Natürlich war Madiha nervös. Das gehörte bei einer Prüfung immer dazu. Nur jene stellten sich solchen Aufgaben arglos, die entweder ihr eigenes Können völlig überschätzten oder so unvorbereitet waren, dass sie ihr Versagen schon Tage im voraus bestens einkalkulieren konnten. Wer derart mental auf sein Scheitern eingestellt war, den schockte die Realität dann nicht mehr. Madiha war im Grunde auch nicht vorbereitet. Gewiss hatte sie Ilmy regelmäßig bei ihren Übungen am Strand beobachten können, doch das half ihr persönlich am Ende nicht weiter. Wie viele sahen bei Kamelrennen zu, die selbst niemals zuvor auf einem gesessen hatten. Sie alle würden nach ihrem ersten Ritt über Rückenschmerzen und zitternde Schenkel klagen. So könnte Madiha hier und heute vielleicht die Bewegungen beschreiben, die Ilmy jedes Mal durchführte, bevor in ihrer Hand ein Feuerball entstand, aber das hieß nicht, dass sie selbst einen würde formen können. Wie sollte sie das bewerkstelligen? Vielleicht hätte sie ihre Freundin in spe mal darauf ansprechen und mit ihr zusammen Trockenübungen machen sollen. Nun war es dafür zu spät.
Langsam schlich sich das Unbehagen in Madihas Geist. Der Raum nahm sie ein, verschlang sie mit all den panischen Gedanken, die in der Holzmaserung selbst vorhanden schienen und nun auf sie übergingen. Sie atmete die Ängste vergangener Studenten, schmeckte ihre Verzweiflung in der Luft und der Mangel von Tageslicht verstärkte die Nervosität. Hier war so schlimm wie seiner Zeit in den Kerkern, nur sauberer. Wo Blut und der Gestank von Fäkalien in den Ecken fehlte, da setzte Hörsaal 21 sie plötzlich mit seinem eigenen Charakter unter Druck. Hinzu kamen die Prüfer. In deren Mitte saß Aziz ben Ahib, der Madiha mit diesem reservierten Blick eines Mannes betrachtete, der sich über die verschwendete Zeit ärgerte. Was machte dieses Mädchen überhaupt hier? Weshalb bin ich hergekommen? Man erkennt doch deutlich die nicht vorhandene Begabung.
Nein, eigentlich blickte der Prüfer recht neutral drein. Es war der Hörsaal, der ihm diese Düsternis verpasste!
Madiha versuchte, sich zu fokussieren. Sie hangelte sich an den gestellten Fragen entlang und begann zunächst damit, ihren Namen zu bestätigen. Nur Madiha. Schon kratzte die Feder eines von Aziz' Assistenten über Pergament. Das Geräusch erinnerte an Schluchten, die von der gewaltigen Pranke eines Drachen aufgerissen wurden. Hinzu gesellte sich ein fast tonloses Schnaufen, welches verächtlicher nicht hätte sein können. Somit verpassten die Prüfer Madiha direkt ein Stigma. Sie würde unmöglich erfolgreich hier herausgehen. Der Hörsaal schien mit einem Mal noch dunkler und beklemmender zu werden. Bevor ihre Gänsehaut bis zum Nacken empor kriechen konnte, setzte Madiha ihre Vorstellung rasch fort. Sie erzählte aus ihrer Vergangenheit und wie es überhaupt dazu kam, dass man ihr eine magische Begabung andichten könnte. Dabei stolperte sie gelegentlich über ihre eigenen Worte, was die Prüfer mit einem Zusammenziehen der Brauen, einem Räuspern oder blankem Starren kommentierten. Die ganze Situation drohte, sie zu überwältigen. Das beste wäre, sie würde sich einfach erneut entschuldigen, abdrehen und auf Schusters Rappen eine galoppierende Flucht anstreben. Nicht nur hinaus aus dem Hörsaal, sondern am besten gleich auch aus der Akademie selbst - zurück auf die Straße oder in ein herrschaftliches Haus, um für irgendeinen mäßig bestückten, aber gewichtigen Sarmaer die Beine breit zu machen. Es schien doch das einzige, wozu sie fähig war.
Nein! Das war die Macht des Saales, die Einzug in ihren Geist hielt! Er musste magischer sein als sie. Oh, wie schwer war es, die düsteren Gedanken hier abzuschütteln. Madiha focht ihren wohl größten Kampf auf mentaler Ebene aus und musste erkennen, dass auch fein gekleidete, gut gebildete Eleven mit magischer Begabung es so schwer haben konnten wie ein Straßenmädchen mit Sklavenvergangenheit.
"Du bist auf Empfehlung hier", wiederholte Aziz ben Ahib ihre Worte. Dann neigte er seinen Kopf nach rechts, als wolle er einen Blick auf die Unterlagen seines Assistenten werfen. "Wessen Empfehlung?"
Der namenlose Prüfer warf ebenfalls einen Blick in seine Papiere. Er räusperte sich und ging sie seitenweise durch. Beide starrten lange auf das Niedergeschriebene, suchten, aber wurden schließlich fündig. Der Assistent tippte auf eine von vielen Zeilen, die Madiha nicht entziffern konnte. Die Schrift stand für sie schließlich Kopf und die vielen geschwungenen Buchstaben des Verfassers waren noch einmal eine Prüfung für sich. Sie sahen ganz anders aus als die harte Blockschrift aus ihren Lehrbüchern oder der klare Stil Schwester Dunias. Trotzdem glaubte Madiha, zumindest die Silbe "Cal" erkennen zu können.
Sie wurde abgelenkt, weil Aziz beide Brauen so weit anhob, dass sie drohten, zu einem ergänzenden Teil seines Haaransatzes zu werden. "Diese Empfehlung?", gab er mit aufrichtigem Staunen zurück und schaute Madiha erneut entgegen. Da öffnete sich sein Mund. Sie erkannte es an dem Rascheln seines Bartes. Er wollte etwas sagen, ihr vermutlich weitere Fragen stellen. Die Prüfung nahm hier jedoch eine Wendung, denn Aziz ben Ahib wurde jäh unterbrochen.
Ein gewaltiger Schlag vom Ausmaß einer Explosion brach über Sarma herein und ließ kurz den Boden erzittern. Dann waren Schreie zu hören, eine Menge davon. Vielen waren Schrecken und blankes Entsetzen zu entnehmen, darunter mischten sich aber auch gebellte Befehle auf Sendli und harsches Gebrüll in einer Sprache, die Madiha alles andere als geläufig war. Sie klang hart und finster, dass sie perfekt zu Hörsaal 21 passte. Dennoch gehörte sie nicht hierher, ebenso wenig wie die übrige Geräuschkulisse, welche auch in der Akademie lauter wurde.
Plötzlich riss jemand die Tür auf. Marek!
"Die Stadt brennt! Sarma brennt! Und am Himmel habe ich fliegende Gesteinsbrocken geseh-" Auch er wurde unterbrochen, als eine erneuter Erschütterung des Bodens ihn zu Fall brachte. Aziz erhob sich zeitgleich mit seinen Assistenten. Im Gegensatz zu ihnen bewahrte er genug Ruhe, um das Kommando zu übernehmen: "Geratet nicht in Panik. Sucht die Akademie ab. Findet jeden Schüler und bringt so viele wie möglich sicher ins Freie. In die Gärten! Von dort aus werden wir erschließen, ob die Gefahr von Seeseite oder aus der Wüste selbst kommt."
Marek rappelte sich hastig auf, nickte und stob davon. Die Assistenzen folgten ihm auf den Fersen. Aziz warf Madiha einen knappen Blick zu und wollte dann selbst nach dem Rechten sehen gehen. Das war wohl das Ende ihrer Prüfung...