Sila war früher eine echte Schönheit und so fleißig und flink mit dem Spinnrad, dass sie ganz bekannt war. Sie hatte das Talent die Wolle so fein zu spinnen, dass sie Aufträge aus dem ganzen Land bekam. ...Heute ist sie arm und alt. Ihr Mann ist tot... Er … Als er das Alter nahen spürte, gestand er ihr, dass dafür nicht den Mut hätte und ging in die Wälder. Er kam nie zurück.“
Die Stimmung war nach diesem Besuch etwas gedrückt, aber gleichzeitig auch von einer gewissen Hektik erfüllt. Sie mussten sich beeilen, den Hof zu erreichen, damit Mia noch für den Auftrag vorsprechen konnte, bevor sich zu viele Schäfer eingefunden hätten und die Chance vergeben war. Zügig trieben sie also die kleine Herde durchs Moor. Zum Glück war der Boden um diese Jahreszeit noch trocken und der Torf gut begehbar. Dann erreichten sie eine kleine Anhöhe und Lisa zeigte mit ausgestrecktem Arm auf ein kleines Glitzermeer aus Lichtpunkten das in der Abenddämmerung vor ihnen lag.
„Das muss es sein. Wir sind fast da.“
Endlich lächelte auch wieder Fidel und stupste seine Schwester von der Seite an.
„Mia...? ...“
Sie sah ihn an und er grinste:
„Jetzt wird alles besser, oder?“
Auch Goliath gesellte sich kurz zu ihnen und rieb seinen Kopf an Mias Hüfte. Zum Streicheln blieb er jedoch nicht, sondern kannte schon wieder Anne hinterher, die den Hügel schon hinab gelaufen war.
„Wir sollten ihm folgen.“
, meinte Lisa und lief den kleinen Abhang hinunter.

Schon bald hatten sie die äußeren Weiden des Landsitz der Lagerfelds hinter sich gelassen und passierten ordentliche Zäune, Hirten und Wächter auf Hochsitzen die ihnen gern den Weg wiesen, wenn gleich so mancher einen eher „Nase-rümpfenden-Blick“ auf ihre Schafe warfen. Es gab auf jeder Weide eine Tränke und Heuballen. Es gab Stallungen und Unterstände, damit die Tiere nicht nass wurden, wenn sie nicht wollten. Dann gesellten sich die ersten gepflegten Bauten zwischen die Wiesen. Hübsches Fachwerk und dicke Natursteine wechselten sich ab. Es roch überall frisch und sauber, als würden Schafe keine Köddel scheißen, sondern Klee. Höchst seltsam... Lisa wurde etwas unruhg und zupfte an ihrem Kleid herum um sich so respektabel wie eben möglich dar zu stellen. Plötzlich hielt sie an und sah Mia ernst an.
„Warte...“
Sie nahm ihren Rucksackkorb ab, legte ihn auf den Karren und kramte darin nach einem Kamm, wie sie leise murmelte, doch was sie dann heraus zog ließ sie blass werden. Langsam richtete sie sich auf und hielt einen kleinen Lederbeutel in der Hand. Fassungslos sah sie in an und schüttelte immer wieder den Kopf.
„Sie hat... Sie hat doch nicht... Mia, du musst das hier allein machen! Ich muss schnell zurück zu Frau Sila!“
Sie sah Mia an und da erkannte auch diese den kleinen Beutel, in dem es leise klimperte, eben jener Beutel mit Geld, den die Wenzel-Tochter für die Wolle von der alten Frau bekommen hatte, nur dass er deutlich dicker wirkte.
„Ich glaub, sie will in den Wald!“
, flüsterte sie atemlos und blinzelte mit den Augen. Die Tränen kamen trotzdem.
„Ich hol auch morgen ein. Nimm du den Karren. Dann machen wir uns hoffentlich gemeinsam mit vielen neuen Wollnasen nach Alberna auf. Ich wünsch dir Glück.“
Dann drehte sie um und rannte den Weg zurück, den sie gekommen waren. Da war Mia wieder allein mit Fidel und der stellte sich nah neben sie. Plötzlich fühlte sie sogar seine Hand in ihrer – Etwas, dass er lange nicht mehr getan hatte.
„Hab keine Angst, wir schaffen das … gemeinsam. Ich bin bei dir. Und … die Lisa wird hoffentlich die alte Frau noch finden.“
Versuchte ER SIE zu trösten? Normaler Weise war das wirklich IMMER anders herum gewesen!
Fidel hatte sich verändert!
Er wurde erwachsen.
„Komm, lass uns gehen.“
Fidel pfiff nach Goliath der immer häufiger knurrend durch die Gegend lief und Streit mit fremden Hunden und Menschen suchte. Um so näher sie dem Haupthaus kamen, um so garstiger wurde er, bis sie ihm eine Leine anlegen mussten. Die Geschwister liefen weiter, passierten kleinere Stallungen für Pferde und kamen dem Zentrum immer näher, wo sie Gelächter und Gesang hörten. Jemand spielte auf einer Klampfe und irgendjemand schlug einen blechern klingenden Takt dazu. Fehlte noch eine Flöte für die Melodie.
Das Haupthaus präsentierte sich zweistöckig und herrschaftlich in der rot untergehenden Sonne. Es war mit weißer Kalkfarbe gestrichen. So etwas hatte Mia noch nie von nahem gesehen! ...Oder überhaupt? Es hatte Säulen die das vorgezogene Obergeschoss hielten und darauf standen ein paar Leute wie auf den Terrassen der Weinbauern. Die Leute da oben sahen fein aus und hielten feine Kelche in ihren Händen, während die deutlich mehr Personen unten, einfache Krüge hatten und von hölzernen Tellern speisten. Trotzdem hörten sie die gleiche Musik und lachten über den gleichen Unsinn. Der ganze Hauptplatz war mit Fackeln erleuchtet und war das Zentrum des abendlichen Lebens. Ein Brunnen zierte rund die Mitte und um ihn herum standen Bänke und Tische aufgebaut. Andere Hirten und Mägde, Feldarbeiter und Knechte saßen hier zusammen und beäugten neugierig die Neuankömmlinge. Fidel hielt sich jetzt doch noch etwas zurück und es war ja auch Mias Aufgabe Kontakt zu suchen.
Kontakt fand sie dann auch schneller als erwartet.
Ein junger Mann von Ende 20 oder Anfang 30 sah sie, stand auf und schlenderte auf sie zu. Er lächelte freundlich und seine Augen glitzerten nett. Er war groß und gut genährt, stattlich würde manch einer sagen, vielleicht ein klein wenig zu lang für sein Gewicht, aber er hatte freundliche blaue Augen, die im Schein des Feuers nur so funkelten. Das ein solches Exemplar Mann noch nicht an die Front eingezogen worden war, war schon erstaunlich. Seine Nase hatte er sich wohl schon mal gebrochen, aber das gab seinem Gesicht etwas schelmisches und der Mund war zu einem Schmunzeln verzogen, als er sich vor sie stellte:
„DA BIST DU JA!“
Mia wirkte sichtlich irritiert. Hatte man sie erwartet? Sicher nicht. Der junge Mann zwinkerte verstohlen und raunte ihr eilig zu:
„Ich heiße Leif. Spiel mit, dann bekommst du...“
Er ließ kurz seinen Blick schweifen.
„... ihr was umsonst zu essen. Das fällt keinem auf.“
Er lachte und sprach wieder laut, so dass es sicher einige der Umstehenden hören konnten:
„SCHÖN DASS DU ES NOCH GESCHAFFT HAST! KOMM ICH STELL DICH DEN ANDEREN VOR!“
Abermals senkte er die Stimme:
„Schnell, wie heißt du?“
Was ging hier vor? Sollte sie mitspielen oder lieber grade raus sagen was sie wollte? Leif trat auf sie zu und war im Begriff seine Hand in vertrauter Geste auf ihre Schulter zu legen. Irgendwo hinter ihr grollte es tief, aber Fidel hatte Goliath an der Leine. Der Hund konnte in solchen Momenten ein echtes Problem sein, wenn man ihn nicht kurz hielt. Selbst wenn Leif der freundlichste Mann der Welt wäre, würde der Wolfshund ihn einfach zerfleischen und nachher sogar freudig mit dem Schwanz wedeln. Mit Männern hatte er es nicht so und hatte sie schon zuweilen damit in Schwierigkeiten gebracht. Bei Frauen war er schnell zugänglicher. Leif jedoch war ein Mann und roch so aus der Nähe nach Heu, Holz und dem Fleischstück was er noch in der anderen Hand hielt. Er hatte Werkzeug am Gürtel. Eines erkannte Mia auch sofort. Es war ein Hufausschaber für Pferde. Leif war vermutlich hier Stallbursche.
Mias Blick glitt noch kurz über die abendlich zusammen gekommene Menge. Da winkte ihr eine rundliche Frau mit der Kelle, hier sah sie einen Mann einen Krug Bier in sich hinein schütten und dort rannten Kinder hinter einem Welpen her. Dazwischen saßen Menschen und genossen ihren Feierabend. Auf dem „Oberdeck“ ging es anders zu. Da hatten die Tische weiße Tücher und man aß mit Besteck.

Re: Der Scheideweg

Verfasst: Donnerstag 8. August 2019, 22:44
von Mia
Mia konnte nicht behaupten, dass sie jemals an so einen Ort gekommen war. Ihre Welt war bislang von einfachen Freuden, praktischer Kleidung, abwechslungsarmer Nahrung und dem Schmutz des Alltags geprägt gewesen. Ein Luxus wie „Sauberkeit“ hatte sie sich bei alledem natürlich nicht leisten können und so war alles und jeder der saubere Fingernägel und oder duftende Haare besaß für sie wie aus einer anderen Welt. Adlige, reiche Händler und derlei Gestalten eben.
Ebenso surreal kamen ihr die Weiden vor, die so penibel gepflegt und scharf abgegrenzt waren, dass man meinen konnte, jemand wäre mit einem riesigen Besen drüber gegangen und hätte danach alles feinsäuberlich mit spitzen Fingern geordnet. Selbst die Menschen, denen sie hier begegneten glichen keinen gewöhnlichen Hirten, wie Mia sie kannte. Es waren keine Reisenden, die mit zerlumpter Kleidung von Dorf zu Dorf wanderten sondern selbstbewusste – und wie Mia schnell merken sollte, auch sehr überhebliche – Männer, die vergessen zu haben schienen, wie ihr Gewerbe einst mal angefangen hatte. Mia tat alles für ihre Herde und pflegte sie so gut sie konnte, aber das schien diesen Herren hier kaum zu reichen. Aber das war auch kein Wunder, wenn man so verdammt frische Luft atmen durfte. Wie war das überhaupt möglich? Ein Rätsel nach dem nächsten reihte sich hier auf, weiter ging es nämlich damit, dass Lisa – ja, sie hatte sich ihren Namen endlich merken können - plötzlich anhielt und ihren Weidenkorb von den Schultern hob.

Da war diese Sache gewesen. Diese Sache mit dieser Spinnerin, die bereits ihre besten Tage hinter sich hatte und ganz allein in ihrem Haus verweilte. Mia hatte bereits wieder vergessen wie sie hieß, allerdings war ihr in Erinnerung geblieben wie schwerhörig sie war und wie leid sie der Hirtin getan hatte. So ganz allein in einem so großen Haus zu enden... wer wollte das schon? Allein sein...
Ihr Mann sollte in den Wald gegangen und nie wieder gekommen sein. Warum er das getan hatte, war der jungen Frau nicht ganz klar, vielleicht ertrug er es nicht alt zu werden? Krank und gebrechlich zu sein? Das war absolut kein Zuckerschlecken, das wusste Mia genau. Ihre eigenen Großeltern hatten unzählige Probleme, angefangen bei harmloser Appetitlosigkeit, bis hin zu unkontrolliertem Wasser lassen und starker Vergesslichkeit...Es war, als hätte man plötzlich viel zu alte Kinder, die man rund um die Uhr versorgen musste. Wie schaffte ihre Mutter das bloß?
Vor allem jetzt, da Fidel und sie nicht mehr da waren? Half ihr Vater ihr? Bestimmt nicht. Waren ihre Großeltern vielleicht schon gestorben?

Als Mia Lisas Blick sah und darin las, dass etwas nicht stimmte, runzelte sie fragend die Stirn. Auf eine Antwort musste sie nicht lange warten. Denn der schwere Geldbeutel, den die Bauerstochter da emporhob war eben genau das. Schwer. Schwerer als er sein sollte und da brauchte es nur noch ein geflüstertes Hauchen, um die gesamte Bandbreite dieses Umstandes zu verstehen. Die Spinnerin wollte ihrem Mann nacheifern, genauso wie er, in den Wald gehen und ihrem Leben damit ein... ungewisses Ende bereiten. Das brachte irgendetwas in der Hirtin zum frösteln. Wälder waren schließlich auf unterschiedlichste Arten gefährlich und wenn die Greisin es ganz schlimm traf, dann...verhungerte sie einfach. Verhungern... so etwas dauerte lange, oder? Mia wusste noch wie es war, als Fidel und sie am Anfang nichts weiter hatten, als ein paar Füchse und einem trockenen Stück Brot. Sie wachten mit einem Hungerschmerz auf und verzehrten sich bis in die Abendstunden nach einem ordentlichen Mahl. Damals hatte sie sich unglaublich schuldig gefühlt, weil sie ihrem Bruder so ein Leben zumutete und häufig war da der Gedanke aufgekommen, einfach wieder umzukehren und in die schützenden Fittiche ihrer Eltern zu fliehen. Aber sie waren hartnäckig geblieben, hatten ausgeharrt und waren deswegen am heutigen Tag auf eben diesem Land angekommen. Vielleicht war ihr deswegen so flau in der Magengegend als sie Lisa davon eilen sah. Nicht, weil sie dadurch mit einer unbekannten Situation alleine gelassen wurde, nein. Vielmehr bangte sie um die Alte und hoffte, Lisa würde sie noch rechtzeitig finden, ehe sie in den Untiefen des Waldes verschwand und nie wieder gesehen wurde.

Dennoch ließ es die Hirtin ein wenig unschlüssig zurück. Sollte sie die Bauerstochter nicht doch aufhalten? Noch war sie schließlich zu sehen und es war gefährlich nachts allein durch Grandessa zu streifen. Dunkelelfen... hatten sie heute Mittag nicht noch darüber gesprochen? Nein, das war nicht gut... ganz und gar nicht gut, aber Mia konnte jetzt auch nicht einfach so umkehren. Sie waren fast da und der Auftrag war wirklich wichtig für ihr Überleben. Zeitgleich war Lisas fortschreiten wichtig für das Überleben der Spinnerin und Fidel würde sie bestimmt nicht hinterher schicken, denn eine junge Frau und einen kleiner Junge waren eine mindestens genauso leichte Beute.
… Mia konnte wenigstens mit der Steinschleuder umgehen!
Aber gut, es war wie es war und die Hirtin konnte zunächst nichts tun, um daran etwas zu ändern. Es würde das beste sein, wenn sie sich weiter beeilten, damit sich das alles auch lohnen... warte, was war das? Fidels Hand? Verwundert drehte Mia ihren Kopf und sah hinab, zu dem Jungen der sie bald schon mit seiner Größe überholt haben würde, ihr aber noch bis zur Brust reichte. Hatte sie so sorgenvoll ausgesehen? War ihr Blick zu nachdenklich geworden? In jedem Fall sandte ihr kleiner Bruder tröstende, ja verdammt erwachsene Worte an seine Schwester, ganz so als wäre er da um sie zu beschützen und nicht andersherum. Worte eines Mannes, keines Kindes... Mia sah ihn an und schloss die Lippen, um sie unschlüssig zu kräuseln. Was hatte Bauer Wenzel nur zu ihm gesagt, um so eine Veränderung in ihm wach zu rufen? Na ja, sie fühlte sich dadurch tatsächlich ein wenig ruhiger... weniger allein... und das obwohl sie vorher nicht einmal gewusst hatte, dass auch das auf ihren Schultern lastete: Die Angst allein darzustehen und alles zu vermasseln.
„Danke Fidel.“ antwortete sie ihm also, nun sogar lächelnd und drückte die Hand, die er in ihre gelegt hatte. „Ja, das schaffen wir schon.“ - „Komm, lass uns gehen.“
Und so gingen sie, wie eh und je zu zweit, mit Goliath und den Schafen über das restliche Land des Züchters, nach dessen Namen sie Fidel immer wieder fragen musste. Er war besser in so etwas als sie.

Schlussendlich erreichten sie einen Ort an dem Musik hallte. Goliath zwang sie dazu, ihn eng an der Leine zu halten und eben jene an den Karren zu binden, damit er ihnen nicht ausbüchste. Mit vielen Fremden kam er eben nicht zurecht und besonders wenn sie viel Lärm machten, wurde der gute Hütehund zu einem übernervösen Kläffer. Das sollte er auch, schließlich hatte er eine ganze Herde zu beschützen. Aber dieses Verhalten war manchmal eben auch hinderlich, so wie jetzt. „Das ist ja riesig...“ ein ehfürchtiges Murmeln war es, was Mia da entwich. Gewiss, die Ländereien allein waren schon riesig, da passte das Hauptgebäude schon ganz gut, aber... allein durch die Zucht von Schafen wurde man doch nicht so reich oder? Es sah aus wie ein Palast. Nein, wirklich das war ein Palast! Da war sich die junge Hirtin mehr als sicher! Dabei musste sich Mia wirklich zusammenreißen, um nicht einfach stehen zu bleiben und die Kinnlade aufzusperren, denn ja... je näher sie diesem Prachtwerk menschlicher Baukunst kamen, desto größer wurde es und desto kleiner fühlte sich Mia in dessen immer länger werdendem Schatten. Und hier saßen unzählige Menschen beisammen, speisten, tranken, lachten und grölten und... feierten. Adlige wie auch einfache Bauern wie es schien, denn ein weitschweifender Blick ließ verschiedene Gewandungen und untetschiedliche Gestecke erahnen, auch wenn sie durch Wow... war so etwas überhaupt erlaubt? Mia konnte sich nicht daran erinnern, dass ein Adliger, sie oder ihre Eltern je einmal zu einem solch einen Festgelage eingeladen hatte. Die waren sich doch viel zu fein, um sich mit feinen Menschen abzugeben, oder? Nein, bei aller Anstrengung, Mia schaffte es nicht ihr Staunen zu verbergen. Ihre Augenbrauen hoben sich, ihr grün-brauner Blick huschte über die Szenerie und beinahe übersah sie dabei, dass Anne wieder einmal aus der Gruppe ausbrechen wollte. Zum Glück war Goliath aufmerksamer als sie und rannte dem nunmehr nackten Wollschiffchen in den Weg, sodass es eifrig seinen Rückweg antrat. Ein Bellen konnte der Hütehund dabei nicht unterlassen. Nun also an dem Platz angekommen, der von vielen Fackeln erleuchtet war, stellten Fidel und sie den Karren ab und bestaunten das ganze noch ein bisschen. „Das ist...“ begann Mia gerade ihrem Staunen Luft zu machen, da fing ein Mann ihren Blick ein, der gerade aufstand und... ja, tatsächlich auf sie zumarschierte. Schlagartig begann ihr Herz einen Hüpfer zu machen. War er ein Konkurrent? Zumindest ging er ziemlich zielstrebig auf sie zu. Sonderlich feindselig sah er aber nicht aus und wenn sie es recht bedachte... war er sogar eigentlich recht... also... irgendwie... er sah jedenfalls nicht schlecht aus!

Mia räusperte sich und senkte den Blick. Worte zurechtlegen, Kopf heben und dann zur Sprache kom... „DA BIST DU JA!“ Die Hirtin blinzelte. Meinte er... sie? Wurde sie bereits erwartet? Hatte man von ihrer Ankunft erzählt? Sie drehte kurz den Kopf zu Fidel, als wüsste er eine Antwort darauf, was natürlich nicht so war und schon machte ihr Gegenüber das Schauspiel weiter, indem er zwinkerte und leise Worte an sie richtete. „Oh...!“ Das hatte er also vor! Sofort musste sie lächeln. Das war... also, damit hatte sie wirklich nicht gerechnet! Noch ehe sie ihm jedoch ihre Dankbarkeit kundtun konnte, hatte er auch schon seinen Arm um ihre Schulter gelegt und war im Inbegriff sie den anderen vorzustellen. Wer auch immer die anderen waren, denn davon gab es entweder sehr viele, oder er meinte nur einen kleinen Bekanntenkreis innerhalb dieses Zusammentreffens. „Eh...“
Man, war das unangenehm! Plötzlich war ihr dieser Fremde so nah, dabei hatte sie so selten überhaupt irgendeinen Körperkontakt! Sie nahm den Geruch von Stall und Holz wahr, der sich irgendwie angenehm mit dem Fleischduft vermischte und sie irgendwie an Wenzels Hof erinnerte. Zeitgleich wurde ihr bewusst, dass er sie nun genauso erschnuppern konnte und der Geruch war sicher nicht angenehm, nach dem Fußmarsch mit all diesen Schafen, Mias Gesicht wurde auf einmal ziemlich warm doch ein: „Ich bin Mia...“ bekam sie dann doch noch heraus. Sie musste sich zusammenreißen! Das hier war schließlich wichtig und solange sie nicht die genauen Spielregeln kannte, benahm sie sich besser vernünftig.... höflich und so! „Und das ist mein Bruder Fidel.“
So weit so gut. Bekam sie dafür wirklich freies Essen hier? Das wäre der absolute Hauptgewinn, doch was wäre mit den Schafen? Auf dem schnellsten Weg würde sie erfragen, wo sie ihre Schützlinge lassen konnte und dann erst würde sie sich um das Essen kümmern, wonach sich ihr Magen so sehnsuchtsvoll verzehrte.

Re: Der Scheideweg

Verfasst: Montag 12. August 2019, 20:25
von Erzähler
Der fesche Mann, der sich als Leif vorgestellt hatte, schien sich nicht an ihrem Geruch zu stören.
„Ich bin Mia...“
bekam sie dann doch noch heraus. Sie musste sich zusammenreißen! Das hier war schließlich wichtig und solange sie nicht die genauen Spielregeln kannte, benahm sie sich besser vernünftig.... höflich und so!
„Und das ist mein Bruder Fidel.“
Leif sah über ihre Schulter hinweg zu ihrem Bruder und nickte ihm freundlich zu. Doch was war mit den Schafen? Auf dem schnellsten Weg erfragte sie, wo sie ihre Schützlinge lassen konnte und wollte sicher erst dann um das Essen kümmern, wonach sich ihr Magen so sehnsuchtsvoll verzehrte.
„Ach so. Das sind also eure... Dann bringt sie am besten...“
Er ließ Mias Schutler los, die sich plötzlich etwas kühl anfühlte und drehte sich um die eigene Achse, auf der Suche nach einem geeigneten Stall. Dann blieb er stehen und winkte Fidel zu. Er rief etwas lauter:
„Siehst du das kleine Haus mit der blauen Tür?“
Fidel nickte etwas unsicher.
„Direkt dahinter geht ein Weg links rein und führt auf eine kleine Weide, die für eure kleine Herde ausreichen sollte. Kannst du sie dort allein hin bringen und findest dann wieder her?“
Fidel zögerte kurz, aber dann siegte wohl sein Stolz und er rief:
„Klar, schaff ich das. Bin gleich wieder da.“
Leif rief und zeigte auf eine Bank im Kreis um den Brunnen.
„Ich setzt deine Schwerster dort drüben ab.“
Fidel nickte und löste Goliath von der Leine. Dieser machte einen Schritt auf Leif zu, aber Fidel hatte ihn schon im Nackenfell. Mia hörte noch ihren Bruder schimpfen:
„Nein, Goliath! Du machst hier keinen Unsinn!“
und dann waren sie schon außer Sichtweite. Fidel, weil er zwischen den Schafen verschwand, um sie auf den Weg zu bringen und Mia, weil der Arm des Mannes neben ihr sie sanft wieder zur Feier drehte.
„Wo kommt ihr eigentlich her?“
, fragte er leise. Als Mia geantwortet hatte, zuckte er mit den Schultern, als würde er es nicht kennen.
„Hm... Ich denk mal, du und dein Bruder, du bist hier um dich für die Angora-Herde zu melden, hab ich recht?“
Ja, das hatte er und dass sah er ihr wohl an. Er nickte zufrieden und zog sie nun nach ihrer Hand greifend durch die ersten Tisch und Bänke mit lachenden Leuten. Seine Finger fühlte sich rau und stark an ihren an... Er winkte mal hier mal da und alles schienen sich zu kennen. Dann kamen sie an der Bank am Brunnen an und dort saßen drei Frauen und zwei weiter Männer, die nun neugierig aufsahen. Ihre Teller hatten sie am Brunnenrand abgestellt und einer kaute gerade genüsslich auf der Keule eines Hahns. Leif stellte vor:
„Das sind Raja, zweites Hausmädchen, Stef, erste Küchenmagd und Heike, zweite Zofe der Herrin und meine Schwester. Die Rabauken da, das sind Harald, mein Halbbruder und Björn, sein Vetter dritten Grades. Keine Sorge, dass musst du dir nicht merken.“
Leif ließ sich auf den Brunnenrand nieder und zeigte auf einen freien Platz neben sich und seiner Schwerster.
„Das ist Mia. Sie ist mit ihrem Bruder hier. Er kommt auch gleich. Sie wollen die Angora-Herde.“
Verstehendes Nicken folgte und das zweite Hausmädchen meinte:
„Da hast du aber Glück, dass du so früh hier bist. Die Ausschreibung war eigentlich erst für morgen, aber wenn du den Herrn zu Gesicht bekommst...“
Sie zuckte mit den Schultern und grinste breit.
Der Halbbruder fragte:
„Habt ihr denn nen guten Hund?“
Leif antwortete begeistert für Mia, während die jungen Frauen eher an Mias Lippen hingen und gleichzeitig mit seiner Antwort:
„Ja, ham se! Und was fürn Monster! Wollt mich glad fressen! Der ist gut, denk ich. Damit könnte sie Eindruck beim Herrn schinden.“
„Und woher kennt Leif dich?“
„Willst du was essen?“
„Ist das dein Bruder, der da winkt?“
Die Fragen konnte Mia garnicht alle so schnell beantworten. Aber ja, es war Fidel, der sich da winkend durch die Menge schob und auf sie zu steuerte. Die jüngste der Frauen meinte prompt:
„Der ist ja niedlich! Der wird mal nen Herzensbrecher. Hihihi“
Die anderen stimmten mit ein und Mia kam nicht umhin Fidel mal genauer zu betrachten. Ja, er hatte was. Wenn er noch an Männlichkeit zu legte, etwas kantige Züge bekommen würde und etwas Muskelmasse dazu kommen würde... ja, vielleicht würde mal aus ihm ein hübscher Kerl werden. Jetzt sah er wirklich einfach nur „niedlich“ aus, mit seinen verwuschelten Haaren, den etwas zu großen Kleidern und den großen neugierigen Augen. Er kam an und hob grüßen die Hand.
„Nabbend! Ich bin Fidel. Mias Bruder. Hab gehört hier gibt es was zu futtern?“
Der Vetter dritten Grades meinte:
„Der gefällt mir. Kommt gleich zum wesentlichen! Komm mal mit, Kleiner. Wir besorgen dir und deiner Schwester mal was zum beißen.“
Er stand auf, legte Fidel die Hand auf die Schulter und ging mit ihm zu einem langen Tisch, wo jede Menge Essen stand. Mia konnte Fidels Augen selbst aus der Entfernung strahlen sehen und von Sekunde zu Sekunde wuchs der Haufen auf den Tellern, die er fleißig belud. Leif sah dem ganzen amüsiert zu während die Mädchen um ihn herum munter weiter plauderten, ohne wirklich nachzubohren, wenn Mia nicht alle Fragen beantwortete. Es war eine lustige Runde, Menschen die sich mochten und neckten, die mitsummten, wenn ein bekanntes Lied gesungen wurde. Die beiden Musiker waren echt nicht schlecht und die Stimmung war ausgelassen. Auch auf den oberen Terrassen lachten die Menschen und Mia fiel auf, dass auch dort oben hin und wider so jemand wie ein „Arbeiter“ zu sehen war. Irgendwann stupste Leif sie an, beugte sich nah an ihr Ohr und sein warmer Atem kitzelte etwas ihre Wange:
„Na? Willst du dein Glück versuchen? Ich kann dich hoch bringen, wenn du magst. Dann würdest du vor allen Anderen deine Chance bekommen dich vorzustellen.“

Re: Der Scheideweg

Verfasst: Dienstag 20. August 2019, 19:42
von Mia
Eigentlich war es nicht in ihrem Sinne, all ihre Schützlinge aus den Augen zu lassen. Sie war sowohl für die Schafe als auch für Fidel und Goliath verantwortlich und es war wirklich selten der Fall, dass sie allen auf einmal den Rücken kehrte. Besonders an diesem Ort war es ihr unangenehm ihren kleinen Bruder mit Hirtenstab und Hütehund davon eilen zu sehen und für kurz kam ihr da auch wieder Lisa in den Sinn, die in dieser dämmrigen Dunkelheit ganz alleine zu der alten Spinnerin eilte. Was war, wenn sie die Greisin nicht fand und dann Hals über Kopf in den Wald lief? Auch das hätte Mia zu verantworten und es machte ihr immer mehr Kopfzerbrechen je länger die junge Bauerstochter fern blieb. Wenn ihr was geschähe, könnte sie nie wieder in ihr Spiegelbild schauen ohne sich zu schämen, nein sich zu verabscheuen! Daran konnte nicht einmal die Anwesenheit dieses schmucken Kerls neben ihr etwas ändern, der über den Hof hier einen guten Überblick zu haben schien. Er hatte Fidel eine Aufgabe anvertraut, die der Junge gern erledigte und Mia wunderte sich über den plötzlichen Feuereifer den er dadurch an den Tag legte. Aber es machte sie auch glücklich, denn ein Lächeln ihres Bruders war für sie echtes Gold wert. Er schien stolz und war der Aufgabe auch gewachsen, denn er wusste auch Goliath zu bändigen, der kurz davor war, Leif an die Gurgel zu gehen. Kurz danach war er aber verschwunden und was in Mias Herzen verblieb, war Vorsicht, Unsicherheit und Unbehagen. „Wir eh...“ sie musste tatsächlich überlegen, war ihr Heimatort doch physisch wie auch gedanklich so weit entfernt, dass er sie nicht mehr scherte. „Troman“ gab sie dann an, merkte aber, dass dies nicht einmal eine Rolle spielte, denn Leif schien ihren Heimatort nicht zu kennen. Gut so.

„Ja genau!“ Es gab schließlich etwas wichtigeres, um dass sie sich kümmern musste und das waren die Angora Schafe... vorausgesetzt man überließ ihr diesen Auftrag. Oh Feylin, gib mir die Kraft und den Mut das durchzustehen... und dann spürte sie plötzlich seine - Leifs - Hand an der Ihrigen und eine unaufhaltsame Röte breitete sich auf ihren Wangen aus. „Huh?“ stieß sie noch verwundert aus, doch er zog sie bereits mit sich und ließ ihr damit nicht die Chance zu protestieren. Himmel... er ist... so warm. Etwas, was sie bereits vorhin gemerkt hatte, als er seinen Arm um ihre Schulter gelegt hatte, auch so eine Geste die ihr vollkommen fremd war. Aber irgendwie... ja, irgendwie... gefiel es ihr. Ihre Hand lag sicher und geborgen in seiner und weil er so tat als kenne er sie, hatte die Hirtin für einen kurzen Augenaufschlag das Gefühl als wäre es tatsächlich so. Ja, sie kannten sich. Warum sollte es auch anders sein? Er, der große, starke Leif... und sie, die brave einsame Hirtin... Moment, wieso einsam? Sie war doch gar nicht einsam! Sie hatte Fidel und Goliath und ihr Schafe! Und überhaupt: Was dachte sie denn was das hier wurde? Ein romantisches Treffen zweier Fremder? Hah, sie hatte wohl vergessen, dass sie eine einfache Hirtin ohne wirklichen Besitz war. Bettelarm und krankheitsgezeichnet, das war sie und das machte sie für andere Männer bestimmt nicht attraktiver! Außerdem wäre ihr ein Mann nur im Weg wenn sie weiterhin frei sein wollte, oder nicht? Richtig! Und deswegen war sie mehr als froh, als sie am Brunnen anlangten und dort drei weitere Frauen und zwei Männer trafen, die Leif ihr nun vorstellte. Namen über Namen folgten, doch wie immer blieben sie nicht in Mias Kopf hängen. Anders sah dies mit ihren Berufen aus, oder vielmehr die Zahlen mit denen Leif jeden einzelnen von ihnen bedachte. Zweites Hausmädchen - Zweite-Eins - und Zweite Zofe - Zweite-Zwei- sowie erste Küchenmagd - Erste - schienen ganz freundliche Frauen zu sein, die sich gleich sehr interessiert an Mia und ihrem Vorhaben zeigten. Halbbruder - Einhalb - und Vetter dritten Grades - Dritter - machten ebenfalls einen sehr sympathischen Eindruck und alle zusammen sorgten dafür, dass sie sich rasch nicht mehr so verloren vorkam, an diesem heiter, lauten Ort. Fidel sollte auch bald wieder dazu kommen. Auch das machte sie weniger nervös und die Ausgelassenheit, mit der die Leute hier miteinander umgingen wurde zusehends ansteckend. Mia versuchte die Fragen der Gruppe so gut es ging zu beantworten, wich aber jenen aus, die sie nicht wirklich beantworten konnte oder wollte. Wie etwa: woher sie denn Leif kenne. Nein, diese kleine Lüge behielt sie bei, denn genau wie Fidel hatte auch sie einen großen Hunger doch da sich Dritter seiner annahm verzichtete Mia darauf, ebenfalls aufzustehen. Es war noch immer schwer einzuschätzen, was ihr kleiner Bruder wollte und was nicht. Alles was er früher schön gefunden hatte war nun irgendwie nicht mehr so schön für ihn und da sie aus der Ferne sein Lachen beobachten konnte, befand sie, dass sie sich auch weiterhin besser damit zurückhielt. Es war schwer aber sie fand sich schon irgendwie damit ab.
Ja, ihr kleiner Bruder belud seinen Teller wie ein waschechter Mann, das musste man sagen. Demnach würde er einmal nicht nur ein gutaussender Bursche sondern auch ein guter Esser werden. Vielleicht würde er aussehen wie ihr Vater... zumindest würde er so umsichtig sein wie er, wenn Mia an die Worte zurückdachte, die Fidel an sie gerichtet hatte, nachdem Lisa zurückgelaufen war.

Doch die Zeit schritt voran und nachdem sie gegessen und weiter gelacht und geredet hatten, wandte sich Leif plötzlich wieder an sie und bot ihr an, sie ... hoch zu bringen. Neben de Tatsache, dass er ihr wieder so unschicklich nah gekommen und ihr einen sanften Hauch von Gänsehaut beschert hatte, lockte er auch mit einer Idee, die der Hirtin durchaus gefiel. Ein Blick hinauf zu dem Balkon bestätigte ihr, dass sie da oben nicht die einzige wäre, die aus dem einfachen Volk käme und wenn sie sich nicht allzu dumm anstellte und Goliath wirklich Eindruck schinden könnte... vielleicht hätte sie den Auftrag dann in der Tasche?
Mia nickte. „Das wäre nett, ja!“ sagte sie also leise und machte sich dann daran aufzustehen. Doch ohne Fidel würde sie nicht gehen wollen. Schließlich wollten sie das beide erledigen und so würde sie ihn vorher fragen, ob er bei diesem Gespräch dabei sein wolle oder nicht.

Re: Der Scheideweg

Verfasst: Samstag 24. August 2019, 17:55
von Erzähler
Die Zeit schritt voran und nachdem sie gegessen und weiter gelacht und geredet hatten, wandte sich Leif plötzlich wieder an sie und bot ihr an, sie zum Gutsbesitzer hoch zu bringen. Neben der Tatsache, dass er ihr wieder so unschicklich nah gekommen und ihr einen sanften Hauch von Gänsehaut beschert hatte, lockte er auch mit einer Idee, die der Hirtin durchaus gefiel. Ein Blick hinauf zu dem Balkon bestätigte ihr, dass sie da oben nicht die einzige wäre, die aus dem einfachen Volk käme und wenn sie sich nicht allzu dumm anstellte und Goliath wirklich Eindruck schinden könnte, vielleicht hätte sie den Auftrag dann in der Tasche?
Mia nickte.
„Das wäre nett, ja!“
, sagte sie also leise und machte sich dann daran aufzustehen. Fidel kam gerade mit zwei voll beladenen Tellern wieder und hatte sich eine Scheibe knusprig gebratenen Speck noch zwischen die Zähne geklemmt, als er ihr ihren Teller reichte. Der Duft von frisch Gegrilltem ließ sie einen Moment vergessen was sie gerade hatte tun wollen, aber dann nahm sie wieder Platz und berichtete ihrem Bruder von der Idee, sich unter die „Oberen Zwanzig plus“ zu mischen. Fidel sah sie mit vollem Mund an und schluckte schnell bevor er zu grinsen anfing. Anscheinend fand er die Idee klasse und noch etwas anderes ließ seine Schultern sich straffen. Mia hatte es nicht alleine entschieden, sondern ihn gefragt. Sie hatte ihn nicht als ihren „kleinen Bruder“ vorgeführt, der einfach auf sie hören mußte, sondern ihn mit einbezogen. Also kostete er den Moment aus, tat so als würde er über ihre Idee nachdenken und dann erst zustimmen, auch wenn sie ganz genau wusste, was in ihm vor ging. Sie kannte ihren Bruder zu gut, als dass sie sein kleines Schauspiel nicht durchschaute. Er war halt doch noch immer ihr „kleiner Liebling“.
„Jooaaaaa, ich denke, das ist ne gute Idee. Könnte klappen.“
, antwortete er auf ihre Frage dann etwas „gönnerhaft“ und stopfte sich dann schnell wieder etwas von einer gebackenen Kartoffel in den Mund. Auf die Frage, ob er denn auch dabei sein wollte, sah er wehleidig auf seinen Teller und sein Alter purzelte prompt wieder zurück auf 5 Jahre.
„... ich will aber essen!“
, klang aus maulend aus seinem vollen Mund. Tja, also blieb es wohl an Mia hängen, bei dem Züchter vorzusprechen. Leif schaltete sich ein, legte seine Hand auf die Schulter Mias Bruders und Fidel sah von seinem Teller auf.
„Wenn der Chef aber dich und euren Hund sehen will, dann zeig dich von deiner besten Seite!“
Fidel zuckte ein bisschen zusammen, nickte dann aber wieder eifrig und schaufelte noch schnell zwei Stücke Fleisch zwischen die Zähne. Leif grinste und bot Mia dann seinen Arm an, so wie sie es mal bei einem Herrn auf einem Markt gesehen hatte. Die Dame musste dann ihren Arm unter den den Mannes schieben und auf den Unterarm legen, das wusste sie. Leif lächelte, als sie das dann auch tat und nickte anerkennend.
„Na dann lass uns mal den Chef besuchen.“

Leif hatte sie zielsicher durch die ganzen Arbeiter des Hofes gelotst und sie stiegen eine außen am Haus gelegene gewundene Treppe hinauf, die auf der Rückseite des Hauses, mit Blick auf einen sehr gepflegten Garten lag. Vielleicht hatte Mia kurz gezögert, als Leif sie dort hin geführt hatte, denn der Park lag im Dunkeln und bot viele lauschige Plätzchen. Der junge Stallbursche hatte ihren nervösen Blick gesehen, war ihm zu einem stark bewucherten Pavillon gefolgt und hatte gelächelt. Seine Braune hatten sich für einen Moment etwas gehoben und er hatte sie fragend angesehen, doch dann waren Stimmen zu hören gewesen und er war schmunzelnd weiter gegangen.
Jetzt da sie die Treppe hinauf stiegen, war der Moment vergessen. Hier oben auf der Terrasse, das war eine ganz andere Welt!
Die Tische waren gedrechselt und verziert, weiße Tücher hingen darüber und Dienstboten huschten umher. Teller wurden auf und abgeräumt und die Kelche, die unten aus Ton oder sogar Holz gewesen waren, waren hier aus Metall oder sogar Kristall. Die Menschen trugen prächtige Farben und feine Stoffe. Verzierungen, Stickereien, Spitze, Rüschen blitzten an den Dekolletees der Damen und an den Revers der Herren. Leif zog Mia an der Hand weiter, so dass sie nicht all zu viele Details aufnehmen konnte. Die Gruppe, auf die er zusteuerte, stand an einem kleinen Tisch mit hoher Platte, so dass man im Stehen gut seine Gläser darauf abstellen konnte. Zwei junge Männer, vermutlich in Leifs Alter, aber deutlich besser gekleidet und drei junge Damen, die fleißig mit den Herren kokettierten, standen bei einem älteren Herrn. Dieser hatte den Neuankömmlingen den Rücken zugewandt, so dass er sie nicht kommen sah. Dafür sahen aber alle anderen Mia und Leif! Es war ein merkwürdiges Gefühl hier unter diesen Paradiesvögeln zu wandeln.
Eine Dame zu Mias linken, saß mit ihrem keinen „Hofstat“ an einem Tisch und scheuchte gerade einen Diener weg:
„Das Fleisch ist viel zu hart! Da beiße ich mir ja die Zähne aus. Hol mir ein neues Stück!“
Der junge Diener beeilte sich weg zu kommen und die sehr voluminöse Frau sah zu Mia, kräuselte die Nase und zog leicht pikiert die Brauen hoch, als ob sie auf diese Entfernung sie riechen könnte. Mia roch gewiss nicht frisch, aber so sehr konnte sie garnicht stinken, dass die Dame sie hätte wahrnehmen können! Ein anderer Mann zog Mias Blick auf sich, als er unglaublich hoch kicherte. Er hatte seine Haare Gold gefärbt und goldene Schleifen hingen zwischen goldenen Löckchen. Golden waren auch seine Augenlider bemalt und sogar seine Fingernägel waren lang und golden... war er eine Frau? Er wirkte fast so und auch die Stimme war hoch und ausgesprochen sanft, als er mit seinem Nachbarn tratschte:
„Darling, wenn du mein Mann wärst, würde ich nie zu spät kommen! Ich komme immer wann es gewünscht wird.“
Irgendwie klang das ganze sehr anrüchig. Der Angesprochene sah über die Schulter des Goldjungen hinweg kurz Mia an, wirkte genervt und widmete sich dann wieder seinem Gesprächspartner, wenn auch unwillig. Leif blieb mit ihr stehen und drückte kurz ihre Hand, damit sie ihre Aufmerksamkeit wieder nach vorne richtete. Der Mann in dessen Rücken sie stand, hatte bereits weiße Haare, oder sehr hell gefärbte, mit silbrigen Strähnchen, die mit einem silbernen Band im Nacken zusammen gehalten wurden. Sein Gehrock war in einem schlichten Schwarz gehalten und als sich der Schafzüchter Job Logerfleld umdrehte, schätzte sie ihn auf 37Jahre. Ein paar Falten umrahmten seine Augen. Sein weißes Haar passte gut zu dem hoch geschnittenen Hemdkragen, der seinen Hals komplett verdeckte. Ein schwarzer Binder hielt es zusammen und feinste Stickereien zierten den Saum seiner Jacke, so wie seine Hose. Seine Augen konnte sie nicht gut sehen, denn er trug eine recht dunkle Bernsteinbrille auf der Nase, obwohl es nicht sonderlich hell war.
„Herr Logerfeld, darf ich ihnen Mia vorstellen?“
, sagte Leif und Jobs Gesicht straffte sich zu einem höflichen Lächeln, bis sein Blick auf Mia fiel und es wieder ein bisschen in sich zusammen sackte. Fast etwas betroffen wirkend, sah er viel zu aufmerksam ihre vernarbte Gesichtshälfte an.
„Himmel, was ist dir denn geschehen, Kind? So ein feiner Knochenbau und dann solche Narben! Oh entschuldige, ich hab mich hinreißen lassen! Ich will bestimmt niemanden zu nahe treten. Also... was führt dich in mein kleines Reich?“
Kleines Reich passte wirklich gut. Er wirkte wie der König dieser Terrasse, bzw. seines Landsitzes.
So angesprochen war es nun an Mia sich und ihr Abliegen vorzubringen und gut zu verkaufen. Und sie merkte sofort, dass sie schnell sein musste, den mindestens eine der jungen Damen an dem Hochtisch rückten auf und würden Logerfelds Aufmerksamkeit bald wieder in Beschlag nehmen.

Re: Der Scheideweg

Verfasst: Montag 2. September 2019, 19:01
von Mia
Auch Mia hatte Hunger, aber der Appetit hatte sich schon seit langem verflüchtigt. War es die Nervosität oder die Angst um Lisa? Die Sorge um ihren Auftritt vor diesem ach so feinen Schafszüchter, oder etwa die Aufregung, wegen der vielen anderen Gäste? Eine ungesunde Mischung aus allem? Was es auch sein mochte, es rückte ihr Bedürfnis zu Essen in den Hintergrund und machte es ihr damit auch leicht, Fidel mit seinem eigenen Teller hier unten alleine zu lassen. Wenn er Hunger hatte, dann sollte er essen und so zeigte sich die Hirtin mit seinem Entschluss einverstanden. Zudem war sie ein wenig stolz auf sich, dass sie ihrem Bruder mal wieder etwas Gutes getan hatte. Mit ganz geradem Rücken hatte er sich ihrer Frage geöffnet und ihr mittgeteilt was er von einer früheren Vorstellung hielt, ganz so, als habe sie ihn damit irgendwie aufgebaut und als erfreue er sich an dieser neuen Erfahrung. Natürlich hatte sie dies absichtlich gemacht, aber dass dieser bloße Versuch, Fidel ein wenig mehr wie einen Erwachsenen zu behandeln, auf so fruchtbaren Boden stoßen würde, das hatte sie nicht erwartet und so war die Überraschung darüber umso freudiger ausgefallen, sodass sie selbst beim Treppenaufstieg noch ein zufriedenes Lächeln im Gesicht trug.

Das hätte man auch falsch verstehen können. So wie sie und Leif da gingen, hätte man meinen können, es handle sich um ein verliebtes Pärchen. In Wahrheit kam sich Mia in diesem Moment aber ziemlich unbeholfen vor. Sie war noch nie so neben einem Mann hergegangen, einfach weil sie sich die Kerle stets erfolgreich vom Leib gehalten und auch nicht das Interesse gehabt hatte, ihnen zu nahe zu kommen. Hier und jetzt passierte all das aber so schnell und auf so erschreckend selbstverständliche Weise, dass sich Mia ernsthafte Sorgen, um ihren Verstand machte. Wieso fasste er sie so an? Und wieso fasste sie ihn so an? Sie konnte schließlich selbst gehen! Aber vielleicht war dies diese „höfliche Art“ von der Bauer Wenzel gesprochen hatte. Besser sie machte keine Sperenzchen, schließlich wollte Leif sicher auch nur helfen und meinte es damit nur gut. Das musste aber noch lange nicht heißen, dass sie es auch genießen musste. Ihr wurde ekelhaft warm, ihre Hände wurden schwitzig und ihre Gedanken kreisten unaufhörlich um mögliche Gesprächsverläufe - nicht mit Leif sondern mit dem Schafszüchter. Aber auch der weitere Umgang mit diesem fremden Burschen machte ihr Kopfzerbrechen. Was sollte diese vertrauliche Art? Und wo würde dies noch hinführen? Der Garten an dem sie vorbei kamen, als sie die Treppen nahmen, pflanzte so manch einen unzüchtigen Gedanken in ihren Kopf, der wohl gewisse Wellen schlug und sich in einem Blick voll zaghafter Ratlosigkeit entfaltete, denn Leif reagierte mit einem belustigten Schmunzeln und gehobenen Brauen, die all ihre Befürchtungen schalkhaft infrage stellten. Vielleicht... musste sie sich also doch keine weiteren Sorgen machen?

Die nächsten Augenblicke sollten ihre Bedenken zerstreuen, denn nun erreichten sie die obere Terasse an der sich ein ganz anderes Bild ergab, als sie es von unten her gewohnt war. Mia erstarrte ob des Anblickes, denn ihr war, als packe eine eiskalte Hand ihre Schulter und erwische sie damit bei einer dreisten Schandtat. Überall wo ihr fahrig gewordener, braun-grüner Blick hin zuckte, erkannte sie feine Herrschaften und elegante Damen. Diener eilten von hier nach dort und von schmutzigen Gesichtern, strähnigen Haaren oder vor Anstrengung ganz miefig riechender Kleidung, fehlte jede Spur. Das hier war ein Ort an dem sie nichts zu suchen hatte und das wusste nicht nur sie, sondern auch die gesamte Gesellschaft hier oben. Sie spürte sogleich, dass man sie ganz genau beobachtete, auch wenn sie nicht hinsah spürte sie doch die Augen auf sich wie brennende Nadelstiche. Da war es ihr auch irgendwie egal, dass Leif sie an der Hand nahm und durch diese Meute hindurch führte, denn was war schlimmer: Eine gesellschaftliche Sünde zu begehen, oder Rot zu werden, weil sie von einem – doch recht stattlichen Mann – angefasst wurde? Beides zusammengenommen ergab jedenfalls, dass ihr Kopf hochrot anlief und einer Tomate ähnelte. Beschämt neigte sie also das Haupt und sah sich an Leifs Hacken fest, die ihren Weg zielsicher und bestimmt suchten. Etwas, was ihr in diesem Moment sicher nicht gelungen wäre!

Trotzdem schaffte sie es nicht in dieser Neigung zu verharren, denn hie und da schafften es ausgesprochen seltsame Gestalten ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Ein Mann mit goldenem Zierrat in Haaren, im Gesicht und auf den Fingerkuppen, lachte glockenhell wie ein zierliches Mädchen und eine dickliche Frau beschwerte sich über das köstlich, duftende Fleisch. Was von beidem verwirrender war konnte die Hirtin dabei nicht einmal sagen, weil sie zu aufgeregt war, es machte ihr aber nur noch deutlicher, in was für einer anderen Welt sie sich hier gerade befand und wie sehr sie hier nicht hingehörte! Leif führte sie direkt an einen viel zu hohen Tisch heran und als sich einer der daran stehenden Personen umdrehte, wusste sie direkt, dass sie hier mit dem Richtigen sprach. Warum das so war, konnte sie nicht einmal sagen... es gab hier viele außergewöhnliche Gestalten, die sich in ihrer Einzigartigkeit hervortaten, aber dieser Mann... hatte eine ganz besondere Ausstrahlung, die keiner anderen hier oben glich. Mia kam nicht umhin als dieses weiße Haar, die silbernen Strähnen darin, das fein rasierte Gesicht und die viel zu dunklen, falschen Augen anzustarren, aus denen er schlecht hinausgucken konnte... oder? Leif stellte ihn als Job Logerfeld vor und sie... ja, sie nannte er auch gleich beim Namen.
20-10-7... begann sich sogleich ihr Zahlengedächtnis zu regen und dieses Gesicht mit eben jenen Ziffern zu betiteln. Er wiederum verband ihr Gesicht nun wohl für immer mit diesen grässlichen Narben, die leider nicht nur auf beiden Wangen und der Stirn sondern auch an anderen Stellen ihres Körpers zu finden waren, aber wem konnte sie eine solche Reaktion verübeln? Sie erschreckte sich schließlich selbst regelmäßig davor. Sogleich erinnerte sie sich an die Worte des Bauern Wenzel und gab sich Mühe das zuvor noch aufgesetzte Lächeln des Schafzüchters mit einem milden Schmunzeln zu erwidern. „Es freut mich sehr, Eure Bekanntschaft zu machen, Herr..." sie stockte kurz und brachte dann ein wenig zu spät den Namen „...Logerfeld.“ hervor. Seine Bemerkung bezüglich ihrer Narben ignorierte sie hingegen gekonnt. „Ich bin hier wegen Eurer Schafe. Also wegen Eurer Anfrage, nach einem Hirten und einem geübten Hütehund. Ich...“ Seit wann war es so schwer vor anderen Leuten zu sprechen? Mia schluckte schwer und versuchte sich zu sammeln. Atmen nicht vergessen... „Ich und mein kleiner Bruder Fidel sind seit vier Jahren als Hirten im Land unterwegs und sind daher sehr erfahren im Umgang mit Schafen.“ Da es schwer war die Gesichtszüge ihres Gegenübers zu lesen – immerhin war die Hälfte dessen von großen dunklen Gläsern verdeckt – tat sie sich schwer damit abzuschätzen, ob sie noch etwas hinzufügen sollte, konnte oder durfte. Trotzdem fügte sie noch ein unbeholfenes: „Unser Hund Goliath ist wirklich groß und weiß, wie er die Herde zu beschützen hat!“ hinzu. Ob das genügen würde? Sie hatte absolut keine Ahnung.

Re: Der Scheideweg

Verfasst: Sonntag 22. September 2019, 10:54
von Erzähler
„Es freut mich sehr, Eure Bekanntschaft zu machen, Herr..."
Sie stockte kurz und brachte dann ein wenig zu spät den Namen
„...Logerfeld.“
hervor. Seine Bemerkung bezüglich ihrer Narben ignorierte sie hingegen gekonnt.
„Ich bin hier wegen Eurer Schafe. Also wegen Eurer Anfrage, nach einem Hirten und einem geübten Hütehund. Ich...“
Seit wann war es so schwer vor anderen Leuten zu sprechen? Die Leute hinter dem Herrn verdrehten schon die Augen. Er aber blieb gelassen und ruhig. Mia schluckte schwer und versuchte sich zu sammeln. Atmen nicht vergessen...
„Ich und mein kleiner Bruder Fidel sind seit vier Jahren als Hirten im Land unterwegs und sind daher sehr erfahren im Umgang mit Schafen.“
Da es schwer war die Gesichtszüge ihres Gegenübers zu lesen – immerhin war die Hälfte dessen von großen dunklen Gläsern verdeckt – tat sie sich schwer damit abzuschätzen, ob sie noch etwas hinzufügen sollte, konnte oder durfte. Trotzdem fügte sie noch ein unbeholfenes:
„Unser Hund Goliath ist wirklich groß und weiß, wie er die Herde zu beschützen hat!“
hinzu. Ob das genügen würde?
Herr Logerfelds Gesichtsausdruck verriet nicht viel, aber sein Mund zog sich zu einer nachdenklichen Mimik spitzt zusammen und er verschränkte die Arme vor der Brust, wobei er eine behandschuhte Hand zum Kinn führte und leicht darauf tippte. Seine Reaktion ließ auf sich warten und er musterte ihr Äußeres eingehend. Sein Warten zerre an ihren Nerven, aber Mia wusste, dass sie jetzt Geduld beweisen musste. Logerfeld nahm sich sogar heraus, dass er sie langsam umrundete und zu einem der Herrschaften an seinem Tisch sah. Der andere Mann dort, ein etwas kleinerer Herr mit leichtem Bauchansatz hob fragend die Brauen und verstand dann wohl das nicht gesagte. Er nickte eifrig und rieb sich aufgeregt die Hände.
Was ging hier nur vor?
Logerfeld hatte seine Runde beendet und stand nun wieder nachdenklich vor Mia.
„Kind, ich bin durchaus geneigt, dir und deinem Bruder meine Schafe anzuvertrauen... natürlich nach einer Prüfung eurer Fähigkeiten und die eures Hundes...“
Er drehte sich um seine eigene Achse und schien nach jemanden Ausschau zu halten. Dabei sprach er weiter:
„Es gäbe da jedoch noch etwas wobei du mit behilflich sein könntest. Es wäre auch nicht zu deinem Schaden... ah, da ist er ja.“
Der Herr des Hauses hob die Hand und winkte jemanden. Es war ausgerechnet der goldene Gockel, der sich auf das Zeichen hin nun gemächlich näherte. Logerfeld sah wieder Mia an und lächelte wirklich freundlich, während der Andere etwas zögerlich an seine Seite trat. Missbilligende Blicke trafen sie.
„Würdest du mir bei einem kleinen Streit helfen, den ich schon ein Weilchen mit diesem Herrn hier habe? Darf ich vorstellen, der Abgesandte des königlichen Hofes, Oberst Heraldo, Gunibert von Pickerig“
Der Vorgestellte verzog leicht die Miene, als würde es ihm nicht gefallen, dass ein armes Mädchen wie sie auch nur seinen Namen kannte. Das war dann wohl die Stelle, wo man sich verbeugte, oder als Dame einen Knicks machte.
„Mein guter Bekannter hier...“
Logerfeld nannte ihn nicht Freund, was merkwürdig beruhigend war.
„...ist der Meinung, dass Schönheit nur im Blut des Adels zu finden sei. Ich hingegen bin der Meinung, Kleider machen Leute. Es wäre mir eine riesige Freunde ihm zu beweisen, dass ich Recht habe.“
Logerfelds dem Goldjungen abgewandtes Auge zwinkerte hinter der getönten Brille und sein Mundwinkel war leicht gehoben, was ihm einen verschwörerischen Ausdruck verlieh. Es bereitete ihm Freude dem goldigen Herrn eins rein würgen zu können, sofern Mia ihm half.
„Ich werde dir so oder so die Herde überlassen, vorausgesetzt ihr seid nicht vollkommen unfähig, was sich ja schnell klären lässt. Leif hier kann sich von den Fähigkeiten eures Hunds überzeugen...und von denen deines Bruders Fidel, richtig?“
Den Namen von Goliath hatte er sich nun nicht gemerkt, aber den ihres Bruders.
„Ich bin beeindruckt von deinem Mut hier herauf zu kommen und würde dir gern diese Chance geben. Für den Trieb bekommst du den üblichen Lohn, aber wenn du mir heute Abend hilfst bekommst du zusätzlich … sagen wir 10 Lysanthemer?“
Der Oberst von Pickerig schaltete sich nun ein:
„Ich erinnere daran, dass wir um Gold gewettet hatten!“
Logerfeld lächelte. Der Oberst lächelte immer weniger, denn vermutlich hatte er gehofft, den Hausherren so von seiner Idee noch abbringen zu können.
„Ihr habt Recht! Sie soll ihren Anteil haben! EINE DRACHME! Eine Drachme für einen Abend still stehen und sich von mir ankleiden lassen! Was sagst du Kind?!“
Mia war gut im Rechnen! Eine Drachme waren 20 Lysanthemer oder 400 Fuchsmünzen. Dafür arbeiteten manche Monate, andere sogar Jahre! Oberst Gold kniff die Augen zusammen und starrte auf sie herab, als sei sie eine Kakalake, die es zu zertreten galt, dann zog er aber angewiedert die Oberlippe hoch.
„Sie ist hässlich! Herr Logerfeld,... ihr werdet nicht gewinnen! Ihr verliert nicht nur eurer Geld, ihr verliert auch euren guten Ruf, wenn ihr darauf besteht. ICH bin einverstanden! Nicht einmal die feinste Seide könnte aus dieser Kröte einen Schwan machen! Alle hier können das sehen!“
Logerfelds Gesichtsausdruck veränderte sich.
„Da habt ihr zum Teil Recht. Niemand hier der Anwesenden sollte der Richter in unserem Streit sein. Wir brauchen eine dritte unparteiische Person, die Fräulein Mia noch nicht gesehen hat und unser beider Respekt genießt in Modefragen... Was haltet ihr von der Gräfin Dion? Channel's Urteil wird euch doch genügen? Ich könnte einen Boten schicken und bis morgen wird sie sicher unserer Einladung folgen, wenn es um so etwas wichtiges geht.“
Der Oberst zierte sich ein wenig, stimmte dann aber zu:
„Gräfin Dion soll es sein. Einverstanden. Auch wenn ich glaube ich würdet nicht in einem Monat aus diesem...“
Logerfeld hob mahnend den Finger, da der Oberst schon wieder beleidigend zu werden drohte. Erstaunlich, dass er tatsächlich auf ihn hörte.
„...Mädchen!“
Himmel, er hätte auch ausspucken können, so verächtlich klang das Wort.
„...eine ansehnliche Person machen! Es bedarf wohl einiges an eurer Zauberkunst. Ein Nacht wird niemals reichen! Ich bin mir meines Sieges gewiss und dieser Fauxpas wird sich herum sprechen.“
„Aber nur, wenn ich verliere!“
Logerfelds Enthusiasmus war mitreißend. Auch wenn Mia noch nicht mal „Ja“ gesagt hatte, so fühlte sie doch mit jeder Faser ihres Seins, dass wenn sie sich entscheiden musste, sie Logerfeld bevorzugen würde. Eben jener trat nun an ihre Seite und winkte den kleineren Hände reibenden Herrn zu sich, der sofort an ihr herum maß.
„Das ist mein Assistent Sebastian Jondo. Er wird die ganze Zeit bei dir sein und dir helfen, wo er nur kann. Hab keine Angst, niemand wird dir hier ein Leid antun. Die wirst gewaschen und herausgeputzt. Mehr nicht. Es werden sich natürlich auch ein paar Damen um dich kümmern...“ Er räusperte sich plötzlich etwas verlegen.
„Du lässt mich doch jetzt nicht hängen, oder? Vor diesem Fatzke mein Gesicht zu verlieren wäre mir nicht mal so wichtig, aber siehst du die Leute hier?“
Er wies auf andere hohe Persönlichkeiten, die das ganze aufmerksam beobachtet hatten.
„Es gibt hier mehr als einen der mir mein Geschäft ruinieren könnte und nur zu gerne würde, wenn ich verliere. Bitte hilf mir.“
Himmel, wo war sie da nur hinein geraten!?! Der Oberst hatte gegen den Hausherren gewettet, dass dieser es nicht schaffen würde aus Mia in einer Nacht eine Schönheit zu machen! War das überhaupt möglich? Glaubte Mia daran? Logerfelds flehender Blick sagte, dass ER sehr wohl daran glaubte! Jetzt musste sie nur entscheiden, ob sie sich diesem „Experiment“ unterzog oder lieber schnell das Weite suchte. Das ganze wirkte alles äußerst surreal! Wie eines dieser Bühnenstücke, die sich die Reichen ansahen, in denen viel gesungen wurde. Nur war sie hier das „arme Mädchen“, dass verwandelt werden sollte, weil zwei Herren wetteten. Mit nem kleenen Stückchen Glück, da würde sie bald Besitzerin eines Goldstücks sein. Wäre det nich wunderscheen?

Re: Der Scheideweg

Verfasst: Mittwoch 6. Dezember 2023, 11:50
von Erzähler
Lianth kommt von: Das Nest der Krähen

Immer wieder wurde Lianth in Richtungen gedrängt, dirigiert und gezogen. Er musste schnell gehen, gaben die Krähen ihm doch ein zügiges Tempo vor. Es kam immer wieder dazu, dass sie sich zischend unterhielten und ihn dann plötzlich eine Hand am Brustkorb traf, damit er innehielt. Dann wurde er sanft hinuntergedrückt, damit er sich duckte, bevor er wieder weitergezogen wurde. Lianth konnte nur mitmachen. Er musste darauf vertrauen, dass ihm die Krähen nun nicht einfach so aussetzten und in Sicherheit brachten. Allerdings bewies die Diebesbande durchaus Integrität, denn sie hatten sich um ihn gekümmert, dass das im Zelt des Generals aus dem Ruder gelaufen war. Selbst wenn Lianth nicht von sich aus schon gutgläubig gewesen wäre, hätte sich wohl jeder andere bereits sicher gefühlt. Allerdings konnte es verwirrend sein, wenn man nur noch seine Ohren und seinen Geruchs- sowie Tastsinn hatte. Lianth roch tatsächlich das ihm bereits vertraute Aroma von Armut und Krankheit. Irgendwo bellte eine hustende Greisin, die vermutlich dieselbe war, die nun einen von ihm getragenen Schal besaß. Lianth spürte beim Laufen einige Kinken in dem Kopfsteinpflaster, die ihm vielleicht hier und dort selbst mal aufgefallen waren. Ansonsten aber wusste er nicht, wohin er eigentlich lief. Die Krähen führten ihn immer wieder um Häuserecken, dann auch mal durch piekendes Gestrüpp oder auch einmal durch einen scheinbaren Tunnel. Lianth sollte sich hinknien und den Kopf einziehen, um hindurchzugelangen. Nein… den Weg zurück würde er gewiss nicht mehr finden, aber es ging auch nur in eine Richtung: Nach vorne. Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der die anderen drei kaum sprachen und wenn nur kurze Anweisungen austauschten, wurde das Tempo langsamer. Offenbar entspannten sich alle ein wenig, denn er wurde nicht mehr so oft gezogen oder geschoben. Tami hatte Lianth tatsächlich an die Hand genommen und führte den Elfen behutsamer über einige Unwegsamkeiten. Sie warnte ihn, vorsichtig zu treten und Lianth konnte unter seinen Stiefeln spüren, wie harter Erdboden knirschte. Auch wehte hier ein etwas schärferer Wind, da scheinbar keine Gebäude mehr da waren, die ihn aufhielten. „Ich mach dir gleich die Bandage ab, warte.“, sagte Tami und führte ihn auf eine Fläche, die besser zugänglich war. Dann blieb sie stehen, trat vor ihn und nahm ihm die Binde ab. Sie lächelte und hatte leicht rote Wangen vom Laufen und der Aufregung. Kalt war es hier und hell. Lianth konnte sehen, dass hinter Tami eine große Lagerhalle zu sehen war. Sie lag etwas außerhalb der Stadt, doch war der äußere Ring nicht sehr weit, wenn Lianth sich umdrehte. Er konnte Grandea mühelos in ein paar Gehminuten erreichen, ansonsten aber lag vor ihm weites, unbestelltes Feld und einige Wege, die war sicher mal mit Kutschen befahren waren, aber nicht mehr das typische Kopfsteinpflaster hatten. Vor der Lagerhalle stapelten hier und dort noch von Würmern zerfressenes Holz mit leichtem Raureif.

Es war kalt zu dieser Jahreszeit und hier, ohne Schutz, würde man schnell zu frieren anfangen. „Gehen wir rein, Lianth. Drinnen ists etwas wärmer“, sagte Tami und nickte mit dem Kopf, damit er ihr folgte. Sadia und Elian waren bereits drinnen, um zu sehen, ob die Luft rein wäre. Der Platz vor der Lagerhalle war eben und knirschte nur leise unter jedem Schritt, da die Erde gefroren war. Sie waren über ein hügeliges Feld gelaufen, deshalb hatten sie aufpassen müssen, um sich nicht den Fuß zu vertreten. Nun aber betraten sie die Halle und gleich wurde es zumindest ein wenig wärmer. Sadia und Elian nickten ihnen zu. „Alles sicher.“, sagte Sadia und wandte sich an Lianth: „Bleibe bis zum Einbruch der Dunkelheit hier versteckt, Lianth. Und dann kannst du da“, sie deutete in eine Richtung, „lang gehen. Dort liegt das Dorf Alberna. Ungefähr ein Tagesmarsch von hier. Dort findest du sicher Unterschlupf und es liegt dicht am Urwald Kapayu. Dort findest du gewiss den Weg nach Shyáná Nelle.“ Elian trat vor und reichte Lianth etwas. Es war dreckig und zerknittert, doch hatte man sich offenbar bemüht, die hellen Oberflächen zu reinigen. „Wir haben sie aufgesammelt, Lianth. Wir haben uns gedacht, dass sie dir sehr wichtig wären.“, meinte der Rothaarige und überreichte dem Elfen die Briefe. „Wir haben vielleicht nicht alle finden können, aber die Meisten.“, nickte er und lächelte. Dann klopfte er Lianth auf die Schulter. „Mach’s gut. Ich hoffe, wir sehen uns mal wieder unter… besseren Umständen!“, sagte er und meinte es tatsächlich so. Dann trat er bereits hinaus. Die Krähen hatten einen anderen Treffpunkt gewählt. Sadia überreichte Lianth nun noch ein kleines Messer, das im aller schlimmsten Notfall gewiss eine Hilfe sein könnte. So müsste er auch seine Kräutersichel nicht verwenden. Und ein kleines Butterbrotpapier. „Hier, nimm das. Es ist nicht viel aber bis Alberna sollte es ausreichen.“, nickte sie und lächelte ihn ebenfalls an. „Alles Gute, Lianth. Und keine Sorge – die Krähen sind nicht nachtragend!“, grinste sie kurz, ehe auch sie die Lagerhalle verließ. Nun blieb noch Tami übrig. Sie stellte sich vor Lianth und musterte ihn. „Irgendwie mag ich dich.“, begann sie und grinste. Sie griff in ihre Tasche und zog etwas Zunderzeug heraus, damit er ein Feuer machen konnte, wenn er es brauchte. „Ich brauch das nicht ich…“, sie grinste nun schelmisch und neigte sich verschwörerisch vor, „…kann das auch so!“, lächelte sie und zeigte Lianth dann eine winzige Stichflamme, die aus ihren Händen kam, ehe sie sie schüttelte und die Flamme nicht ausbekam. Sie wurde etwas nervös und schüttelte noch mal, dann erloschen die Funken und sie hüstelte verlegen. „Naja, gut funktioniert das alles nicht. Aber vielleicht lerne ich das ja noch!“, winkte sie ab und umarmte Lianth dann einfach. „Pass auf dich auf, Lianth. Tut mir leid, dass wir dir dein Leben versaut haben!“, sagte sie und lief dann ihren Freunden hinterher. Nun war er allein und würde einige Stunden hierbleiben müssen, wenn er den Anweisungen folgte. Oder … würde er gar schon losziehen wollen? Oder nach Grandea zurück, zum General? Er war nun allein und … niemand war da, um ihn aufzuhalten.

Re: Der Scheideweg

Verfasst: Donnerstag 7. Dezember 2023, 09:22
von Lianth
Lianth hatte gar nicht erst versucht, gegen die Krähen anzureden. Seine Stimme war schon mehr als einmal heute über ihren eigenen Schatten gesprungen, hatte sich erhoben und wenngleich auch eher leise gesprochen. Er hatte seinen Standpunkt klargemacht - auf eigene Art und Weise. Zwar klangen seinen Argumente nicht alle unvernünftig, stießen dennoch auf taube Ohren. Unter Ysaras Entscheidung würde keine Krähe gen Morgerai ziehen. Ebenso wenig würden sie aber auch den Shyáner opfern, der einfach nur zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen war. Sie würden ihn nicht in General Vashnars Fänge zurücktreiben. Sie wollten Lianth aber auch nicht einfach in Grandea stehen lassen. Sie waren ihm schuldig, ihn wenigstens an einen Punkt zu bringen, von wo aus er seine Zukunft selbst würde gestalten können, ohne gleich beim ersten Schritt mit einem Bein im Grab zu stehen.
Bereitwillig ließ er sich die Augen verbinden und durch die Stadt führen. Er vertraute vollkommen, ließ sich ziehen, auf die Knie drücken, schieben und zum Stillstand auffordern. Bei ihm kam kein Misstrauen auf. So wie er nach wie vor darauf vertrauen wollte, dass die Dunkelelfen nur einem Missverständnis aufgelegen waren und Vashnar die Briefe an Lavellyn sicherlich nicht aus Bosheit zurückgehalten hatte, so sehr vertraute er auch darauf, dass die Krähen wussten, was sie taten. Er wirkte dennoch erleichtert, irgendwann eine Hand in der seinen zu spüren. Ob es nun Tami war, die ihn führte, war ihm dabei gleich. Er drückte die Finger sanft und dankbar, lächelte scheu auf und ließ sich weiter bringen. Irgendwann schließlich erreichte die Gruppe ihr Ziel.
Noch konnte Lianth nicht genau sagen, wohin man ihn manövriert hatte. Unter seinen Stiefel fühlte er nicht länger den harten Pflasterstein der grandeanischen Straßen, aber ebenso wenig die schlammigen Tretminen ausgefahrener Wagenspuren auf den weniger ausgebauten Wegen des Armenviertels. Dafür stach ihm der penetrante Eigenruch dieser Gegend auch nicht länger in die feine Elfennase. Er roch saubere Luft, kalt und frisch. Sie drang durch seine Kleidung, ließ ihn kurz frösteln. Tami bemerkte es wohl, denn sie war nicht nur die erste, die ihn nach langer Zeit erneut ansprach, sondern ihre Worte ließen auch auf Wärme hoffen. Außerdem befreite sie ihn endlich von der Augenbinde. Lianth ließ ihre Hand los, rieb sich die Lider, bis er sich an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt hatte. Dann folgte er Tami in eine Lagerhalle. Allein ihre Größe sorgte dafür, dass er den Kopf etwas zwischen die Schultern schob. Dafür hatte die rothaarige Krähe nicht zu viel versprochen. Ohne den Wind, der ihnen um die Ohren pfiff, war es gleich etwas heimeliger.
Sadia trat an Lianth heran und erklärte ihm, was für ihn nun zu tun sei. Er nickte alles ab und wiederholte es gar, um zu signalisieren, dass er seinen Teil verstanden hatte. "I-ich warte h-hier bis zum Einbruch d-der Nacht. D-dann ins Dorf A-Alberna. Ich muss ei-einen ganzen Tag la-laufen. U-und anschließend k-kann ich ... nach Hause." Bei der Aussicht darauf, zurück in seine Heimat und vor allem zu Lavellyn zu gelangen, wurde ihm warm. Er sehnte sich danach, seinen Bruder zu treffen. Vordergründig ging es LIanth darum, ihm zu versichern, dass er wohlauf wäre. Anschließend würde er sich entschuldigen, dass die Briefe nicht angekommen waren. In seinem frohen Geist trat nicht ein Hindernis auf, das diesen Plan durchkreuzen könnte. Lianth glaubte fest daran, Shyána Nelle und Lavellyn bald wiederzusehen.
Vorher würde er sich jedoch von den Krähen verabschieden. Auch das stand fest in seiner Agenda. Er wandte sich schon um, als Elian plötzlich vor ihm stand. Erschreckt zuckte er zusammen, fiepste schrill, aber kurz auf, dass sich seine Spitzohren dabei fast anlegten. Lianth riss die Hände hoch, bis sein Verstand ihm verdeutlichte, dass weder von Elian noch den anderen eine Gefahr ausging. Er beruhigte sich schnell wieder, vor allem, als er das Bündel in den Händen des anderen Mannes sah. Seine Augen wurden feucht.
"I-ihr habt-"
"Wir haben sie aufgesammelt, Lianth. Wir haben uns gedacht, dass sie dir sehr wichtig wären. Wir haben vielleicht nicht alle finden können, aber die meisten." Lianth nahm das Bündel Briefe entgegen und noch während er sie fest an sich drückte, löste sich bereits wieder ein Umschlag, um zu Boden zu segeln. Rasch bückte er sich danach, verlor zwei weitere Briefe dabei. Elian musste ihm erneut helfen, sie aufzuklauben. Als alle zurück in seinen Händen waren, packte der Elf sie in seine Tasche. Er wollte keinen einzigen davon mehr verlieren. "D-Danke", murmelte er leise, aber vollkommen ergriffen.
"Ich hoffe, wir sehen uns mal wieder unter ... besseren Umständen!"
"I-ich kann i-immer noch ... mit ... euch ..." .. kommen, falls ihr Hilfe braucht. Hm. Wohl nicht. Lianth verstummte. Er senkte den Kopf und blickte kurz darauf auf ein Messerchen, sowie in Butterbrotpapier gewickelten Proviant. Sadia reichte ihm beides. "D-das ist ... zu viel, ich kann ... k-kann das nicht .. a-annehmen..." Sie ließ ihm keine Wahl, grinste ihm sogar noch entgegen und beteuerte entgegen Ysaras Drohungen, dass keine Krähe nachtragend wäre. Daraufhin lächelte er scheu.
Zusammen mit Elian verließ sie die Lagerhalle. Tami blieb noch zurück. Ihr Blick traf auf den honiggoldenen Glanz seiner Augen. Er betrachtete sie, ohne ihr auszuweichen. "Irgendwie mag ich dich." Lianths Augen weiteten sich. Er zuckte leicht, als wollte er gleich Heil in der Flucht suchen, aber seine Augen klebten an Tami. Sachte nickte er. "I-ich d-di..."
Weiter kam er nicht. Schon reichte sie ihm einen Satz Zunderzeug und zeigte mit einem Grinsen, dass sie es wahrlich nicht benötigte. Vor dem Feuerchen zuckte Lianth nicht zurück. Elementare Magie-Arten kannte er. Selbst wenn man sich nicht täglich unter die Shyáner mischte, bekam man allein durch das Leben in der Talsenke die dort vorherrschende Normalität und den Umgang mit Magie mit. Sie war mehr in den Alltag integriert als vielleicht sogar in Zyranus, wo sie vor allem Mittel zum Zweck und Lehrmaterial wurde. Die Shyáner aber nutzten sie so wie sie Nahrung verwendeten, Luft atmeten oder ob eines Übermaßes an Emotionel entsprechend reagierten. Magie war ein tiefer Bestandteil dieser elfischen Kultur. So machte Lianth sich auch weder um den halb missglückten Versuch Tamis lustig, ihn beeindrucken zu wollen, noch schreckte er davor zurück. Im Gegenteil. Seine Hand zuckte vor, als wollte er nach ihrer greifen, über der die Flamme nicht wieder verlöschen mochte. Doch er hielt sich zurück. So viel Mut hatte er dann doch nicht. Aber er schaute sie fast wieder an, als er meinte: "I-in Shyána Nelle k-könnte jeder zweite d-dir damit helfen. F-falls du es lernen w-willst ..." Lianths Finger fanden erneut seinen Zopf. Er fummelte an einigen Strähnen herum, bis sie sich ganz daraus lösten. Sein Blick wanderte inzwischen auf die eigenen Schuhe. "A-also ... a-aber vorher musst du durch ... den U-Urwald. Schreib m-mir per ... Brieft-taube." Er stutzte. Warum hatte er nicht vorher daran gedacht? Er hätte Kan'egh viel Arbeit erspart, wenn er sich einfach einen Schlag in Grandea gesucht und dort entsprechend ausgebildete Tauben genutzt hätte. Jetzt war es zu spät. Er würde die Briefe an Vellyn selbst überbringen.
"I-ich würde mich f-freuen, wenn ... oh!" Mit einem Mal fand Lianth sich in einer Umarmung wieder. Er wurde so sehr davon überrumpelt, dass er überhaupt nicht zu reagieren wusste. So stand er einfach nur da und ließ es geschehen. Nicht einmal Vellyn hatte ihn seit Jahren derart innig umarmt. Nicht einmal, nach dem Tod ihres Vaters. Aber nach seiner Wandlung, da hatte er es getan. Er hatte Lianth in die Arme gezogen, um ihm zu zeigen, dass er sich vor seinen Veränderungen nicht fürchtete. Tamis Umarmung fühlte sich genauso schön an. Er begann zu lächeln, aber da endete sie auch schon wieder. Glück war stets ein kurzlebiger Gast.
"Pass auf dich auf, Lianth. Tut mir leid, dass wir dein Leben versaut haben!"
"H-habt ihr nicht. I-ich hätte doch sonst keinen ... von euch..." Er rieb sich die Wange mit zwei Fingern und schaute wieder zur Seite. Tami nutzte den Moment, um zu gehen. Lianth zuckte erneut zusammen, als er die Tür ins Schloss fallen hörte. Nun war er allein. Vollkommen allein .. in dieser Lagerhalle, so weit weg von seiner Heimat. Weit weg von allem, was er kannte. "O-oh..." Rasch wischte er sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Sie brannten in einem Überschwang an gefühlter Hilflosigkeit und Überforderung, aber er versuchte, stark zu sein. Nur Mut...
Lianth straffte die Schultern. Anschließend suchte er sich eine Ecke, in der er es bequem hätte, ohne jemanden zu stören. Es war keiner da, aber es könnte ja noch einer kommen und dann wollte er nicht im Weg stehen. So ließ er sich zwischen einigen Lagervorräten nieder, zog seine Tasche auf den Schoß und packte auch die Geschenke weg. Wie lang es wohl noch dauerte, bis die Nacht hereinbräche? Sein Blick sondierte den Raum nach einem Fenster, damit er wenigstens die Tageszeit einschätzen könnte. Plötzlich zuckte er zusammen. Es riss ihn fast schon in den Stand zurück.
"Farno! Ohweh, ohje, ich habe ihn vergessen!" Der Furunkel müsste noch einmal untersucht werden und außerdem hatte Lianth doch versprochen, wiederzukommen. Er musste die Kräutervorräte abholen für ... nein, nicht mehr für Vashnar. Von den Dunklen sollte er sich fernhalten, zu seinem Schutz. Auch wenn er noch immer nicht ganz glauben konnte, dass sie ihm etwas antun könnten. Ihn ... töten! Es klang so abstrakt, so fern jeglicher Vorstellung, wenn man ein naiver Shyáner war wie Lianth. Aber Farno war näher. Farno war real und er brauchte jemanden, der nochmal nach seinen Beschwerden sah.
Hatte der Elf noch Zeit? Könnte er vor Einbruch der Nacht noch einmal ins Armenviertel huschen, um den Mann an Suses Grab aufzusuchen? Er wusste ja, wo es sich befand. Er musste nur erst einmal wieder nach Grandea hinein gelangen. Aber er würde nicht sofort losziehen, selbst wenn es zeitlich passte. So ganz unvorsichtig ging nicht einmal Lianth vor. Er glaubte den Krähen, vertraute auf ihre Erfahrung, die Lage einzuschätzen. Er wollte sie nicht noch mehr in Schwierigkeiten bringen. Wenn er wartete, bis die Naturmagie sich aus seinen Haaren verflüchtigte, würde er weniger auffallen - dachte er! Dann könnte er immer noch losziehen. Er würde schließlich nicht zu Vashnar gehen, sondern nach Farno schauen. Falls er in die Stadt nocht einmal herein gelangte, natürlich. Falls er überhaupt eines der Tore fand. Sein Weg sollte schließlich eigentlich gen Alberna gehen. Wenn die Nacht hereinbricht, dann. Vorher suche ich Farno. Er braucht mich. Und davon ließ sich nicht einmal ein Feigling wie Lianth abhalten.

Re: Der Scheideweg

Verfasst: Mittwoch 13. Dezember 2023, 13:37
von Erzähler
Es konnte beängstigend sein, wie schnell sich doch alles manchmal änderte. Lianth bekam kaum die Gelegenheit, einmal durchzuatmen und sich über alles seine Gedanken zu machen. Vielleicht war das auch besser so, denn würde sich der Shyáner tatsächlich einmal mit seinen Erlebnissen auseinandersetzen, würde er vermutlich in einer Panikattacke enden. Er hatte dem General die Aufgabe nicht erfüllt, hatte den Krähen das Leben schwer gemacht, seine Briefe an Vellyn waren niemals angekommen und er zwei Wochen lang nicht zu Hause gewesen, er hatte den General verraten und war nun auf der Flucht. Und wusste nicht mal wieso. Lianth war in einen Wirbelsturm hineingeraten und musste nun sehen, dass er irgendwo Halt bekam. Die Krähen hatten sich Mühe gegeben, den Elfen nicht vollkommen mittellos zurückzulassen, doch mangelte es weniger an Habe als an persönlichen Möglichkeiten, die bevorstehende Reise aus zu bestehen. Der Elf war noch nie alleine unterwegs gewesen. Er profitierte davon, sich entweder hervorragend im Urwald auszukennen und sich niemals zu weit von seiner Heimat zu entfernen oder aber von den Kenntnissen anderer, wie General Vashnar. Jetzt aber stand er allein da. Auch Tami schien das zu sehen, denn sie offenbarte ihm, dass sie ihn mögen würde, doch bleiben konnte auch sie nicht. Tami demonstrierte ihm, dass in ihr mehr steckte als ein bloßes Nesthäkchen und dass sie gleichzeitig viel zu lernen hätte. Sie hib den Blick, wo Lianth ihn nur senken konnte und musterte diesen, ob seines Angebotes. „Du meinst…. Unterricht? In… Magie?“, fragte sie verblüfft und offenbarte, dass sie niemals in Erwägung gezogen hatte, darin unterrichtet zu werden. Grandea war kein Ort für Träume und Tami, sowie ihr Bruder Elian eher mittellos zu betrachten. Sie würde sie eine Ausbildung nicht leisten können, folglich also auch nie mit dem Gedanken spielen. Tami aber zog Lianth in die Arme und verabschiedete sich dann so von ihm ungeachtet seiner Schüchternheit. Er wäre sogar fast versucht gewesen, diese schöne Geste zu erwidern, aber er hatte keine Reserven mehr, über seinen Schatten zu springen. Lianth hatte heute mehr als einmal bewiesen, dass er seinem Mantra „Nur Mut“ treu blieb, aber irgendwann war es erschöpft .So verließ ihn die letzte Krähe und er war allein.

Stille breitet sich beinahe schon unheilvoll um ihn herum aus. Der ganze Trubel der letzten Stunden fiel auf einen Schlag ab und hinterließ einen unsicheren Mann mit keinen eigenen Plan on einer viel zu großen Lagerhalle. Lianth konnte ein wenig etwas erkennen. Hier waren offenbar Getreidesäcke gelagert worden, denn hier und dort lag noch etwas von dem Korn herum. Auch gab es einige Holzkisten, teilweise kaputtgegangen, aus denen mal Taue, mal Späne oder Werkzeuge hervorlugten. Alles aber alt und spröde und kaum noch zu gebrauchen. Diese Lagerhalle stand leer und das seit geraumer Zeit. Was nun? Er suchte sich eine Ecke aus, von der er durch ein zerschlagenes Fenster blicken konnte. Die Sonne war kraftlos, aber zeugte davon, dass es noch einige Stunden dauern würde, bis die Nacht hereinbrechen würde, sodass ihm wohl nichts anderes übrigblieb, als zu warten. Mit einem Mal aber durchzuckte es Lianth! Er hatte Farno vergessen in all der Aufregung! Der gute Farno, der unbedingt untersucht werden musste. Der unbedingt von ihm besucht werden musste. Lianth würde sich nicht aufhalten lassen. Er brauchte jetzt mal das Gefühl, eine Aufgabe auch erfüllen zu können. All die losen Enden schlugen erheblich aufs Gemüt. Der Elf prüfte abermals die Zeit. Er hätte noch einige Stunden, bis er nach Alberna aufbrechen sollte. Er musste nur in die Stadt zurück und… würde er das denn schaffen können? Egal! Farno brauchte Hilfe und er war der einzige, der sich darum scherte! Zudem wäre es gewiss nicht das schlechteste, wenn er seine Vorräte noch einmal etwas aufstockte. Es würde also passieren. Lianth würde, sobald er die Lagerhalle durch den Eingang verließ feststellen, dass er einige Schritte weit weg von der Stadtmauer Grandeas war. Er musste über ein offenes Brachland gelangen, ohne sich an dem gefrorenen Boden die Knöchel zu verstauchen. Das Tor in den Außenring war sichtbar von seiner Position. Klein sah es aus und doch schwante ihm, dass die Krähen ihn dort durchgeschleust hatten. Oh, sie hatten sich solche Mühe gegeben, ihn herauszuführen… und jetzt ging er freiwillig zurück. Doch was nützte es? Farno brauchte medizinische Hilfe und wartete bestimmt schon auf ihn. Nur Mut…


Lianth weiter bei: Vorräte aufstocken

Re: Der Scheideweg

Verfasst: Dienstag 2. Januar 2024, 11:11
von Erzähler
Lianth kommt von Vorräte aufstocken


Tami war unerbittlich. Die Siebzehnjährige führte Lianth denselben Weg zurück und beeilte sich dann, das alte Lagerhaus zu erreichen. Der Regen setzte ihnen ordentlich zu und so waren sich bei Ankunft reichlich durchnässt und verschwitzt. „Wir müssen dringend die Kleidung trocknen, Lianth.“, sagte sie nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Tami ging zielstrebig zu einer der Kisten und öffnete sie ohne Umschweife. Dort drin fand sie tatsächlich trockenes Holz, etwas Zunderzeug und einen Rucksack. Sie zog auch diesen hervor und öffnete ihn, während sie weitersprach: „Was hast du dir eigentlich gedacht? Ich bin hergekommen und habe einen halben Herzinfarkt bekommen, weil du nicht da warst. Dann bin ich eine halbe Stunde in Richtung Alberna gegangen, aber ich habe nicht sehen können, dass du dorthin unterwegs warst. Da waren jedenfalls keine Spuren.“, erklärte sie ihm in üblicher Redeschwallmanier. Dann kramte sie einige Sachen heraus und hielt sie prüfend hoch. „Zieh dich aus, Lianth. Du holst dir noch den Tod.“, mahnte sie ihn, als wäre sie die mit den medizinischen Kenntnissen. Dann warf sie ihm eine Hose und ein Hemd zu. Den Mantel würde er trocknen müssen. Sie selbst aber begann sich schon ungeniert vor ihm das Oberteil auszuziehen und entblößte das, was er hatte bereits fühlen können. Eine zarte Silhouette, etwas schlanker als sie hätte sein müssen, ob des kargen Lebens, eine hübsche Oberweite, verborgen unter einem einfachen BH und einen flachen Bauch. Tami drehte sich zu Lianth und stutzte dann erst. Ihr fiel mit einem Mal wieder ein, wie nahe sie sich gekommen waren. Dann schoss ihr wieder eine gewisse Röte ins Gesicht und sie verbarg ihre nackte Haut hinter ihrem eigenen Hemd. „Nun.. ehm…“, begann sie nicht mehr ganz so locker und rückte etwas in die Schatten, bevor sie sich weiter entkleidete und die neuen Sachen anzog. „Ich mache Feuer. In Ordnung? Und morgen versuchen wir uns dann durchzuschlagen bis Alberna.“, meinte sie. „Bei dem Regen müssen wir nicht losgehen. Wenn er bis zur Nacht aufhört, überlegen wir noch mal.“, murmelte sie und trug dann Holz zusammen. „Was hast du überhaupt in Grandea gemacht? Ich dachte, wir hätten klar gesagt, dass du hierbleiben sollst! Man, Lianth… Das wäre so etwas von schiefgegangen, ich hoffe, das ist dir klar!“, führte sie die Schelte weiter aus und schüttelte den nassen Schopf, dass die Wassertropfen flogen.

Re: Der Scheideweg

Verfasst: Dienstag 2. Januar 2024, 23:59
von Lianth
Elfen durften sich einer deutlich längeren Lebensspanne erfreuen als andere Völker. Im Vergleich zum Menschen war der Unterschied immens. Dennoch glich die Natur den Entwicklungsstand recht gut aus, indem sie die Elfen einfach wesentlich länger kindlich bleiben ließ. Wo ein Mensch bestimmte Abwicklungen binnen weniger Jahre, vielleicht noch innerhalb eines Jahrzehnts erlernte, musste ein Elf Dekaden durchlaufen, bis sich ein Verständnis und die nötige Reife einstellte. Unter Berücksichtigungen dieser Umstände könnte man Lianths Alter und Reifegrad durchaus mit Tamis gleichsetzen. Aber obwohl der Shyáner schon über ein Jahrhundert celcianische Luft atmete, kamen in ihm bei weitem nicht die Gefühle auf, die sich in der rothaarigen Krähe meldeten. Wo ihre Hormone plötzlich zu explodieren schienen und ihre Fantasie sündhafte Ideen durch ihren Geist jagte, was man noch so alles mit einem anderen Körper anstellen konnte, als sich nur eng an ihn zu lehnen und zu hoffen, dunkelelfische Soldaten übersahen sie beide, da spürte Lianth ... nahezu nichts. Jedenfalls nichts, das sein Blut in ähnliche Wallung gebracht hätte. Und auch an seinem Schenkel staute es sich nicht. Was Tami spürte, war lediglich der Auswuchs seines hybridischen Geheimnisses und den wollte sie sicherlich nicht sehen, berühren oder in sich spüren. Was sie allerdings mit deutlicher Wirkung berührte, das war Lianths Hand. Er hatte sie bereits umschlungen und hielt sie eng an sich gepresst. Nun aber packte der Elf bei ihrem Hintern zu und musste feststellen, dass er gerade dort einen unglaublich guten Griff hatte. Nicht zu klein, nicht zu groß passte die apfelrunde Backe perfekt in seine Hand. Er knautschte gedankenverloren ein wenig, vielleicht auch um seinen Stress abzubauen. Hatte Tami ihm nicht eben noch geraten, sich zu beruhigen? Nun, das Kneten von Stoff, Haut und Gewebe lenkte ihn tatsächlich von seiner aufkeimenden Panik ab. Seine Atmung entspannte sich etwas und sogar Tami durfte spüren, dass er unter ihrer Nähe eher weich wurde ... außer unten, aber sie konnte ja nicht ahnen, dass ein Rattenschwanz nicht derart erschlaffte wie sie es von anderen männlichen Organen möglicherweise schon gesehen oder wenigstens aufgeschnappt hatte. Wenn überhaupt! Wie unschuldig die Krähe letztendlich war, ahnte Lianth nicht im geringsten. Er machte sich in diese Richtung nämlich keine Gedanken. Auch nicht, als sie wenig später wieder sicher im Lagerhaus außerhalb von Grandea ankamen.
"Wir müssen dringend die Kleidung trocknen, Lianth." Er nickte und gerade als sich sein Mund für eine logische Erklärung von Tamis Andeutung öffnete, stand sie vor ihm, Holz und Zunderzeug in den Armen, sowie einen Rucksack halb über der Schulter. Letzteren nahm Lianth ihr nach kurzem Zögern schweigend ab. Er zuckte allerdings wie unter einem Hieb zusammen, als sie ihn tadelte - ganz gleich, wie milde sie dabei mit ihm umging. Es erschreckte ihn, dass sie überhaupt auf diesen Umstand hinwies, der sein Gewissen durchaus etwas ins Straucheln brachte.
"Was hast du dir eigentlich gedacht? Ich bin hergekommen und habe einen halben Herzinfarkt bekommen, weil du nicht da warst."
"G-geht es d-dir b-besser? M-Mit Herzproblemen ist nicht zu spaßen!" Sofort blickte er sie besorgt an. Sein Schreck kam davon. Er hatte schließlich mit Lavellyns Herzleiden schon einmal eine Phase der Rehabilitation mitgemacht. Tami machte nicht den Eindruck, den er von seinem Bruder in Erinnerung hatte. Jener hatte damals wirklich schrecklich ausgesehen, auch nachdem er sich wieder halbwegs von allem erholt hatte. Er musterte die junge Krähe genau, kam ihr dabei durchaus nahe. "Schmerzt es denn in der Brust? Ein Infarkt wird's nicht gewesen sein, wenn du noch so gut herumlaufen kannst. Vielleicht nur eine Vorstufe, aber dann sollten wir dringend deine Vitalität prüfen. Ich kann dich untersuchen, wenn du das möchtest. Lieber mit ein paar Einschränkungen leben, dafür leben." Erneut legte er jegliches Stottern beiseite, sobald er in seinen Heiler-Modus überwechselte. Schon wollte er ihr auch das Holz abnehmen, damit die mutmaßliche Herzpatientin sich nicht überanstrengte. Tami hatte allerdings die Sachen schon beiseite gelegt und sich lieber um Ersatzkleidung bemüht. Sie hielt Lianth ein Hemd vor die Nase, dass dieser stutzte und mit einem Fiepsen sich etwas nach hinten lehnte. Als er erkannte, was es war, schmunzelte er verlegen und senkte den Blick.
"O... oh. D-as m-mit ... dem Herzinfarkt ... w-war nicht ernst g-gemeint, oder? D-du solltest m-mit sowas n-nicht spaßen. E-es..."
"Zieh dich aus, Lianth. Du holst dir noch den Tod."
"A-auch damit s-solltest du nicht sp-spa... a-aber du hast R-recht. Wir dür-dürfen uns nicht erkälten. G-gut mitgedacht!" Lianth griff nach Hemd und Hose. Dann schaute er sich in der Lagerhalle um. Er wäre tatsächlich weniger scheu, sich in Tamis Beisein umzuziehen, hätte er keine körperlichen Defizite zu verbergen, die ihn als Monster stigmatisierten. Das käme sicherlich überraschend, wenn man seine allgemeine Scheu betrachtete, aber Nacktheit störte den Elfen schon vor seiner Hybridwandlung nicht. Der elfische Körper war schön, in welcher Form auch immer. Eine halbe Ratte zu sein war es allerdings nicht und so suchte er nach einer Nische, in der er sich ungesehen umziehen könnte. Als er eine geeignete Stelle zwischen einigen Regalen bemerkte und schon mit dem Finger darauf deutete, ehe er zu Tami zurücksah, stellte auch diese fest, welche Wirkung nackte Haut auf andere haben könnte. Und sie sah Lianth noch nicht einmal frei von Kleidung!
Er hingegen bekam reichlich zu sehen, betrachtete sie aber mit der neutralen Unschuld eines Kindes oder eines Heilkundigen. Nichts an ihm deutete auf anstößige Blicke oder ein lüsternes Funkeln in den bernsteinfarbenen Iriden hin. Er starrte auch nicht, so wie Tami. Er sah sie einfach nur abwartend an, musterte lediglich ihre Röte und zeigte sich dann sogar höflich genug, sich halb abzudrehen. Sein Blick wanderte zu Boden.
"D-du brauchst d-dich nicht sch-schämen. I-ich sehe nicht z-zum ersten M-Mal Haut. U-und du siehst gut aus. G-gesund, s-sogar sportlich ... e-ein schöner K-körper, soweit i-ich d-das sagen k-kann."
"Ich mache Feuer. In Ordnung?" Lianth nickte und schaute noch immer nicht zu ihr zurück. Stattdessen deutete er jetzt zu seinem Versteck zwischen den Regalen. "I-ich z-ziehe mich um." Es dauerte etwas länger als bei Tami. Jener drehte der Elf den Rücken zu, als er die Robe über den Kopf streifte und dann sein zerzaustes Haar etwas bändigte. Mit der Hose bekam er doch tatsächlich Probleme. Sie war nicht so weit geschnitten wie seine eigene. Besäße er keinen Rattenschwanz, hätte sie hervorragend gepasst. so aber engte es ihn wahrlich stark ein. Aber er konnte Tami unmöglich darum bitten, nach einer größeren Variante zu suchen, nur damit er seinen viel zu großen, unhandlichen Schwanz unterbringen konnte. Dann hätte er sich verraten müssen!
Glücklicherweise besaß er noch seine Heilertasche. Er suchte nach seinem Medizinerbesteck und zückte die Schere, mit der er sonst immer Stücke seines Leinenverbandes abtrennte. Sie war noch immer scharf. Lianth hatte kaum Schwierigkeiten ein Loch in die Kerhseite der Hose zu schneiden. Er würde nur darauf achten müssen, es regelmäßig zu nähen, damit es nicht größer würde und er plötzlich ohne Hose da stünde. Anschließend zog er sich noch das Hemd über, tauschte es mit der eigenen, nassen und schmutzigen Robe ... und erstarrte. Das Hemd reichte natürlich nicht so weit herunter, dass es schützend bis zu den Knöcheln fiel. Nun besaß er zwar ein Loch in der Hose, durch den sein Rattenschweif hindurch passte, aber nichts mehr, um ihn gut zu verbergen. Ohje, was mache ich nun?
Es half nichts. Er hob das Hemd wieder an und kringelte sich den Schwanz in zwei Bahnen um die Hüfte. Danach ließ er den Stoff wieder fallen. Solange niemand auf die Idee kam, ihm das Hemd in die Hose zu stopfen, hing es gerade so über das Loch drüber. Lediglich, wenn man seine Kehrseite im Ruhezustand betrachtete, könnte die Beule dort auffallen. Ansonsten wirkte der umwickelte Wulst vorn am Bauch eher wie zwei kleine Speckröllchen, die ihn nicht fett erschienen ließen, aber auf eine niedliche Art etwas rundlich - wenigstens dort. Lianth atmete durch. Er war erleichtert, das Problem vorerst gelöst zu haben und wenn er seine Robe nahe am Feuer über eine Leine warf, könnte er sie morgen schon wieder überstreifen. Zu der Tunika in seiner Tasche zu greifen, auf diese Idee kam er in all der Aufregung gar nicht. Sie hätte ihm bis knapp zu den Knien gereicht und wesentlich besser verborgen, was geheim bleiben sollte. Andererseits hätte er dann Tami irgendetwas auftischen müssen, warum er das Tragen dieser feinen Elfentunika bevorzugte. So eitel war er nicht!
Bedacht, ihr dennoch nicht zu oft seinen Rücken zu zeigen - falls sie nicht ohnehin längst heimlich geschmult und sein Geheimnis entdeckt hatte - kehrte er zu ihr und dem vorbereiteten Feuer zurück. "Und morgen versuchen wir, uns dann durchzuschlagen bis Alberna", plapperte Tami sofort wieder drauf los. "Bei dem Regen müssen wir nicht losgehen. Wenn er bis zur Nacht aufhört, überlegen wir nochmal."
"Äh ... d-du ... be-begleitest mich? A-aber w-was i-ist denn aus d-deinen Plänen g-geworden? W-was ist m-mit Mo-Mor-Morgeria? D-darfst d-du ni-nicht mitgehen? I-ist e-es auch für d-dich zu gefährlich, d-dass d-du in Grandea b-bleiben so-sollst?" Weniger gefahrvoll war es dort angesichts der Soldaten auch nicht. Dieser ... gemeinen ... Soldaten. Oh, warum waren sie nur so zu mir? Ich verstehe das nicht. Sie ... sie waren wirklich darauf aus, unfreundlich zu sein. Was habe ich denn falsch gemacht? War ich mit meiner Magie zu forsch? Habe ich sie erschreckt?
"Was hast du überhaupt in Grandea gemacht? Ich dachte, wir hätten klar gesagt, dass du hierbleiben sollst." Er seufzte reuig und nickte. Ihm war klar, dass es noch schlimmer hätte ausgehen können. Aber er war Heiler und als solches stand das Wohl seiner Patienten noch über dem eigenen - immer, ausnahmslos.
"Ich musste n-nach Farno sehen. M-Mein Patient. Z-zum Glück hätte e-er mich nicht g-gebraucht. Sein Furunkelkrater heilt gut ab! I-ich freue mich w-wirklich darüber." Das stimmte. Lianth trug seine Erleichterung offen im Gesicht. Er lächelte, als er erzählte und strahlte dabei eine so liebevolle Wärme aus, dass kein Zweifel bestand, dass er Farnos Verrat ihm nicht nachtrug. Das würde er nie. Er dachte jetzt nicht einmal mehr darüber nach, sondern war einfach nur froh darum, dass es dem Mann gesundheitlich besser ging.
"I-ich hoffe, e-er bekommt a-auch keinen Ä-Ärger. Oh ... ohweh! M-meinst du, w-wir sollten n-nochmal n-nach ihm sehen g-gehen? Diese Dunkelelfen ... s-sie waren so g-gemein. Was, w-wenn sie es zu ... zu ihm a-auch sind? Nur weil ..." Nur weil Farno sich letztendlich doch für die gute Seite entschieden und Lianth geholfen hatte. Sein Lächeln schwand. Er rieb seine Hände nervös ineinander. "S-sie waren sch-schrecklich g-gemein. K-kein Wunder, d-dass i-ihr weggerannt s-seid. S-sind a-alle in Grandea so ... so ... gemein?" Einem herzensguten Gemüt wie Lianth mangelte es an Vokabular, wenn es darum ging, die Schrecken zu beschreiben, die sein Herz noch immer etwas schwerer werden ließen. Aber es war gut, dass er auch diese Seite kennenlernte. Besser war es, wenn ihn jemand hier an der Hand nahm, so wie Tami es bereits getan hatte. Ansonsten würde er sich wohl erneut auf den Weg nach Grandea machen, um einerseits doch nochmal nach Farno zu schauen und sich andererseits direkt bei den Soldaten zu erkundigen, warum diese nicht hätten netter sein können. Schließlich verstand er nach wie vor deren aggressive Reaktionen nicht. Wie konnte jemand nur dermaßen ... gemein sein?!

Re: Der Scheideweg

Verfasst: Freitag 5. Januar 2024, 13:56
von Erzähler
Zum Glück hatten sie einen Unterschlupf für diese Nacht. Lianth konnte erkennen, dass die Krähen das Lagerhaus nicht zufällig ausgesucht hatten. Tami zauberte aus einer der Kisten ein wenig Kram herbei und unterstrich auch mit dem Herausholen ihres Rucksacks, dass sie bereits hier gewesen war und offenbar nach ihm sehen wollte. Sofort war Lianth bei ihr und nahm ihr den Rucksack ab, damit er sie etwas unterstützte. Tami lächelte minimal, bevor sie ihn dann doch noch auf den Pott setzte. Und er? Er missverstand ihre Redewendung und sofort schlich sich Sorge in sein Gesicht. Das aparte Gesicht des Elfen wurde von einer Falte der Sorge durchzogen und aus den Augen sprach sofort der Heiler, der Tami mit kundigem Blick abtastete. "G-geht es d-dir b-besser? M-Mit Herzproblemen ist nicht zu spaßen!“ Tami stutzte und starrte Lianth an. „Was?“, fragte sie, etwas aus dem Konzept gebracht, wollte die Frage dann aber übergehen, doch hatte sie die Rechnung nicht mit dem Elfen gemacht, der sofort in den Heiler-Modus schaltete. "Schmerzt es denn in der Brust? Ein Infarkt wird's nicht gewesen sein, wenn du noch so gut herumlaufen kannst. Vielleicht nur eine Vorstufe, aber dann sollten wir dringend deine Vitalität prüfen. Ich kann dich untersuchen, wenn du das möchtest. Lieber mit ein paar Einschränkungen leben, dafür leben." Tami starrte Lianth an und er war auf einmal wieder verboten nahe. Ihr Herz schlug und das auch sehr kräftig. „Ehm…“, machte sie und musterte ihn aus der Nähe. „Mir … mir geht’s gut, Lianth.“, beschwichtigte sie seinen Enthusiasmus und lächelte schief. Sie hielt ihm seine Ersatzkleidung vor die Nase und erinnerte den Heiler daran, dass hier kein medizinischer Notfall vorlag. Als ihm das klar wurde, grinste Tami amüsiert. "O... oh. D-as m-mit ... dem Herzinfarkt ... w-war nicht ernst g-gemeint, oder? D-du solltest m-mit sowas n-nicht spaßen. E-es..."
"Zieh dich aus, Lianth. Du holst dir noch den Tod."
"A-auch damit s-solltest du nicht sp-spa... a-aber du hast R-recht. Wir dür-dürfen uns nicht erkälten. G-gut mitgedacht!"
„Danke!“, sagte sie nonchalant und lachte dann leise. „Ich bin aber immer noch angefressen!“, warnte sie ihn halbernst und zog sich dann ungeniert aus. Bis ihr klar wurde, dass es irgendwie etwas anderes war, als wenn sie das im Nest der Krähen tat. Sie stockte, wurde rot und Lianth fühlte sich bemüßigt, ihr etwas der Scham zu nehmen, erreichte aber das Gegenteil. "D-du brauchst d-dich nicht sch-schämen. I-ich sehe nicht z-zum ersten M-Mal Haut. U-und du siehst gut aus. G-gesund, s-sogar sportlich ... e-ein schöner K-körper, soweit i-ich d-das sagen k-kann." „Lianth!“, versuchte sie ihn zum Schweigen zu bekommen und wurde nur noch roter im Gesicht. Himmel war das peinlich! „Es ist sch.. ist schon… Ja ja ja … zieh dich um!“, wiegelte sie seine Worte ab und strich sich einige der roten, nassen Strähnen aus dem Gesicht. Dann wollte sie Feuer machen, während Lianth sich zurückzog. Nicht aus Scham oder Höflichkeit, wie Tami glaubte, sondern aus ganz anderen Gründen. Trotzdem sah die Krähe ihm nach, als er verschwand und lächelte leicht. Seine Art war eben so ganz anders und Tami war es immer gewohnt, um sich zu beißen, ihr Alter zu verteidigen oder das, was sie spärlich besaß. Dass Lianth ihr einfach nichts wollte, was gänzlich ungewohnt und so schaffte es der Heiler auf seine Art, dass sie ihn mochte. Wie sie es bereits gesagt hatte. Tatsächlich aber war Tami niemand, der sich einfach nahm, was ihm in den Sinn kam. Die Nähe zu Lianth hatte gewisse Gedanken geschürt, aber sie war längst nicht so weit, hier irgendetwas hineinzuinterpretieren. Es war, was es war.

Zwei Fremde, die irgendwie durch das Schicksal verbunden waren und nun das beste daraus machen mussten. So kümmerte sie sich um das Feuer, während Lianth seine ganz eigenen Kämpfe ausfocht. Sein Rattenschwanz war ein großes Hindernis für ihn. Er litt unter der Existenz und wollte nichts mehr als ihn zu verbergen. Die Angst davor, entdeckt und stigmatisiert zu werden, begleitet Lianth seit dem Rattenbiss und seiner Verwandlung. Und so wurde er äußerst kreativ, schlang sich den Schwanz um die Hüften und erschuf so die Finte eines kleinen Polsters. Als er halbwegs zufrieden war mit seiner Verkleidung, trat er wieder hervor und in den Lichtschein eines kleinen Feuers. Tami hatte jenes allerdings ganz herkömmlich erschaffen und wärmte gerade ihre Hände daran, als sie aufsah und ihn stirnrunzelnd musterte. Ihr Blick ruhte auf seiner Körpermitte und sie neigte den Kopf. „Man, dieses Oberteil macht dich irgendwie dicker. Nicht sehr vorteilhaft!“, plapperte sie schon wieder recht frei Schnauze und grinste dann. Das Feuer verlieh ihren ohnehin roten Haaren einen satten Farbton und die Schatten tanzten auf ihren Sommersprossen, während sie ihm erläuterte, wie es nun weitergehen sollte. "Äh ... d-du ... be-begleitest mich? A-aber w-was i-ist denn aus d-deinen Plänen g-geworden? W-was ist m-mit Mo-Mor-Morgeria? D-darfst d-du ni-nicht mitgehen? I-ist e-es auch für d-dich zu gefährlich, d-dass d-du in Grandea b-bleiben so-sollst?" Die junge Frau schaute ins Feuer zurück und zuckte wortkarg die Schultern. „Um ehrlich zu sein, ist es meine Entscheidung hier zu sein.“, begann sie zu erklären und sah seufzend wieder auf, sofern er sich noch nicht gesetzt hätte. „Ich hatte ein schlechtes Gewissen, dich hier allein zu lassen. Und… ich will dir helfen zu deinem Bruder zu kommen“, murmelte sie, während sie seinem Blick auswich.
Dann wandte sie sich um und änderte schnell das Thema. „Hab was zum Essen dabei – magst du was?“, fragte sie und hielt ihm Trockenfrüchte und etwas Knäckebrot entgegen. Dann fragte sie doch noch mal nach, was er in Grandea gemacht hatte. "Ich musste n-nach Farno sehen. M-Mein Patient. Z-zum Glück hätte e-er mich nicht g-gebraucht. Sein Furunkelkrater heilt gut ab! I-ich freue mich w-wirklich darüber." „Ihgitt.“, machte Tami und verzog das Gesicht. Sie wollte gerade von einem Brot abbeißen, was sie jetzt lieber ließ. „Es ehrt dich ja, dass du das musst, aber du kannst doch nicht einfach losgehen und dich so einer Gefahr aussetzen, Lianth… Du hast gesehen, wozu die fähig sein können.“ "I-ich hoffe, e-er bekommt a-auch keinen Ä-Ärger. Oh ... ohweh! M-meinst du, w-wir sollten n-nochmal n-nach ihm sehen g-gehen? Diese Dunkelelfen ... s-sie waren so g-gemein. Was, w-wenn sie es zu ... zu ihm a-auch sind? Nur weil ..." „Lianth!“, schlug Tami einen ernsten Ton an.

„Farno lebt sein ganzes Leben in Grandea und der kann sich wehren! Himmel, wir sind mit Scheiße aufgewachsen, haben uns um Brotkrumen geprügelt und der Dreck in unseren Gesichtern hielt uns warm. Der kommt klar und… ach mach dir um den einfach keine Sorgen!“ "S-sie waren sch-schrecklich g-gemein. K-kein Wunder, d-dass i-ihr weggerannt s-seid. S-sind a-alle in Grandea so ... so ... gemein?", kam Lianth mit der Erinnerung nicht so zurecht und Tami wurde etwas weicher. Sie seufzte. „Wenn du in Grandea nicht gemein bist, dann ist das Leben gemein zu dir. Keine Ahnung, ich glaube, die Dunkelelfen führen einfach kein einfaches Leben und sind zu dem gemacht worden.“, sie zuckte die Schultern und krümmelte nun doch ihre Sachen voll als sie vom Brot abbiss. „Vielleicht wollen die auch nicht so sein und haben keine Wahl.“, murmelte die Krähe und starrte missmutig ins Feuer. „Was keine Entschuldigung sein soll. Nur weil das Leben ein Arsch ist, muss man es nicht auch sein…!“ Sie sah zum Elfen und konnte ihm seine Nervosität ansehen. Sie wurde milder. „Ach Lianth… Ich will dir gar nicht sagen, dass du dich daran gewöhnen solltest, aber… aber vielleicht zumindest damit rechnen, dass es eben auch mal anders sein kann als du es gewohnt bist. Du hast gesagt, du kommst aus Shyáná Nelle.“, leitete sie ein klein Wenig Heilung ein. Sie lächelte ihn an. „Willst du mir nicht davon erzählen? Lebst du in einem Haus oder lebt ihr auf Bäumen? Hab gehört, einige Elfen leben auf Bäumen. Und du hast also einen Bruder, ja? Was macht der so? Und deine Eltern?“, fragte sie und das nicht ganz ohne Hintergedanken. Tami sah Lianth an, dass er geschockt von der Erfahrung war. Und sie musste ihn ja nicht brechen, indem sie sagte ‚siehst du?!‘. Sie wollte ihn ablenken und zudem hatte sie auch noch nie etwas anderes gesehen als Grandea. Dass es anderswo viel harmonischer sein könnte, das stellte sich Tami wundervoll vor. „Klingt irgendwie zu schön, um wahr zu sein, dass ihr da keine Missgunst, Neid oder Gewalt kennt…“, sagte sie dann etwas traurig und man sah der jüngsten Krähe an, dass das ihren Alltag schon immer bestimmte.

Re: Der Scheideweg

Verfasst: Dienstag 9. Januar 2024, 08:03
von Lianth
Konnte jemand wie Lianth einschüchternd wirken? Wohl kaum! Aber jetzt, da er Tami so nahe war und sie mit diesem besorgten Blick musterte, da hinterließ er seine Spuren. Ihr Herz klopfte schneller, kräftiger, während er damit begann ihren Körper nach Anzeichen abzusuchen, die auf einen Infarkt oder dessen Vorstufe hindeuteten. Schließlich aber erkannte sogar der naive Shyáner, dass Tami es nicht ernst gemeint hatte. Ein wenig beschämt zog er sich in eine Nische zwischen Vorratsregalen zurück, um sich umzuziehen.
Er brauchte länger als nötig, hatte er doch zusätzlich zu der üblichen Routine des Kleiderwechsels noch das Problem, seine Hybridenzeichen zu verbergen. Die Hose war ihm hierbei kein Freund. Tami hatte sie eng anliegend gewählt und da passte nun einmal kein Rattenschwanz mehr hinein. Es blieb ihm nichts Anderes übrig, als ihn sich um den Bauch zu wickeln und durch das glücklicherweise nicht allzu kurze Hemd zu verbergen. Trotzdem erhielt er dadurch ein paar leichte Röllchen, die auch von der Krähe nicht unbemerkt blieben.
"Mann, dieses Oberteil macht dich irgendwie dicker. Nicht sehr vorteilhaft!", plauderte Tami drauf los, als Lianth zum Feuer und ihr zurückkehrte. Er schaute an sich herab und versuchte gar, die Rattenröllchen etwas platt zu drücken, mit mäßigem Erfolg. Es führte nur dazu, dass er leicht fiepste. Zum Glück ging Tami ansonsten aber nicht weiter darauf ein. Sie kümmerte sich um das weitere Vorgehen und wie sie es anstellen wollten, dass Lianth zurück in seine Heimat käme. Dabei ließ sie durchblicken, ihn begleiten zu wollen. Das wunderte den Elfen. Er hatte doch miterlebt, wie sie geradezu Feuer und Flamme dafür gewesen war, Morgeria aufzusuchen und einen Schatz zu heben. Überrascht hakte er nach. Tami blickte ins Feuer statt zu ihm, was Lianth durchaus recht war. Er fühlte sich oft sehr unwohl, wenn andere ihn zu lange anschauten.
"Um ehrlich zu sein, ist es meine Entscheidung her zu sein. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, dich hier allein zu lassen."
"T-Tami..." Lianth bekam große Augen. Sie war wegen ihm zurückgelieben? Sie verzichtete auf Abenteuer, Schatzsuche und die Gesellschaft ihrer Krähen, die sie kannte - ganz im Gegensatz zu ihm? Das alles für ihn? Ergriffen musterte er sie. "Und ... ich will dir helfen, zu deinem Bruder zu kommen." Ihm ging das Herz auf. Seine Augen schimmerten wie goldener Honig und er hatte sogar rosige Wangen bekommen. Die Hand lag auf dem eigenen Herzen. Lianth war tief berührt von ihrer Entscheidung und wusste gar nichts dazu zu sagen. Das verhalf Tami dabei, das Thema zu wechseln. Gemeinsam aßen sie von den getrockneten Früchten und dem Knäckebrot. Lianth knabberte an seiner Scheibe, die er mit beiden Händen hielt. Er knusperte und erklärte nebenher den Grund für seine Rückkehr nach Grandea.
Tami hielt ihm zu Gute, dass er so bemüht um jeden seiner Patienten war, ob alt bekannt oder frisch wie Furunkel-Farno. Trotzdem musste sie ihn auch für sein Handeln tadeln. Witzigerweise ließ der größer gewachsene Elf es ohne jegliche Überheblichkeit über sich ergehen. Er respektierte Tami sogar. Wie Farno kannte auch sie sich auf den Straßen hier besser aus. Lianth kam nicht auf die Idee, das zu denunzieren, nur weil er eindeutig der Ältere von beiden war. Seine Erfahrungen beschränkten sich auf Shyána Nelle und dort herrschten bei weitem nicht die Verhältnisse wie hier in Grandea. Dort war keine Wache dermaßen ... gemein.
Selbst sein Wortschatz litt unter der weltfremden Art des Elfen. Er hatte sich nie mit so viel Grausamkeit auseinandersetzen müssen, weil er mit derlei Situationen bisher nicht konfrontiert gewesen war. Folglich kannte er kaum Worte, um das Erlebte zu beschreiben.
"Wenn du in Grandea nicht gemein bist, dann ist das Leben gemein zu dir."
"A-aber ... d-du bist kein bisschen g-gemein", hielt er leise dagegen. Lianth war niemand, der aufbegehrte, auch nicht mit seiner Stimme. Obwohl selbst er auf dem Marktplatz gezeigt hatte, dass er es konnte. Er musste nur verzweifelt und besorgt genug um das Wohlergehen anderer sein.
"Ach, Lianth ... Ich will dir gar nicht sagen, dass du dich daran gewöhnen solltest, aber ... aber vielleicht zumindest damit rechnen, dass es eben auch mal anders sein kann als du es gewohnt bist." Er nickte daraufhin. Hier war vieles ungewohnt für ihn, sehr vieles. Doch er nahm sich Tamis Worte zu Herzen. Sie bemühte sich um ihn, also wollte er es ihr vergelten. Und sie würde ihn zurück zu Lavellyn begleiten. Allein dafür musste Lianth ihr schon unendlich dankbar sein. Er fürchtete ja bereits, den Weg nicht wieder in den Urwald zu finden und er vermisste seine wohlbehütete Heimat schon sehr. Vor allem vermisste er seinen Bruder.
"Du hast gesagt, du kommst aus Shyána Nelle." Wieder nickte er. Selbst dabei schien er zu stottern, denn es kam abgehackt und verzögert. Außerdem lächelte er verlegen, als gäbe es einen Grund, sich für seine Herkunft zu schämen. Lianth wicht Tamis Blick aus, indem er sich kleine Krümel des vertilgten Knäckebrots von der Hose zupfte. "Willst du mir nicht davon erzählen? Lebst du in einem Haus oder lebt ihr auf Bäumen? Hab gehört, einige Elfen leben auf Bäumen. Und du hast also einen Bruder, ja? Was macht der so? Und deine Eltern?"
Tami war ein rauschender Wasserfall an Fragen. Jedes Mal, wenn Lianth zu einer Antwort ansetzte, schickte sie eine neue Flut auf ihn hernieder, doch der Elf badete einfach darin. Er ließ das Wasser auf sich niederprasseln, schloss die Augen und konzentrierte sich nur auf die Frische, die es bei ihm hinterließ. Es war schön, mit dem Rotschopf zu sprechen. Es nahm ihm die Nervosität. Lianth taute auf. Tami mochte es erkennen, da sein Gestammel wich, je mehr er von seiner Heimat erzählte.
"Shy-Shyána Nelle i-ist ein ... ein Paradies i-im Paradies. D-der Urwald Ka-Kapayu um u-uns herum behütet uns. S-Seine Gefahren lassen n-niemanden i-in unser Tal, d-der ... g-gemein ist. Florencia u-und Phaun ... s-sie schützen u-uns. A-aber wir leben n-nicht auf Bäumen. Das s-sind die Tabiki. M-Menschenvölker des Urwalds. I-ich hab noch k-keinen von ihnen gesehen, a-aber ich hab mich b-bisher auch nur auf bekannten Pf-Pfaden bewegt. Sicheren Pfaden. Nur zuletzt nicht, a-als ... General Vashnar mich fand." Er seufzte. Dieses Kapitel wollte er für sich lieber abschließen. Dass der Dunkelelf so gemein war, wie die Soldaten unter Weißauge sich dargestellt hatten, konnte er noch immer nicht ganz glauben. Aber er wollte lieber nicht darüber nachdenken, denn das hieß, sich einer bitteren Wahrheit stellen zu müssen, die er im Moment vielleicht nicht verkraftete. So konzentrierte Lianth sich lieber auf die schöneren Themen. "Mein B-Bruder Lavellyn. Ich nenne ihn V-Vellyn. Er ist älter als ich u-und hat sich um mich gekümmert, nachdem unser Vater verstorben ist. A-als er seinen herzbedingten Zusammenbruch hatte, habe ich mich u-um ihn gekümmert. Unsere Mutter liebt uns s-sehr, aber ihr tat es weh, ihren Ältesten so zu sehen. Sie besucht uns noch immer, aber seltener. Sie führt ihr Leben fort, wir das unsere." Er schaute auf. Seine Augen funkelten warm. "Ich arbeite bei meinem Bruder in der Apotheke mit. Ich helfe ihm aus. Ich untersuche die Patienten, die dann zu seinen Kunden werden. Wir sind nicht reich, a-aber ... glücklich." Er lächelte. Ohja, mit Vellyn war er nie traurig gewesen. "Mein Bruder liebt mich wie ich bin. Und ich liebe ihn. Wir sind einander keine Last."
"Klingt irgendwie zu schön, um wahr zu sein, dass ihr da keine Missgunst, Neid oder Gewalt kennt..."
"Vielleicht sind sie in einigen Ecken von Shyána vorhanden, a-aber ... ich kenne nichts davon. Ich fürchte es, aber ich ... ich verstecke mich gut." Er gluckste und kratzte sich dann an der Wange, knapp unterhalb der aufgeklebten Bernsteinsplitter. Sein Lächeln zeugte von Verlegenheit. Er hatte Tami mehr Einblick in sein selbst gewährt als einem der Dunkelelfen, mit denen er gereist war. Aber sie zeigte sich an ihm interessiert und sie fragte nach. Er musste nur aufpassen, nicht zu viel zu verraten. Lügen würde Lianth nicht, das stand gegen seine eigens gesetzten Prinzipien. Ihnen und sich selbst blieb er treu. Aber er würde das Thema umschiffen, das ihn als Monster deklarierte. Nicht, weil er sich wie eines fühlte. Das war auch schon in Shyána Nelle nicht der Grund gewesen. Er hatte nur Angst, dass man ihn als eines sehen könnte und er nicht imstande wäre, sich zu erklären, ehe man ihn verjagte oder voller Abscheu verstieß. Er hatte Angst vor Tamis Reaktion. Denn sie war so ... so...
"Du bist unglaublich lieb, Tami", sagte er offen, ohne Scheu und ohne Gestammel. Er war einfach eine aufrichtige Haut, die das Herz auf der Zunge trug. "Bitte, erzähl mir auch von dir, ja?"

Re: Der Scheideweg

Verfasst: Freitag 12. Januar 2024, 10:58
von Erzähler
Auf alles Schlechte, folgte bekanntlich wieder etwas Gutes. Es war ein ständiges Auf und Ab und das Leben keine gerade Linie, sondern eine Berg- und Talfahrt. Lianth hatte schlimmes erleben müssen und erkannte, dass eben doch nicht alles so friedlich und wunderschön war, wie in Shyáná Nelle. Doch das wurde mit einer Handbewegung fortgewischt, als die jüngste Krähe ihm offenbarte, dass sie sich aktiv für ihn entschieden hatte. Dass sie ihre Freunde, ihre Familie gar, zurückließ, um hier bei ihm zu sitzen. Lianth war gerührt. Schlicht und ergreifend starrte er die Rothaarige an und wusste nicht, was er zu so viel Güte sagen sollte. Dafür sprach sein Ausdruck Bände. Tami hob aufgrund seines Schweigens unsicher den Blick und … starrte. Die Diebin blickte in diese schimmernden Honigtöpfe, die seine Augen waren und war wie ein Schleckermäulchen gefangen. Ihr stand ein wenig der Mund offen, weil Lianth auf eine Weise leuchtete, die sie vorher noch nicht gesehen hatte. Sein Blick brachte ihr Blut zum Rauschen, während ihr Herz alle Hände voll zu tun hatte, dieses Aufwallen abzuarbeiten. Weil er jedoch zu ihrem Geständnis schwieg, räusperte sie sich, riss sich von seinem Anblick los und schaute zurück ins Feuer. So konnte sie sich wieder konzentrieren und sich weiter mit ihm unterhalten.
"Wenn du in Grandea nicht gemein bist, dann ist das Leben gemein zu dir."
"A-aber ... d-du bist kein bisschen g-gemein"
, antwortete er und erneut hob sie stockend den Blick.

Dann verzog sie den Mund zu einem schiefen Grinsen. „Naja weißt du, ich kann auch außerordentlich gemein sein…“, nuschelte sie und dachte dabei an das, was sie Ysara an den Kopf geworfen hatte. Unwohl fühlte sie sich mit einem Mal und stocherte daraufhin einen Moment versunken in Gedanken im Feuer. Um sich erneut nicht damit befassen zu müssen, versuchte sie ihm zu erklären, dass er die Welt ein Bisschen kritischer sehen musste. Aber sie wollte LIanth auch nicht überfordern oder gar brachial belehren. So änderte sie die Richtung ihres Gespräches und fragte nach seiner Heimat. Es interessierte sie tatsächlich, denn der Heiler hatte ihr einen kleinen Floh ins Ohr gesetzt. Ihre Magie wäre etwas, das sie gewiss erlernen wollte, doch bisher hatte sich diese Frage einfach nie gestellt. In Grandea bildete niemand aus und leisten konnte sie sich eine Schule ohnehin nicht. Aber vielleicht könnte sie ihr Leben anders aufziehen und das Geld verdienen? Tami wusste es nicht, aber sie war bereits für etwas Neues. So hörte sie Lianth zu, während er von seiner Heimat schwärmte. "Mein B-Bruder Lavellyn. Ich nenne ihn V-Vellyn. Er ist älter als ich u-und hat sich um mich gekümmert, nachdem unser Vater verstorben ist. A-als er seinen herzbedingten Zusammenbruch hatte, habe ich mich u-um ihn gekümmert. Unsere Mutter liebt uns s-sehr, aber ihr tat es weh, ihren Ältesten so zu sehen. Sie besucht uns noch immer, aber seltener. Sie führt ihr Leben fort, wir das unsere.", erzählte er und Tami lächelte kurz. Sie hatten auf jeden Fall Gemeinsamkeiten. Auch Elian hatte sich immer um sie gekümmert. Es war seltsam zu erkennen, dass dem jetzt nicht mehr so war. Tami rutschte etwas unruhig auf dem Boden zurecht und kratzte sich die Nasenspitze. Sie wollte nicht zu sehr darüber nachdenken, was sie zurückließ. Und schon gar nicht die Ungewissheit in ihr Herz lassen, ob sie ihre Freunde und ihren Bruder je wiedersehen würde.
"Ich arbeite bei meinem Bruder in der Apotheke mit. Ich helfe ihm aus. Ich untersuche die Patienten, die dann zu seinen Kunden werden. Wir sind nicht reich, a-aber ... glücklich." „Das ist die Hauptsache… schätze ich.“, zuckte sie die Schultern. Tami wollte schon immer etwas mehr erreichen in ihrem Leben. Sie wollte nicht jeden Tag am Hungertuch nagen und nicht wissen, ob sie zurechtkommen werden. Diese Sorgen, jeden Tag, spiegelten sich in ihrem Gesicht wider, als sie es auf ihre geballte Faust stützte und weiter im Lagerfeuer herumstocherte mit ihrem Stock. "Mein Bruder liebt mich wie ich bin. Und ich liebe ihn. Wir sind einander keine Last." Nun hob sie die Augenbrauen und musterte Lianth wieder. „Wieso solltest du eine Last sein?“, fragte sie unverblümt und seufzte daraufhin aber. „Naja, ich weiß schon. Manchmal glaube ich, war ich auch eine Last. Ich… ach egal.“, murmelte sie unwillig und es zeigte sich, dass Tami auch mit gewissen Themen haderte. "Vielleicht sind sie in einigen Ecken von Shyána vorhanden, a-aber ... ich kenne nichts davon. Ich fürchte es, aber ich ... ich verstecke mich gut.", antwortete er auf ihre Aussage, dass das alles viel zu idyllisch klang.

Tami lächelte mit einem Mal. „Na siehst du! Du lernst schon. Es ist nicht alles immer schön und gut, aber … man kann sich manchmal davor verstecken. Wobei ich denke, dass das gar nicht so gut ist…“, sinnierte sie leise und seufzte abermals. „Man kann sich mal verkriechen, aber das löst die Probleme eben nicht. Man muss… sie anpacken, sie … sie hervorziehen und daran arbeiten. Wenn einen etwas unglücklich macht, sollte man alles daransetzen, es zu ändern oder nicht? Warum akzeptieren, was einen belastet?“, fragte sie und spiegelte ein wenig ihre eigene Situation. "Du bist unglaublich lieb, Tami" Nun hob sie die Augenbrauen und sah ihn verblüfft an. „Ehm…“, machte sie überrascht und plötzlich schoss ihr die Röte in die Wangen. „Ach… ach was…“, winkte sie ab, räusperte sich und man sah ihr die Verlegenheit deutlich an. Trotzdem konnte sie nicht verbergen, dass das Kompliment ihr schmeichelte. "Bitte, erzähl mir auch von dir, ja?" Tami legte den Stock beiseite, fasste sich in den Nacken und rieb jenen. „Oh… ich weiß nicht, ob du das wirklich hören willst.“, versuchte sie abzuwinken. „Es ist nicht sonderlich… spannend oder so schön, wie bei dir…“, druckste sie herum und erhob sich unruhig. Tami wanderte einen Moment auf und ab, bevor sie ihre nervösen Hände in ihren Rucksack steckte und eine Feldflasche hervorzog, um daraus zu trinken. „Hast du Durst?“, fragte sie und hielt ihm die Flasche entgegen. Dann stockte sie. „Oh, ich hätte dir zuerst etwas anbieten sollen, oder? Tut mir wirklich leid, ich… ich hab es nicht so mit höflichen Gepflogenheiten.“, gestand sie und erinnerte sich an etwas, was sie schief grinsen ließ. „Ysara hatte versucht mir ihre Welt näherzubringen und mal Unterricht gegeben in Benimmregeln und Tischmanieren!“, Tami lachte auf bei der Erinnerung. „Ich war so scheiße darin, wirklich!“, plapperte sie und legte die Flasche beiseite, wenn Lianth sie nicht entgegennahm. „Mein Leben lang gab es immer nur Elian und mich.“, begann sie dann ernster und mit dem Blick in das Feuer gerichtet. „Er hat… nachdem unsere Eltern gestorben waren, hat er sich um mich gekümmert. Immer. Nicht einmal hat er seine Bedürfnisse über meine gestellt. Ich… ich kann mich nicht erinnern, dass ich ihm… je dafür gedankt habe…“, keuchte sie und plötzlich brach sich die Tragweite ihrer Entscheidung Bahnen. Ihre braunen Augen sprudelten über und sie wischte sich hektisch über die Wangen.
Es war ihr unangenehm, dass sie vor Lianth weinte, wie ein Säugling. „Aber… aber ich kann nicht immer die kleine Schwester sein, nicht wahr? Er… er ist doch auch mal dran und wenn ich immer in seiner Nähe wäre, würde er niemals…“, sie schniefte und wischte sich abermals über die Augen. Noch immer stand sie und das Feuer leckte über ihre Sommersprossen. Dann straffte sie ihre Schultern und blickte Lianth fest an. „Manchmal muss man etwas loslassen, damit etwas anderes Platz an deiner Seite findet, oder? Wenn ich etwas ändern will, dann… muss es so sein. Dann muss ich lernen, allein klarzukommen. Ich lebe mein ganzes Leben hier in Grandea. Ich kenne nichts anderes, aber ich weiß – dank Ysara -, dass es so viel mehr auf dieser Welt gibt. Lianth – ich… ich kann nicht mein ganzes Leben hier verbringen und jeden Tag die Sorge haben, ob ich überleben werde, etwas Essbares finde oder mich eine Krankheit dahinrafft. Es muss sich etwas ändern und ich muss den ersten Schritt wagen!“, bewies sie ein helles Köpfchen und Kampfwillen. Die Tränen waren versiegt, dafür trat ein entschlossener Glanz in ihre feuchten Augen. „Versprichst du mir etwas, auch wenn wir uns nicht kennen?“, fragte sie und trat auf den Elfen zu. „Sagst du mir immer ehrlich, was du von mir hältst? Und nimm dich nicht zurück, wenn du etwas hast, das sag es mir in Ordnung?“, fragte sie und reichte ihm daraufhin eine Hand, damit er einschlagen konnte. „Ich helfe dir, nach Shyáná zu kommen und zu deinem Bruder. Danach… lasse ich mich treiben und sehe, wohin mein Weg mich führt!“, versprach sie und lächelte enthusiastisch.

Re: Der Scheideweg

Verfasst: Freitag 19. Januar 2024, 13:44
von Lianth
"Naja, weißt du, ich kann auch außerordentlich gemein sein..." Dass Tami sich offenbar nicht ganz im Guten von Ysara und den anderen Krähen getrennt haben mochte, wusste Lianth nicht. Er ahnte es auch nicht, bezog ihre Aussage nicht einmal ansatzweise darauf, weshalb er nicht nachfragte. Es ging ihm letzten Endes nicht darum, Tami vorzuführen. Noch immer glommen seine Bernsteine von Seelenspiegeln voller Rührung für ihre Tat. Sie hatte sich von den übrigen Krähen - ihrer Familie! - abgewandt, um bei ihm zu sein. Sie wollte ihm helfen, dabei kannten sie einander doch kaum. In seinem Herzen verteilte sich eine Wärme, die ihre eigenen Worte mit Leichtigkeit abschmetterte. Sie und gemein?
"Vie-vielleicht kannst d-du das sein ... a-aber ... du e-entscheidest dich d-dagegen. D-das m-macht den Unterschied, j-jedenfalls ... f-für mich." Er lächelte, schickte die Wärme in seiner Brust hinaus, dass sie ihm nicht nur von der Zunge sprang, sondern sich auch als scheues Lächeln auf seine Lippen legte. Vielleicht mochte auch in Tamis Seele etwas Dunkles stecken, aber sie ließ es nicht an ihm aus und das gefiel ihm sehr. Denn auch Lianth wollte nicht bewusst gemein zu anderen sein. Ha! Als könnte er das! Die Flecken auf seiner Seele waren hybridischer Natur und hatten nichts mit seiner Persönlichkeit zu tun. Wenn man sich über etwas echauffieren wollte, dann, dass seine Weste zu blütenrein, seine Seele zu gütig und er einfach zu naiv war. So würde er in dieser Welt nicht bestehen.
Aber auch hier zeigte Tami sich von einer Seite, die Lianth nur begrüßen konnte. Sie machte ihn vorsichtig darauf aufmerksam. Sie versuchte nicht, zu ändern, was er war, sondern ihm nur einen anderen Blickwinkel aufzuweisen. Mit neuen Perspektiven würde er sich schon von allein entwickeln und so behutsam wie die rothaarige Krähe es anging, zerschlug sie ihn dabei nicht. Dunkelelfen wie General Vashnar hätten das früher oder später geschafft und wahrscheinlich eher mit einer unbedachten Kleinigkeit, die man so dahin sagte. Es war gut, dass er von der Gruppierung losgekommen war, aber es wurde Zeit für ihn, nach Hause zurückzukehren. Allein schon, weil seine Sorge um den Bruder groß war. Er wollte zurück, sich um ihn kümmern, so wie Elian sich sein Lebtag um Tami gekümmert hatte. Als Lianth behauptete, für seinen Bruder Vellyn keine Last zu sein, horchte sie auf. Diese Aussage schenkte ihr wohl eine neue Perspektive, wenn auch keine angenehme. Elian hatte es ihr gewiss niemals gesagt, aber leicht war die Zeit als großer Bruder bestimmt nicht gewesen, auch wenn er sich mit Herzblut um Tami kümmerte. Wenn er immer für sie da war, sie nie aus den Augen ließ ... wenn er ... verzichtete.
"Man kann sich mal verkriechen, aber das löst die Probleme eben nicht. Man muss ... sie anpacken, sie ... sie hervorziehen und daran arbeiten." Lianth schob seine Hände auf Höhe des Bauches. Dort schmerzte nicht. Die kleine Mahlzeit, die sie sich beide gegönnt hatten, war gut verträglich gewesen. Er berührte nur die Wulst seines Rattenschwanzes, welcher unter dem Stoff der Tunika verborgen war. Er wollte nicht, dass Tami oder sonst jemand ... das ... hervorzog. Er glaubte auch nicht wirklich daran, dass es seine Probleme löste, wenn er sich offen als halber Rattenelf präsentierte. Vielmehr ergäbe es doch nur mehr Probleme. Was ihn jedoch nachdenklich stimmte, war die Tatsache, dass er versucht hatte, es anzupacken. Er war in den Urwald gegangen, weiter hinaus und er hatte Dunkelelfen getroffen, war ihnen bis hierher gefolgt. Er hatte sich ausnahmweise einmal nicht verkrochen, nur gelöst hatte es bislang nichts, im Gegenteil. Lavellyn wusste nicht, dass er unversehrt war. Stattdessen hatte er so viel Unmut über Grandeas Dunkelelfen gebracht, dass sie ihn nun für einen Feind hielten. Und offenbar war sein Bisschen Mut, das er aufgebracht hatte, nicht erwünscht. Nach Morgeria sollte er nicht und auch nicht weiter hierbleiben. Er war sicherer in Shyána Nelle, seiner Heimat ... dem sicheren Versteck, in das er sich verkriechen könnte, bis aus ihm endgültig eine Ratte geworden wäre.
Die Gedanken betrübten ihn etwas. "Warum akzeptieren, was einen belastet?"
"Weil ... w-weil es manchmal k-keine Lösung gibt."
Lianth war froh, dass es rasch zu einem Themenwechsel kam. Außerdem erfuhr er so mehr von Tami und auch ihn interessierte ihr Werdegang aufrichtig. Er fragte nicht einfach grundlos nach. Geplänkel gab es bei einer ehrlichen Seele wie ihm nicht. Wenn er etwas wissen wollte, dann von ganzem Herzen. So lauschte er auch aufmerksam, ließ ihre Erzählungen nur kurz dadurch unterbrechen, als sie ihm eine Flasche reichte, damit er etwas trinken konnte. Dass es nun aber für Tami unangenehm wurde, hatte er nicht gewollt. Plötzlich wurde sie nicht nämlich der Tragweite bewusst, vielleicht ausgelöst durch Lianths Anmerkung, für seinen Bruder eben keine Last darzustellen. Sie hingegen...
"Ieeeeeeehhhh....kkk!" Lianth fiepste erst, dann sprang er auf. So hektisch hatte die Krähe ihn wohl noch nicht erlebt. Wobei er schon recht nervös gewesen war, als sie alle hatten fliehen müssen. Jetzt jedoch stand nicht Angst im Vordergrund, sondern Sorge und Bedauern. "I-ich ... b-bitte ... n-nicht ... iehk ... weinen. T-Tami ... i-ich wollte n-n-nicht..."
"Manchmal muss man etwas loslassen, damit etwas Anderes Platz an deiner Seite findet, oder?" Damit schaffte nicht nur Tami es, sich selbst langsam wieder zu fassen, sondern sie wischte auch Lianths Nervosität, sie erschreckt zu haben, beiseite. Er stutzte. "D-du meinst ..." Er wurde blass und nun trat in seine Augen ein Glanz, dass man fürchten konnte, sie würden gleich wässrig. "I-ich ... soll Vellyn ... loslassen?" Vielleicht war er für ihn doch eine Last oder würde es eines Tages sein, wenn er erst einmal eine riesige Ratte wäre. Allein der Käseverbrauch musste doch auffallen und wie schnell würde man ihn dann entdecken. Auch er würde wohl lernen müssen, allein zurechtzukommen. In einer Welt, die nicht so liebevoll und paradiesisch wie Shyána Nelle wäre. Das würde schwer werden. ... Nur Mut ... außerdem bin ich im Moment ja nicht allein. Tami ist es. Sie hat alles losgelassen, um mir zu helfen.
Er betrachtete sie. Tamis Traurigkeit war versiegt. Der Rotschopf wusste offenbar, wie sie sich selbst motivieren konnte. Sie wirkte agil und entschlossen. Lianth starrte sie an. Er zuckte zusammen, als sie ihm näherkam. "Versprichst du mir etwas, auch wenn wir uns nicht kennen? Sagst du mir immer ehrlich, was du von mir hältst? Und nimm dich nicht zurück, wenn du etwas hast, dann sag es mir, in Ordnung?"
Lianth nickte, schüttelte den Kopf und nickte erneut. Er beantwortete ihr alle Fragen stumm, aber auf einmal. Ebenso still gab er das Versprechen ab. Doch sie schien mehr zu erwarten. Schließlich sollte er ihr sagen, was er von ihr hielt. "D-du ... bist b-beindruckend ... u-und du redest sehr viel. A-also ... sehr ... viel. SEHR ... viel ... a-aber das mag ich. W-weil ... dann muss ich nicht so viel reden." Er lächelte verlegen, senkte den Blick und zupfte sich wieder an seinem Zopf herum. von der Flechfrisur war kaum noch etwas übrig. Plötzlich schob sich eine ausgestreckte Hand in sein Sichtfeld. Er hob den Blick an.
"Ich helfe dir, nach Shyána zu kommen und zu deinem Bruder. Danach ... lass ich mich treiben und sehe, wohin mein Weg mich führt!"
"G-gut", willigte er ein, ohne die Hand zu ergreifen. Stattdessen tat Lianth etwas, das niemand ihm zutraute, er sich selbst am wenigsten. Aber Tami war lieb, kein bisschen gemein und so weit weg von Vellyn die vertrauenswürdigste Person, die dem Shyáner bislang begegnet war. Er fürchtete sich nicht vor ihr. So ignorierte er ihre Hand und legte stattdessen seine um ihre Gestalt. Dabei zögerte er nicht, denn jemand wie Lianth besaß keine anzüglichen Hintergedanken. Er wollte einfach nur seine Dankbarkeit ausdrücken. Außerdem war es ihm ein Bedürfnis, Tami im Gegenzug ein Angebot zu machen. "Ich helfe dir, mich nach Shyána zu bringen ... u-und dann, dort einen Lehrmeister für dich zu finden. Es gibt viele, du musst nicht einmal den E-Erstbesten nehmen. Du könntest deine Magie ausbauen. In 30 oder 50 Jahren bist du bestimmt schon richtig gut darin!"

Re: Der Scheideweg

Verfasst: Freitag 2. Februar 2024, 22:27
von Erzähler
Das Gespräch, dass Tami und Lianth führten, war schon sehr intim. Die Weisheiten und Gedanken zu teilen, die man doch sonst nur mit wirklich nahestehenden Personen teilte, war etwas Besonderes. Tami zeigte eine innere Reife, die sie manchmal vermissen ließ, wenn sich ihre Sprache roh färbte und ihr aufbrausendes Gemüt gleich einer Feuerwalze über alle hinwegfegte. Aber das Mädchen mit den roten Haaren und den braunen Augen hatte ein karges, entbehrungsreiches Leben hinter sich und das machte sie gewissermaßen weise. Lianth rührte es zutiefst, dass die Feuermagierin sich einfach so für ihn entschieden hatte. Er sprach ihr zu diesem Zeitpunkt das größte Herz zu, das es wohl zu finden gäbe und war ihr mehr als dankbar für ihre Wahl. Er wollte nach Hause und nun musste er den Weg nicht mehr allein finden. Dass allein bedeutete dem Elfen schon eine ganze Menge. Allerdings wurde über ihr Gespräch auch dem Mädchen bewusst, was sie eigentlich plötzlich und impulsiv aufgegeben hatte. Tami kamen die Tränen und Lianth reagierte vollkommen erschrocken. Er fiepte, als wäre er eine wahrhaftige Ratte und Tami hob überrascht den Blick. Sie musterte ihn und vergaß darüber fast das Weinen. "I-ich ... soll Vellyn ... loslassen?" Tami runzelte die Stirn. Dann schüttelte sie den Kopf und beruhigte sich allmählich wieder. „Nein…“, murmelte sie. „Das habe ich nicht gemeint. Aber… aber wenn man an dem festhält, was man eh immer hat, dann… entsteht einfach nichts Neues.“, murmelte sie abermals und schniefte noch mal. Tami seufzte daraufhin und wischte sich die restlichen Tränen ab. Einen Moment atmeten beide durch, doch dann ging ein Ruck durch das Mädchen. Sie verlangte Ehrlichkeit von ihm und reichte ihm zum Besiegeln die Hand.
"D-du ... bist b-beindruckend ... u-und du redest sehr viel. A-also ... sehr ... viel. SEHR ... viel ... a-aber das mag ich. W-weil ... dann muss ich nicht so viel reden." Tami hob die Augenbrauen an und dann stahl sich ein Lächeln auf ihre Wangen. „Ach, Lianth…“, seufzte sie und eine feine Röte zeichnete sich auf ihren Wangen ab. Sie versprach ihm, ihn nach Shyana zu bringen und sich dort dann etwas für sich zu suchen. Eine leichte Vorfreude war auch ihr anzumerken, denn Tami hatte Grandea nie verlassen. "Ich helfe dir, mich nach Shyána zu bringen ... u-und dann, dort einen Lehrmeister für dich zu finden. Es gibt viele, du musst nicht einmal den E-Erstbesten nehmen. Du könntest deine Magie ausbauen. In 30 oder 50 Jahren bist du bestimmt schon richtig gut darin!" Sie lachte wieder.

„30 oder 50 Jahren, hm?“, wiederholte sie und ließ sich von Lianth umarmen, während sie ihm dabei dann auf den Rücken klopfte. Es war gut so. Sie fühlte sich in ihrer Entscheidung bestärkt und der Kummer war wieder verflogen. So war sie eben – flatterhaft mit ordentlich Gefühl im Leib! „Schauen wir mal, ob ich das etwas schneller hinbekommen kann, sonst nützen mir meine Fähigkeiten auch nichts mehr“, grinste sie. Dann wurde sie nachdenklich. „Ob Menschen ein höheres Potenzial haben, weil sie nicht so viel Zeit haben, dieses zu erlernen?“, sinnierte die junge Tami und tippte sich gegen die Lippen. „Wäre zumindest fair, nicht wahr?“, feixte sie daraufhin und schniefte noch mal, weil ihre Nase noch lief, aufgrund der Tränen. Doch von der Schwere ihres Gemüts war nichts mehr zu sehen, sodass sie sich abwandte, nachdem sie sich gelöst hatten. Tami wandte sich dem Lager zu und spähte kurz durch das Fenster nach draußen. „Wir sollten langsam zusammenpacken.“, meinte sie und begann daraufhin gleich damit. Während sie alles verstaute und sich dann anschickte, das Feuer zu löschen, fragte sie: „Sind das eigentlich Muskeln unter deinem Hemd, oder Speckröllchen?“, fragte sie völlig frei heraus. Allerdings hatte Lianth sie umarmt und sie durchaus gespürt, dass sich dort etwas unter seinem Hemd verbarg. Aber sie wirkte nun nicht so investigativ, als dass sie es jetzt auch zwingend verfolgen würde. Es war eher der Versuch, ein saloppes Gespräch zu führen, nachdem sie einander ihre Herzen etwas geöffnet hatten. Nachdem alles gut verstaut und zurechtgemacht war, blickte sie sich noch mal um. „Niemals Spuren hinterlassen!“, erklärte sie Lianth ihr Tun und suchte noch nach etwas, das auf sie hinweisen könnte. Als sie zufrieden war, schulterte Tami ihren Rucksack und blickte Lianth aufrichtig aufgeregt an. „Also dann, die Straße entlang und immer, immer fort! Sie Straße voran!“, zitierte sie ein bekanntes Wanderlied aus Grandea und grinste. „Oder so!“. Auch Lianth musste zusehen, dass er alles einpackte und nichts vergaß. Wie war es inzwischen um seine Kräuter bestellt? War der Vorrat aufgebraucht oder noch gut bestückt? Waren Phiolen bei der Auseinandersetzung mit den Dunklen zu Bruch gegangen? Sofern er alles kontrolliert hatte, wurde es Zeit. Die Dämmerung hatte eingesetzt und Tami führte Lianth wieder hinaus in die freie Natur.
Grandea war im dunklen Zwielicht gut sichtbar. Man hatte hier und dort einige Leuchtfeuer entfacht, um etwaige ungebetene Besucher abzuschrecken oder gleich sehen zu können. Ansonsten war in näherer Umgebung nicht viel los. Hier und dort konnte man noch eine Wache auf der Stadtmauer patrouillieren sehen, aber alles blieb ruhig. Die Weite vor Grandea war teilweise Ackerland, aber auch Brachland. Der Frost hatte den Boden und die Rillen der Fuhrwerke hart gemacht, sodass man wieder darauf achten musste, wohin man trat. Tami aber ging mit Elan voran. Die Rothaarige trug eine grüne Tunika mit braunen Lederapplikationen. Dazu eine braune Hose, die man auch zum Reiten verwenden könnte und einen dunkelgrünen Umhang mit großer Kapuze. Ihre beiden Zöpfe wippten etwas bei ihren Gang, während sie offenbar den Weg kannte, den sie nehmen wollten. Als erstes ließen sie das Lagerhaus hinter sich und wandten sich nach Norden. Hier gab es einen breiten Feldweg, der in der Mitte mit einer Fuhrt gesäumt war. „Morgen früh sind wir bestimmt in Alberna.“, sprach sie mit Lianth und lächelte ihm zu.
„Bis Shyáná ist es gar nicht so weit, wenn ich mich recht erinnere. Vielleicht holen wir eine Karte in Alberna, falls die so etwas überhaupt haben…“, überlegte die Krähe und schaute sich zufrieden um. „Riechst du das, Lianth?“, sog sie die Luft tief in ihre Lungen. „Freiheit! So riecht sie!“, strahlte sie daraufhin und breitete die Arme aus. „Freiheiiiit“, rief sie ausgelassen und schaute zum Himmel, der nun, da die Sonne verschwunden war, die Sternenpracht freigab. „Schau mal – wie wunderschön das ist!“, lächelte sie und betrachtete im Gehen die Sterne noch etwas, bevor sie sich wieder auf den Weg konzentrierte. „Was möchtest du in deinem Leben eigentlich erreichen, Lianth?“, fragte sie nach einer Weile des Weges. Hier und dort zirpte mal eine Grille oder hörte man einen Frosch, doch viel los war in dieser Gegend nicht. Da war der Urwald doch ein ganz anderes Pflaster. „Ich meine, willst du der beste Heiler Shyáná’s werden? Der ganzen Welt?“, fragte sie grinsend in seine Richtung. „Was erwartest du von dir und deinem Leben?“

Re: Der Scheideweg

Verfasst: Freitag 9. Februar 2024, 18:05
von Lianth
Ihr Gespräch verlief sehr vertraut als würden Tami und Lianth einander schon Ewigkeiten kennen. Warum die Krähe sich ihm anvertraute, wusste er nicht. Lianth dachte für seinen Teil nicht groß darüber nach. Er war gutgläubig und naiv, also rechnete er gar nicht damit, dass sie mit jeglichen Informationen, die er preisgab, nicht auch Übles treiben könnte. Es lag nicht in Lianths Weltbild, überhaupt so zu denken. Dafür fühlte er sich Tami durchaus bereits verbunden. Nicht nur, dass sie nett und hilfsbereit ihm gegenüber war. Sie zählte auch zu den wenigen Persönlichkeiten, die sich bereits länger mit ihm befassten als über einen Plausch hinaus, den Lianth normalerweise zu seinen Patienten pflegte. Natürlich sprach man miteinander. Man unterhielt sich sogar etwas vertrauter, wenn eine Regelmäßigkeit zwischen dem Heilkundigen und seinen Patienten entstand. Die Themen bezogen sich dann allerdings eher auf das Wetter und andere Nebensächlichkeiten, nicht zuletzt aber auch auf das körperliche Problem, das der Elf untersuchen sollte. Wenn er seine Patienten behandelte, entstanden Gespräche, aber sie blieben oberflächlich und niemals würde Lianth es wagen, tiefgründiger zu werden. Er konzentrierte sich dann schließlich auf seine Arbeit. Hier und jetzt galt seine volle Aufmerksamkeit jedoch Tami, woraus folgte, dass sie sich über eine Plauderei hinaus unterhielten.
Der Shyáner schätzte das sehr. Er konnte sonst nur mit seinem Bruder so offen reden, aber jene übte keine derartige Faszination auf ihn aus wie Tami. Allein schon, weil sie ein Mensch war - ein Wesen, das Lianth in Shyána Nelle eher selten und wenn nur aus der Ferne betrachtet hatte. Die abgerundeten Ohren und die nicht ganz so feinen Züge erregten seine Neugier. Ansonsten fand er aber nicht viele Unterschiede. Tami war ... gestauchter. Sie wirkte massig, ohne dass man sie dick bezeichnen konnte. Ganz und gar nicht, ihr Körper besaß vermutlich mehr trainierte Muskeln als Lianth im Gesamten gegen nur einen davon aufbieten könnte. Er war nun einmal eher ein Schwächling als klassischer, scheuer Stubenhocker. Er konnte sich glücklich schätzen, dass Tami ihn auf seinem Heimweg begleiten wollte. Sie würde ihm nicht nur die Langeweile vertreiben, sondern ihn auch schützen können. Und wenn sie ihn nur im richtigen Moment mit einem beherzten Zugreifen nach seiner Hand aus einer panischen Starre herausholte.
Er wollte ihr etwas zurückgeben, bot seinerseits an, mit ihr zusammen einen Lehrmeister zu suchen. In Shyána Nelle gab es genug davon. Sie lehrten so viele verschiedene Magie-Arten, dass garantiert auch eine passende Wahl für Tami dabei wäre. Sie könnte sich folglich einen Mentor suchen, der auch zu ihr passte. Je harmonischer eine solche Beziehung war, desto leichter würde ihr das Lernen fallen. Außerdem befände sie sich dann in der paradiesischen Talsenke des Urwaldes. Es gab keinen schöneren Ort. Mit einer solchen Umgebung machte selbst Lernen Spaß. Lianth war überzeugt, dass sie nur ein paar Jahrzehnte bräuchte, um eine gute Ausbildung zu meistern.
"30 oder 50 Jahre, hm? Schauen wir mal, ob ich das etwas schneller hinbekommen kann, sonst nützen mir meine Fähigkeiten auch nichts mehr."
"W-warum denn das?" Lianth musterte sie verwirrt. Doch dann verstand er. Tami deutete es zwar nur an, aber sogar ein Elf wie er hatte bereits Gerüchte aufgeschnappt, dass Nicht-Elfen selten mit einem gleich ähnlich langen Leben gesegnet waren - von Zwergen einmal abgesehen, aber die Tiefenbewohner kannte Lianth überhaupt nicht. Er hatte noch nie einen des kleinen Volkes gesehen. Menschen genügten schon, um sie für ihn in die Kategorie der Exoten einzuordnen. "Sind die B-Bewohner Grandeas d-deshalb so übel gelaunt?" hakte er nach und je mehr er sich mit Tami unterhielt, desto weniger stotterte er. Es war ein gutes Zeichen. Er fühlte sich in ihrer Anwesenheit wohl. "Weil e-euch die Zeit fehlt, die wir Elfen haben? I-ich stelle mir das hektisch vor. Ihr seid von einem kürzeren Leben ge-getrieben. W-wir sollten wohl bald los, sonst bist du e-eine alte Frau, bis wir ankommen." Er schmunzelte nicht, denn es sollte gar kein Scherz sein. Er sorgte sich aufrichtig um Tamis viel zu geringe Lebenszeit und wollte jene nicht verschwenden. Er glaubte, sie nun deutlich besser verstehen zu können. Deshalb war sie so erpicht darauf, Veränderung zu erleben. Sie wollte so viel wie möglich erfahren, ehe es zu Ende ging. Das klang plausibel. Lianth konnte sich im Gegensatz zu ihr schließlich problemlos ein oder zwei Jahrzehnte für eine Sache Zeit nehmen, ohne das Gefühl zu haben, jene verschwendet zu haben. Tami besaß dieses Privileg nicht.
"Wir sollten langsam zusammenpacken." Er nickte daraufhin und half sogar sehr eifrig mit. Es galt, keine Zeit zu verschwenden - für Tami. Sie musste schnell nach Shyána Nelle, damit der Zeitraum groß genug bliebe, um ihre geförderte Magie auch noch vor dem Gebrechlichwerden anzuwenden.
"M-Mach dir keine Sorgen. Du wirst eine w-wunderbare Magierin werden u-und sicher alles schnell beherrschen." Es klang nicht nach einer leeren Aufmunterungsfloskel wie bei anderen Leuten. Wenn Lianth etwas sagte, meinte er es von ganzem Herzen, so auch hier. Seine Worte schwammen in einem See der Aufrichtigkeit. Es ging hier um mehr als sie zu beruhigen, weil ihr die Lebenszeit im Vergleich zur Spanne bei einem Elfen geradezu zwischen den Fingern hindurch rann. Lianth glaubte fest an das, was er ihr mitteilte. Er fühlte es. Er fühlte mit ihr und wollte sehen, wie sie ihre Fähigkeiten zu beherrschen lernte. Seine Augen strahlten wie Bernsteine, in denen die tiefschwarzen Pupillen eingeschlossen waren wie winzige Insekten. Es machte ihn sichtlich glücklich, am Glück anderer beitragen zu können. Es motivierte ihn und schenkte ihm Mut, wo er glaubte, keinen zu besitzen. Voller Tatendrang packte er zusammen mit Tami seine Tasche. Dabei stellte er fest, dass er kaum Kräuter von Suses Grab hatte mitnehmen können. Eine Hand voll Arnika und Ringelblume waren in seine Tasche gewandert, doch das Schmerz lindernde Beinwell, die Kamille und nicht einmal den Baldrian hatte er ob der Umstände pflücken können. Seine Vorräte waren folglich begrenzt. Dann muss ich besonders darauf achten, dass wir uns unterwegs nicht verletzen oder krank werden. Er warf einen Blick hinüber zu Tami. Ja, er würde auf sie aufpassen, so wie sie auf ihn aufpasste. Sobald sie den Urwald erreichten, könnte Lianth ohnehin alles aufstocken und notfalls ließ er noch einmal seine Magie spielen. Mit genug Ruhe, einem guten Stück Boden und den Resten seiner Samenkorn-Sammlung dürfte es schon gelingen!
Seine Zuversicht und der Mut platzten wie Seifenblasen, als Tami ihm plötzlich eine Frage stellte. "Sind das eigentlich Muskeln unter deinem Hemd oder Speckröllchen?" Lianth erstarrte. Zeit seines Lebens folgte er dem Prinzip, ehrlich mit sich und seiner Umwelt umzugehen. Lügen kam für ihn nur in äußersten Notsituationen in Frage und selbst dann plagte es sein Gewissen für lange Zeit. Handelte es sich hier und jetzt um eine solche Notlage? Im Grunde ja, denn schon in Shyána hatte er kleinlich darauf geachtet, niemandem seine rattenhaften Veränderungen zu zeigen und da Lavellyn sich in all der Zeit nicht angesteckt hatte, hoffte er darauf, dass es auch bei keinem anderen geschah. Trotzdem wollte er nicht darüber sprechen. Er wollte sich nicht in den Augen anderer stigmatisieren, vor allem nicht in Tamis schön leuchtenden Augen. Sie würde ihn anders ansehen, das wusste er und könnte es wohl ebenso wenig ertragen wie sie anzulügen. Was sollte er ihr also antworten?
"W-weder noch...", hielt er sich vage und schwieg dann, wobei er bewusst ihren Blick mied. Für ihn war die Situation heikler als für Tami. Jene konzentrierte sich auf das Einpacken und war mit den Gedanken schon beim nächsten Thema. Sie wies den Elfen darauf hin, bloß keine Spuren zu hinterlassen und zeigte ihm sogar, wie er es anstellen konnte. Dankbar für die Ablenkung zu seinem Äußeren passte er besonders gut auf, um jede von Tamis Lektionen tief zu verinnerlichen.
Schließlich waren sie beide aufbruchbereit. Es dämmerte inzwischen, so dass Grandea seine abendlichen Leuchtfeuer entzündete. Wie eine Kette flackernder Feuerkessel zog sich das Licht über die Brüstungen der Stadtmauer. Lianth betrachtete den Anblick eine Weile und eilte sich dann, um mit Tami Schritt zu halten. Gemeinsam ging es über ausgefahrene Trampelwege und durch unebenes Gelände. Karren und Ochsen hatten ihre Spuren in den schlammigen Pfaden hinterlassen, welche ob der Witterung nun hart und festgefroren waren. Lianth tappte behutsam über jede Unebenheit. Das machte ihn langsamer, aber so brach er sich wenigstens nicht die Knöchel. Der Saum seines Umhangs war bereits zerschlissen und Schlamm verkrustet. Er streifte hin und wieder den Boden, ohne dabei weiteren Dreck aufzunehmen. Tamis grüner Umhang hingegen wirkte deutlich sauberer. Während sie gingen, band Lianth seinen Zopf neu, denn dazu war er bisweilen nicht gekommen. Er hatte sich umgezogen, aber seine Haare etwas vernachlässigt. Nun störten sie, denn bei jedem noch so kleinen Wind wirbelten die nussbraunen und teils noch mit grünen Strähnen durchzogenen Haare in sein Gesicht. Um einen schönen Zopf zu flechten hatte er beim Gehen aber nicht die nötige Ruhe. Also wickelte er die lange Mähne ellenweise zu einem Bündel zusammen und knotete es mit seinen Bändern fest. Sobald sie erneut rasteten, würde er die Wolle dringend bürsten müssen, wahrscheinlich mindestens eine Stunde lang, ehe er überhaupt ans neue Flechten denken könnte. Für ihn war es allerdings Routine. Er pflegte sein Haar zu Hause in Shyána Nelle mit ähnlicher Fürsorge wie er sich seinen Patienten widmete. Dort besaß er aber auch den nötigen Frieden. Das hier war anders. Er war unterwegs in ein Abenteuer - mit Tami und auch sie schien begeistert zu sein.
"Freiheiiiit! Schau mal - wie wunderschön das ist!"
Er schmunzelte warm, als sie zum Sternenhimmel aufblickte. "Wir haben viele Seen in Shyána Nelle", erzählte er und stammelte nicht einmal. "Wenn du nachts am Ufer auf einer Picknickdecke sitzt, sieht es aus, als sei der Himmel mit all seinen St-Sternen ins Wasser gefallen. Ja, es ... es ist wundervoll."
"Was möchtest du in deinem Leben eigentlich erreichen, Lianth?" Er stutzte. Sein fragender Blick sprach offenbar Bände, denn Tami setzte nach: "Ich meine, willst du der beste Heiler Shyánas werden? Der ganzen Welt? Was erwartest du von dir und deinem Leben?"
Lianth kratzte sich verlegen an der Wange. Irgendwo unterwegs musste er einen der Bernsteinsplitter verloren haben. Es waren vorher mehr, die sein Gesicht zierten. "Ä-ähm...", begann er und machte einen beinahe beschämten Eindruck. Sein Blick war zu Boden gerichtet, die Wangen und Ohrspitzen nahmen etwas Farbe an und seine geduckte Haltung zeugte von Unsicherheit. "Nun, ich ... ich weiß es nicht. I-ich bin ... ei-eigentlich bin ich recht zufrieden mit dem, w-was ich habe ... hatte." Eine gewisse Traurigkeit lag in dem einen korrigierten Wort. Schließlich nickte er und seine Augen fanden Tamis wieder. "Heilung. Ich glaube, das ist, was ich erreichen will. D-deshalb bin ich ja erst losgezogen. A-alles andere ...? Hm ... der beste H-Heiler Celcias zu sein, wäre von Vorteil. D-dann könnte ich wirklich a-allen helfen, meinst du nicht?" Er schaute über die Schulter zurück, wo Grandea nur noch ein mit Lichtpunkten gezierte Schatten vor dem Nachthimmel war. "Vellyn meinte, mir würde e-etwas mehr Mut helfen. D-dann ... glaubst du, es hätte etwas b-bewirkt, wenn ich mutig genug gewesen wäre, m-mit den Soldaten zu sprechen? A-also anders zu sprechen? O-oder hätte ich ..." Er schluckte. "Hätte ich kämpfen sollen? I-ich k-könnte das wohl nie. N-Nein, niemals..."
Lianth atmete tief durch. Als er Tami jedoch wieder anschaute und sie einholte, um mit ihr auf gleicher Höhe zu gehen, da lächelte er sacht. "Du kitzelst mindestens so viele Worte a-aus mir heraus wie m-mein Bruder, a-aber willst du nicht reden? Ich höre lieber zu."

Re: Der Scheideweg

Verfasst: Sonntag 11. Februar 2024, 14:57
von Erzähler
Tami war eine mehr als offene Persönlichkeit. Dieses ‚vorlaute Mundwerk‘ hatte sie bereits schon oft gerettet. Wenn sie im entscheidenden Moment flapsig dahergeredet hatte, gab ihr der verdutzte Moment Zeit, sich aus der prekären Situation zu ziehen. Es war ein Manöver und zugleich der halbwegs sorglosen Kindheit geschuldet, die Elian seiner Schwester ermöglicht hatte. Nur, wer nicht ständig mit Sorgen zu kämpfen hatte, war auch in der Lage seinen Freigeist zu hegen und zu pflegen. Zudem spürte Lianth, dass es mit Tami durchaus leicht war, sich über ein Geplänkel hinaus zu unterhalten. Die Rothaarige war interessiert an der Welt und vor allem an dem schüchternen Shyáner. Dass diesem das nicht unbedingt behagte, hielt sie nicht davon ab. So wurde ihr Gespräch sogar so persönlich, dass Tami auch Lianth einen Einblick gewährte in ihr Gefühlsleben. Dass sie vor ihm weinte wollte er jedoch nicht. Er konnte damit schwer umgehen, denn auch wenn Shyána Nelle ein wahres Paradies war, gab es dennoch kaum Gelegenheit, das breite Spektrum an Emotionen auszuleben. Das war eben der Nachteil, wenn man wie Lianth aufwuchs. Zurückgezogen und behütet in Eigenregie, kam der Elf mit kaum einem Bruchteil an möglichen Persönlichkeiten in Kontakt. Seinen Bruder kannte er zu Genüge, wusste, wie er sich ihm gegenüber verhalten musste und kannte gewiss auch jede noch so kleine Marotte. Tami war indes neu. Und auch wenn es für den schüchternen Lianth eine wahre Herausforderung darstellte, war es dennoch spannend. Nicht zuletzt aus medizinischer Sicht. Menschen waren faszinierend und Lianth rein professionell an ihnen Interessiert. Die feinen Unterschiede erfasste sein geschultes Auge sofort und als dann später das Gespräch auf das Alter kam, erklärte sich auch ihr scheinbar geriebenes Verhalten. Das Leben mit einer gewissen Gemütlichkeit leben zu dürfen, war Menschen einfach nicht vergönnt. Lianth’s Rasse konnte gut 300 Jahre alt werden. Viel Zeit, um sich zu finden und Wege einzuschlagen oder auch umzuändern. Was waren da zwanzig Jahre? Für Tami aber eine ganze Menge. Und da das Mädchen auch noch eher aus schlechten Verhältnissen kam, war ihre Lebenserwartung auch nicht sonderlich rosig. Finanzielle Mittel sicherten eben auch neben Wohlstand, den Zugang zu Heilung und guter Ernährung. Tami war beides nicht in der Lage zu bezahlen. Doch augenscheinlich war sie nicht ernsthaft erkrankt und erfreute sich einer vernünftigen Vitalität.

"Sind die B-Bewohner Grandeas d-deshalb so übel gelaunt?" Tami blinzelte, denn nun verstand sie nicht. "Weil e-euch die Zeit fehlt, die wir Elfen haben? I-ich stelle mir das hektisch vor. Ihr seid von einem kürzeren Leben ge-getrieben. W-wir sollten wohl bald los, sonst bist du e-eine alte Frau, bis wir ankommen." Doch dann brach ihr Sommersprossengesicht auf und sie lachte. „Ja, vermutlich auch deswegen. Aber die Leute in Grandea haben dazu noch ganz andere Sorgen.“, beantwortete sie seine Frage und blies daraufhin zum Aufbruch. "M-Mach dir keine Sorgen. Du wirst eine w-wunderbare Magierin werden u-und sicher alles schnell beherrschen.", bemühte sich Lianth noch, der Menschenfrau Mut zu machen. Erneut lachte Tami leise auf und packte den letzten Rest ein. „Na, schauen wir mal. Das ist gar nicht so wichtig, wichtiger ist, dass wir dich nach Hause bekommen.“, unterstrich sie ihre eigenen Prioritäten und schulterte ihren Rucksack. Manchmal war Tami’s Art dann aber doch zu vorgreifend und Lianth musste leider auf seine gelebte Ehrlichkeit verzichten. Dabei belog er sie gar nicht, aber er ging auch nicht ins Detail. Tami musterte ihn und kurz runzelte sie die Stirn. Sie war clever genug, um zu erkennen, dass er sich vor einer Vertiefung dieses Themas drückte und übte sich daraufhin in Zurückhaltung. Ein kurzes Lächeln, dann aber brachen sie auf. Tami genoss die Umgebung und Freiheit und ließ Lianth daran teilhaben. Für den Weg aber würde sie nicht den Mund halten und Lianth konnte sich darauf einstellen, dass er Fragen zu beantworten hatte, wenn er mit ihr reiste. So wollte sie gleich wissen, was seine Lebensziele seien. "Nun, ich ... ich weiß es nicht. I-ich bin ... ei-eigentlich bin ich recht zufrieden mit dem, w-was ich habe ... hatte." Sie merkte auf und nickte leicht lächelnd. „Meinst du denn, du hast es nicht mehr, wenn du Zuhause angekommen bist?“, fragte sie ihn und wollte ihm damit Mut machen. Heilung. Ich glaube, das ist, was ich erreichen will. D-deshalb bin ich ja erst losgezogen. A-alles andere ...? Hm ... der beste H-Heiler Celcias zu sein, wäre von Vorteil. D-dann könnte ich wirklich a-allen helfen, meinst du nicht?" Tami schnaubte.

„Nur weil du der beste wärst, hättest du ja aber dennoch nicht mehr Zeit oder Arme und Kapazitäten. Ich glaube, das würde dich auffressen. Und… im Grunde wollte ich wissen, was DU eigentlich von deinem Leben erwartest.“, meinte sie und achtete einmal auf die Umgebung. Die Lagerhalle war inzwischen in einiger Entfernung und auch Grandea verschwand zusehends hinter einer leichten Anhöhe. Der Wind blies etwas kühler und ungefilterter, da hier keine abhaltende Bebauung war. Der Mond erhellte Teile der Umgebung, doch war es auch ordentlich finster geworden. Tami schritt voran und wirkte sicher, doch erschwerte es erheblich ihren Weg, dass sie nichts sehen konnten. Lianth machte sich derweil seine Gedanken "Vellyn meinte, mir würde e-etwas mehr Mut helfen. D-dann ... glaubst du, es hätte etwas b-bewirkt, wenn ich mutig genug gewesen wäre, m-mit den Soldaten zu sprechen? A-also anders zu sprechen? O-oder hätte ich ...Hätte ich kämpfen sollen? I-ich k-könnte das wohl nie. N-Nein, niemals…“ Tami blieb stehen und ließ Lianth zu sich aufschließen. „Hm, keine Ahnung ehrlich gesagt. Mut ist nicht immer das einzige. Wenn du etwas mutiger gewesen wärst, hätten sie dich vielleicht anders behandelt…“, überlegte Tami reichlich reflektiert. „Keine Ahnung, ob dir das nicht am Ende, das Leben gerettet hat.“, sinnierte Tami weiter. Sie musterte den schüchternen Elfen und lächelte ihm aufmunternd zu. „Was aber nicht heißt, dass du jeden mit deiner Freundlichkeit auch überzeugen kannst. General Vashnar ist ein Taktiker. Er… nun, ich weiß nicht, ich glaube, er hat darin keinen Nutzen gesehen, dich in Ketten zu legen.“, sie seufzte und tätschelte Lianth’s Schulter. „Du bist mutig, Lianth. Auf deine Weise.“, bescheinigte sie ihm und ließ daraufhin von ihm ab. Der weitere Weg führte sie immer geradeaus und Lianth wollte nun mehr über Tami erfahren.
"Du kitzelst mindestens so viele Worte a-aus mir heraus wie m-mein Bruder, a-aber willst du nicht reden? Ich höre lieber zu." Tami streckte sich und schritt noch einige Meter weiter, bevor sie antwortete. Inzwischen waren sie eine ganze Weile unterwegs. Inzwischen waren sie eine ganze Weile unterwegs. „Du weißt doch schon alles!“, lachte sie etwas unsicher und wollte offenbar überspielen dass es in ihrem Leben nicht viel mehr gab. Tami verfiel etwas in Schweigen. Sie wusste gerade nichts zu sagen, denn nun würde Lianth feststellen, dass Tami gar nicht so spannend war, wie er glaubte. Um diese Unsicherheit zu überspielen setzte Tami tatsächlich an, doch plötzlich wurden sie durch einen Schrei unterbrochen. Tami zuckte zusammen und blieb wie angewurzelt stehen. Unruhig ging ihr Blick umher, dann hörten sie tatsächlich laufende Schritte und mit einem Mal fiel vor ihnen etwas schluchzend in einigen Metern Entfernung zu Boden. „Hilfe… Hilfe…!“, jammerte eine Frauenstimme und weinte dabei. Für einen Moment rührte sich die Rothaarige nicht, sondern starrte auf den sich bewegenden Schatten auf dem Weg vor ihnen. Sie trat an Lianth heran und tauschte mit ihm einen Blick. Sie war angespannt, die Situation erschreckte sie. Doch dann jammerte die Frau am Boden wieder auf „ist denn da niemand?! Ich… das Dorf… es… es steht in Flammen!“, litt sie und Tami riss die Augen auf. Sofort trat sie vor und kniete sich neben die Frau. „Wo ist das?!“, fragte sie, die Frau zuckte und in dem Moment sahen sie einen immensen Feuerschein die Nacht erhellen. Schreie wurden laut, Tiere gerieten in Panik. Tami starrte wie gebannt auf das Szenario. Es war nicht weit entfernt von ihnen und musste eines dieser Siedlungen sein, ein winziger Zusammenschluss von zwei oder drei Familien, nicht recht ein Dorf aber trotzdem lebten dort Menschen. Tami starrte auf den Feuerschein und brauchte einige Sekunden. „Lianth!“, rief sie und wetzte los.

Re: Der Scheideweg

Verfasst: Montag 12. Februar 2024, 14:45
von Lianth
Da hatten sich wirklich zwei Persönlichkeiten gefunden! Wo Tami sich meist durch ihr vorlautes Mundwerk und eine ordentliche Portion Mut aus der Affäre redete, da sprach sie Lianth nun zu, dass er sein eigenes Leben wahrscheinlich nur deshalb so unversehrt behalten hatte, weil er sich eher schüchtern gezeigt hatte. Nur so war er für General Vashnar keine Bedrohung gewesen.
"General Vashnar ist ein Taktiker. Er ... nun, ich weiß nicht, ich glaube, er hat darin keinen Nutzen gesehen, dich in Ketten zu legen." Lianth musterte Tami lange, während sie ihm schon aufmunternd die Schulter klopfte und zusprach, dass er gar nicht auf die Weise mutig sein sollte wie andere es zeigten. Er aber dachte noch über ihre Worte nach. Dann legte er den Kopf schief. "Nein, das .. ich sehe auch k-keinen Nutzen darin. Warum hätte der General mich in Ketten legen sollen? Das ... d-das ist doch albern." Plötzlich stutzte der Elf. Er legte eine Hand an seinen Bauch, aber nicht, weil er plötzlich Magenschmerzen verspürte. Er fühlte die Wulst, die Tami noch immer fälschlicherweise für einen Teil des Hemdes oder ein paar Speckröllchen hielt. Lianth hatte sie darüber schließlich noch immer nicht aufgeklärt und ... wollte es jetzt weniger denn je tun. Er sah nur einen Grund, weshalb andere auf die irrwitzige Idee kämen, ihn in Ketten legen zu lassen. Nämlich wenn Angst ihre Sinne benebelte. "I-ich b-bin k-kein ... Monster", murmelte er. Da erinnerte er sich, dass er Tamis Hinweis noch immer nicht beantwortet hatte. Sie war mit seiner Aussage, dass er Heilung anstrebte, nicht einverstanden gewesen. Sie hatte wissen wollen, was er speziell im Leben erwartete. Ihr nun Rede und Antwort zu stehen bot die beste Ablenkung vor etwas, das er nicht erwarten wollte. Wenn es nach ihm ginge, erwartete er im Grunde, die Krankheit zu heilen oder wenigstens dafür zu sorgen, dass sie sich in ihm nicht noch weiter ausbreitete. Er wollte keine bissige Ratte werden und im schlimmsten Fall andere infizieren. Er wollte nicht für den Tod eines Elfen - oder Menschen! - verantwortlich sein. Sein Vater hatte es nicht überstanden.
"I-ich ... hab gar k-keine Erwartungen an mein Leben", nahm er den Faden des vorherigen Gesprächs wieder auf, als sie bereits eine Weile auf der Landstraße unterwegs waren und nur das Licht der Sterne ihren Pfad nicht komplett verdunkelte. Lianth zuckte mit den Schultern. Dann lächelte er, fst beschämt. "Ich war i-immer zufrieden. D-du wirst sehen, das k-kannst du auch sein. Shyána Nelle ist ein Paradies. Die friedlichste T-Talsenke, die es gibt. Unsere Stadt ist pure Harmonie. I-ich weiß nicht, was ich mehr als Erwartung a-ans Leben stellen sollte." Eine Weile ging er schweigend neben Tami her. Dass er jedoch weiterhin über die Frage nachdachte, verdeutlichte sein Genuschel. Es war nicht gezielt an sie gerichtet, er murmelte offenbar nur seine Gedanken vor sich her. "Vielleicht ein Garten ... mit Rankgittern für zahlreiche Kletterpflanzen und Kräuterkästen ... u-und einem Bienenstock ... dann hätte ich immer genug Honig ... mh, nein. Ich ... ich müsste die Bienen stören und sicher stechen sie mich... ohje..."
All seine Wünsche waren eher genügsam, dafür erfüllbar für einen Elfen wie ihn mit einer Grundlage wie Shyána Nelle. In Grandea wäre schon ein eigenes kleines Gartenbeet etwas, das sich nicht jeder erfüllen konnte. Darüber hinaus garantierte niemand für die Sicherheit der Pflänzchen, soltle man es doch schaffen, seinen eigenen Garten anzulegen. Wo es grünte, pinkelten Heimatlose hin, ließen ihren Dreck fallen oder rupften ab, was blühte. Die Wünsche, die Lianth also vor sich hin raunte, könnten wirklich ein Lebensziel für Menschen wie Tami sein. Nein, nicht Tami. Sie strebte nach deutlich mehr. Sie war ehrgeizig. Lianth wirkliche Erwartung vom Leben war es wohl einfach, friedlich leben zu können. Ohne Angst. Alles andere hatte er aufgrund seiner introvertierten Ader noch nicht einmal in Gedanken jemals formuliert. So kamen ihm Dinge wie eine Liebschaft, Famiiengründung und dergleichen gar nicht in den Sinn.
Eine ganze Weile gingen beide schweigend. Der Elf, weil er nicht mehr sprechen wollte und Tami, weil sie ... sich eingestehen musste, nicht mehr zu sagen zu haben. "Du weißt doch schon alles!" Sie überspielte ihre Unsicherheit mit einem Lachen, das Lianth nur zu gern erwiderte. Seines war ein wenig unbeholfen, aber echt. "D-das stimmt nicht", entgegnete er. Oho, der Scheue bot Paroli. Als es ihm auffiel, duckte er den Kopf zwischen die Schultern, lächelte breiter, aber schüchterner. "I-ich ... m-meine ..." Nervös fuchtelte er an seinem nicht ganz so adrett gebundenen Zopf herum und löste dabei wieder zahlreiche Strähnchen. Das Haar hatte inzwischen eine komplett nussbraune Farbe angenommen, was man in der vorherrschenden Dunkelheit aber kaum noch sehen konnte. Dafür ließ sich der nahe Feuerschein deutlicher erkennen und die Reisenden lenkten ihre Aufmerksamkeit auch darauf, gleich nachdem sich eine Hilfe suchende Frau vor ihre Füße geworfen hatte.
Lianth wich zurück, weil er sich gehörig erschreckte. Tami handelte derweil bereits. Sie kniete sich zu der Hilfsbedürftigen und holte so viele Informationen aus ihr heraus wie nur möglich. Dass das Dorf nicht weit war, erkannten sie nun anhand der Lichter. Dass diese aber weder von Feuerkesseln noch anderen Nachtbeleuchtungen stammte, mussten sie aufgrund des Klagens der Fremden ebenso schnell feststellen. Dort brannte es und zwar unkontrolliert. Tami rief noch Lianths Namen, schon stürmte sie los. Es war gut, dass sie den Elfen mit sich rief. So erwachte er aus seiner Schreckstarre, wandte sich seinerseits nun aber tapfer an die Frau. Naja, tapfer ... er trat an sie heran, beugte sich weit genug herunter und musterte sie.
"S-Seid I-ihr verletzt?" Er wartete ihre Antwort ab. Auf den ersten Blick konnte er keine ernsten Blessuren feststellen. Solange sie nicht lebensgefährlich blutete, konnte er sie vorerst allein lassen. Wenn im Dorf jemand in Flammen stand, wäre das nun wichtiger. Verbrennungen konnten sehr ernst werden. Lianth straffe die Schultern. "B-bitte k-kommt den Flammen nicht z-zu Nahe. A-auch Rauch k-kann gefährlich werden." Er erhob sich, atmete durch. So viel Zeit nahm er sich, denn er brauchte sie. Nur Mut ... dort sterben sonst Menschen... Und das konnte der gutherzige Elf nicht zulassen. Er war Heilkundiger. Er konnte helfen, also würde er helfen. Und noch ehe sich sein Herz entschied, mutig zu schlagen, spürte Lianth, dass seine Füße ihn bereits Richtung des Lichtscheins trugen. Er rannte förmlich mitten durch das Gelände, um schneller anzukommen. Im Kopf ging er bereits durch, was er ausrichten könnte. Seine Naturmagie wäre nicht in der Lage, ein Feuer zu löschen. Sie brauchten Wasser, aber das konnte er nun nicht herbei zaubern. Doch vielleicht ließen sich mit größer gewachsenen Blättern einige Feuer abdecken und so ersticken. Der Boden unter seinen Füßen war hart. Es würde schwer, Samen darin wachsen zu lassen, so fruchtbar er auch sein mochte. Vielleicht besaß das Dorf aber Felder, auf denen noch etwas gepflügte Erde auf ihn wartete. Trotzdem würde es dauern - die Zeit besaß er nicht. Nein, seine Magie wäre größtenteils nutzlos. Er wäre es aber nicht. Vielleicht könnte er die Flammen nicht löschen, aber verhindern, dass einige Bewohner an den Verletzungen starben. Er beeilte sich, Tami einzuholen.