Der Ruf der Ratten

Das Gasthaus ist so dunkel wie der Rest des Reiches. Gefeiert wird hier nie, nur getrunken, über dunkle Machenschaften diskutiert und Streitigkeiten ausgetragen. Die meisten jedoch kommen nur hierher, um zu speisen.
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Silas Círenas
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Der Ruf der Ratten

Beitrag von Silas Círenas » Donnerstag 24. Juni 2021, 15:38

Einstiegspost

Der Instinkt war schon eine seltsame Sache. Unerklärlich und gleichzeitig von solch hoher Bedeutung. Wusste man dieser kleinen, innersten Eingebung im richtigen Moment zu lauschen, konnte sie oftmals die ausschlaggebenden Hinweise liefern. Silas wusste das und hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, seinen Instinkten zu vertrauen. In seinem Fall entsprach der Instinkt jedoch weniger einem subtilen Bauchgefühl als dem sprichwörtlichen Nagel im Nacken, der ihn oftmals quälte. Wenn also ein unangenehmes, im Grunde genommen jedoch nicht außergewöhnliches Ereignis einen unerklärlichen Alarm in ihm auslöste und ihn dieses Gefühl, obwohl es sich längst gelegt haben sollte, nicht verließ, nahm Silas das Signal ernst. Dann fragte er sich, woher es rührte. Woran sich dieses Gefühl einer drohenden Gefahr, diese Ahnung eines nahenden Unglücks speiste. Was für ein verdammter Mist, dass ihn jene diffuse Befürchtung nun bereits seit einer Woche begleitete und er keine Ahnung hatte, was er mit diesem metaphorischen Nagel, der sich unaufhaltbar in seinen Nacken bohrte, anstellen sollte. Er hatte lange und ausführlich darüber gegrübelt, welche Möglichkeiten ihm zur Bewältigung der derzeitigen Notlage zur Verfügung standen. Der einzige Ausweg beschränkte sich seiner Meinung nach auf eben jenen Sprung ins kalte Wasser, den er nun wagen würde müssen. Bei Manthala, wenn es irgendeine brauchbare Alternative gegeben hätte, er hätte sie der wahnwitzigen Idee, welche ihn an diesem Abend in Richtung der Dunkelschenke trieb, sofort vorgezogen. Doch egal wie sehr Silas sich darum bemühte, ihm wollte einfach nichts einfallen, das ihm diese unangenehme Aufgabe erspart hätte.

Als er zuvor seine Wohnstätte verlassen hatte, hatte er mit einem letzten Blick auf seine Mutter festgestellt, wie fahl und klein sie in dem spärlich eingerichteten Zimmer wirkte. In seinen Ohren hatte ihre Atmung irregulär und sehr laut geklungen und beinahe hätte es ihn daran gehindert, zu gehen. Es beunruhigte ihn, sie zurückzulassen. Doch was wäre die Alternative gewesen? Untätig dabei zusehen, wie das Fieber sie immer öfter in den somnolenten Zustand vollständiger Erschöpfung trieb? Nein. Seine Schwestern würden ihre Mutter nicht aus den Augen lassen, dieser Tatsache war sich Silas gewiss. Zahel und Rhona hatten ihrer Mutter während ihrer Wachphasen bereits die letzten Tage beim An- und Auskleiden geholfen, hatten sie beim Aufsetzen unterstützt, ihr mit warmen Waschlappen den Rücken gewaschen und die zerknoteten Haare gebürstet, die sich vor allem in ihrem verschwitzten Nacken zu filzen begonnen hatten. Silas hätte niemanden lieber und gleichzeitig derart ungern die Verantwortung über das Wohlergehen seiner Mutter übertragen. Nicht mehr lange. Nur noch ein bisschen, kratzte er im Geiste den letzten Rest kläglicher Hoffnung zusammen. Es kostete wahre Anstrengung, sich der Schwarzmalerei seines Wesens nicht gänzlich zu unterwerfen. Ich werde tun, was nötig ist. Dann wird es ihr bald besser gehen. Es waren dieselben Worte, welche er einen Tag zuvor gegenüber Zahel gewählt hatte. Es schien sich in den letzten Stunden zu einer Art Mantra herangeformt zu haben.

Silas hielt im Schritt inne und sah sich noch einmal um, die Stirn misstrauisch in Falten gelegt, ehe er nach kurzem Zögern den Kopf schüttelte und sich die Kapuze seines Umhangs eine Spur tiefer ins Gesicht zog. Nebelschwaden waberten um seine Knöchel als er seinen Weg durch die leergefegten Gassen fortsetzte. Er musste sich irren. Er hatte in den letzten Tagen zu viel gearbeitet, hatte versucht, die richtigen Antworten auf die falschen Fragen zu finden, die man, wenn man wusste, was gut für einen war, in den meisten Ecken dieses Reichs besser nicht stellte. Doch sie entwischten ihm ohnehin immer und immer wieder, egal wie nah er ihnen kam. Es war ermüdend und Silas hatte kaum geschlafen, da war es naheliegend, dass sich diese Umstände rächen würden. Bei seinem Blick über die Schulter war niemand da gewesen, der ihn beobachtet hatte, er hatte es sich nur eingebildet – und damit musste jetzt Schluss sein. Doch der Gedanke an fremde Augenpaare, die ihn aus den Schatten heraus taxierten, elektrisierte seine Sinne und jagten seine Füße ein wenig schneller über den Weg, der ihn Richtung Dunkelschenke geleitete. Alle Ängste, die die horrorverliebte Phantasie eines nervösen Geistes mit einsamen, verlassenen Orten in Verbindung brachte, fielen ihm prompt ein und verknäuelten sich zu einem undurchdringlichen Ganzen. Hatte er seine Fragen an die Falschen gerichtet? Lauerte man ihm auf? Meuchler? Vergewaltiger? Diebe? Eigenartig, trotz seiner Furcht und der Nervosität fiel ihm der Weg leichter als er angenommen hatte. Das lag vermutlich eher am Ziel, welches er verfolgte, als daran, dass er sich mit seiner Situation tatsächlich abgefunden hatte.

Wie ein Vogel vor einem Schlangennest verharrte Silas vor der Taverne einen kurzen Moment lang an Ort und Stelle. Erneut warf er einen prüfenden Blick in die Umgebung. Es war spät geworden, die ortstypischen Leuchtpilze hatten den Abend eingeläutet und ließen ein dämmriges Licht über die Gemäuer der Dunkelschenke tanzen. Die schwach beleuchtete, gut gefüllte Schenke war für gewöhnlich der perfekte Ort, um sich im lärmigen Murmeln fremder Gespräche und der düsteren Stimmung treiben zu lassen. An einem anderen Abend vielleicht, unter anderen Umständen und mit genügend Münzen in der Tasche, würde sich Silas hier Ablenkung und ein wenig Zerstreuung gönnen. Er würde sich sinnlos betrinken, einen warmen, einladenden Körper zwischen den zwielichtigen Gestalten finden und einfach alles vergessen. Doch heute Abend brannte eine tiefwurzelnde Verzweiflung in seiner Brust und eine schmerzhafte Courage hatte sich seiner bemächtigt, die ihm jedoch angenehmer vorkam als das schleichende Gift aufkeimender Panik, welche er beim Betreten der Schenke gewaltsam niedergerungen hatte. Das kurze Zögern hatte seine energischen Schritte gebremst und so steuerte er langsam, wenn auch zielsicher, den rustikalen Tresen an, hinter dem er den Wirt der Taverne vermutete. Vielleicht würde ihn jener bei genauerer Betrachtung als Orianas Sohn erkennen, immerhin hatte seine Mutter die Hälfte ihres bisherigen Lebens hinter eben jenem Tresen verbracht und oft genug die dunklen Ecke dieser Örtlichkeit mit ihrem mystisch-angehauchten Gesang erfüllt. Auch er selbst hatte das eine oder andere Mal gegen ein paar Münzen seine Stimme zwischen den zwielichtigen Gestalten zum Gesang erhoben, Silas ging allerdings nicht davon aus, dass der Wirt sich jedes Gesicht der letzten Jahre eingeprägt hatte, welches in der Dunkelschenke ein paar Balladen zum Besten gegeben hatte. Der junge Elf schob seine Unterarme auf die hölzerne Fläche des Tresens und widerstand dem Drang, mit den Fingern einen nervösen Takt zu trommeln, stattdessen flocht er jene ineinander und mahnte sich selbst zur Ruhe.

Der Wirt war herangetreten, ein Tuch über die Schulter gelegt, und stützte sich mit einer Hand an der Kante des Tresens ab. "Was darf's sein?", erklang die spröde, angespannte Stimme. Der Nagel des Instinkts, der sich in Silas' Nacken eingenistet hatte, zuckte und schmerzte erbärmlich. Das hier war eine bescheuerte Idee. Kurz hüllte sich der junge Elf in Schweigen und rückte seine Kapuze etwas nach hinten, um mit stechend gelben Augen nach dem Blick des Wirts zu schnappen. "Ich suche nach Arbeit. Oder nach jemanden, der weiß, wie man hier an gutes Geld kommt.", brachte er dann vorsichtig, jedes Wort auf die Goldwaage legend, hervor. "Es heißt, dass es gewisse... Möglichkeiten gibt, sich hier als einfacher Bürger etwas dazu zu verdienen." Ein Gedanke, der ihn frösteln ließ, kam ihm in den Sinn und schlich sich wieder davon: Du wirst deine Münzen bald nicht mehr brauchen, wenn sie deine Leiche wegen deiner Neugierde zu den Ratten werfen.

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Re: Der Ruf der Ratten

Beitrag von Erzähler » Freitag 25. Juni 2021, 00:50

Verzweiflung. Gestandene Männer konnten durch sie winselnde Geister werden. Die größten Schurken dieser Welt, abgebrüht und furchtlos, wurden durch sie infiziert und verloren mehr als nur ihren Ruf. Niemand, nach dem sie einmal ihre kalten Finger ausgestreckt hatte, entkam ihr. Sie nistete sich in die Herzen ihrer Opfer und säte dort den Samen, der den Verstand vergiftete und Ideen sprießen lies, die einem mehr Unheil denn Nutzen bringen konnten. Doch sie trieb einen auch voran, ließ einen den Entschluss fassen nicht aufgeben zu wollen und machte den einen oder anderen armen Tropf, willensstark. Er nannte es Hoffnung, eine letzte Chance, eine Möglichkeit etwas an seinen Lebensumständen zu ändern, die ihn erst soweit getrieben hatten. Doch die Verzweiflung wusste es besser und amüsierte sich, gerade bei jenen ihrer Opfer, prächtig. Es begann zumeist ein Tauziehen zwischen dem Gefühl der Hoffnung und jenem der Verzweiflung, die sich in Form von rostigen Nägeln oder inneren Stimmen meldete und suggerierte, dass man den falschen Weg beschritt. War man denn nun mutig oder dumm, dass man nicht aufgeben wollte? Dass man versuchte, jede Möglichkeit auszuschöpfen, um nur noch etwas mehr tun zu können?
Silas war sich da selber nicht ganz sicher, als er den Weg, von Nebelschwaden gesäumt, entlangging und sich fragte, ob es nicht doch eine andere Möglichkeit gegeben hätte. Während sich unsichtbare Augen in seinen Nacken bohrten und seine Fantasie sich Streiche erlaubte, als er ein nagendes Kribbeln im Rücken spüren konnte, sodass er sich umdrehen musste. Die goldenen Augen suchten das dunkle Zwielicht ab. Er hatte keine Mühe, hier zu sehen und das spärliche Licht der Leuchtpilze, taten ihr Übriges.

Silas befand sich in einem Teil des Reiches, das nicht mehr zu bieten hatte, als Verlogenheit, Mordlust und das Gesetz des Stärkeren. Oder viel mehr, des Hinterlistigen. Dieses Viertel trug seinen Namen zurecht: Schattenschleicher. Hier tummelte sich all das Gesindel, das im Verborgenen agierte, das sich von hinten anschlich, um das Messer ganz ungeniert in den Rücken zu rammen, nur um den Unglückseligen auszurauben und wieder in den Schatten zu verschwinden. Nein, hier wollte man sich nicht aufhalten, wenn man es nicht musste. Doch Silas sah keine andere Möglichkeit- er würde es sonst nicht schaffen, sich das Geld zu besorgen, das er so dringend brauchte. Er musste etwas unternehmen und die Grübeleien der letzten Tage, brachten außer Sorgenfalten und Kopfschmerzen, keinerlei andere Ideen hervor. Selbst Manthala schien ihn vergessen zu haben, denn auch die halbherzigen Gebete, brachten keine Änderung. Also sah sich Silas abermals um, überprüfte, ob er nicht doch etwas gesehen oder gehört hatte, bevor er tief durchatmen musste, um sich für das zu wappnen, was folgen sollte.

Nachdem er die Tür zur Schenke aufgestoßen hatte, war es nicht der warme, herzliche Ort mit viel Musik und Tanz, lautem Gelächter und wilden Geschichten, wie man es aus unzähligen Anekdoten kannte. Hier hielt man sich bedeckt, man murmelte, flüsterte und versuchte den vielen Ohrenpaaren keinen Anreiz zu geben, um mitzuhören. Silas‘ Eintreten wurde kaum bemerkt, da sich die Gestalten hier um die Tische drängten, hier und dort die Köpfe zusammensteckten, aßen und sich an ihren Krügen festhielten. Das was hier versammelt war, war nicht unbedingt die Creme de la Creme der Nachtelfen. Silas konnte erkennen, dass vielleicht an die 15 Gäste hier waren. Zu dieser Stunde, hielten sich nur noch die Hartgesottenen auf. Keiner von ihnen beachtete den Mischling, der zielstrebig den Tresen ansteuerte. Hier und dort folgte ihm mal das eine oder andere schwarze oder violette Augenpaare, doch niemand schien tatsächlich Notiz von ihm zu nehmen. Während sich Silas durch den Raum bewegte, konnte er riechen, dass diese Gäste offenbar enormes Sitzfleisch hatten, denn es roch nach muffiger, abgestandener Luft und das diesige Licht ließ im Zusammenspiel mit wenigen Kerzen, seltsame Schatten auf den Wänden tanzen. Endlich erreichte er den Tresen, an dem er sich gleichzeitig etwas festhalten konnte. Die aufkommende Nervosität des Jungelfen, zog kurz den Blick eines Tresennachbarn auf sich, der leicht heruntergekommen wirkte und dessen Kleidung abgenutzt und löchrig war.
Von ihm ging ein dezenter Duft aus, der sich kaum einordnen ließ, eher eine Mischung aus säuerlich und süßlich und unangenehm in der Nase kratzte. Es schien fast so, als wolle der müffelnde Elf gerade das Wort an Silas richten, als der Wirt in dessen Blickfeld trat. Er begrüßte den Mischling mit kratziger Stimme und war für einen Elfen ungewöhnlich breitschultrig. Er warf sich das Handtuch über die massige Schulter und löste seine Hand vom Tresen, als Silas begann, sein Anliegen vorzutragen. Der Wirt verschränkte die Arme vor der Brust und musterte den Jungen, aus seinen schwarzen Augen zweifelnd. „Solltest du nicht Zuhause in deinem Bett liegen, Junge?“, knarzte er ihm entgegen und wirkte, für das Ambiente in dieser Spelunke, deutlich zu laut. Doch Silas ließ nicht locker und setzte nach. Erneut erntete er einen zweifelnden Blick, dann lehnte sich der Wirt mit beiden Handballen an die Kante seines Tresen und erhob, ziemlich laut und ziemlich ungeniert, die Stimme: „Der Junge hier sucht Arbeit. Hat einer von euch Halunken Bedarf?“, donnerte er und augenblicklich waren alle Augenpaare auf Silas gerichtet und sämtliche Gespräche verstummt. Man konnte den Nagel hören, wie er sich quietschend in Silas' Nacken drehte und ihm zurief, dass er soeben einen ziemlich großen Fehler gemacht hatte. Dann brach Gelächter aus und auch der Wirt stimmte mit ein. Man nahm ihn nicht ernst… Man hatte kein Ohr für seine Verzweiflung und lachte ihn aus.
Die Gäste dieses schäbigen Etablissement widmeten sich langsam wieder ihren eigenen Geschäften, während der Wirt sich Silas entgegen lehnte. „Sieh zu, dass du dich wegscherst, Junge. Nur weil deine Mutter hier die Kundschaft bei Laune hält, werfe ich dich nicht eigenhändig vor die Tür, aber solltest du deine Beine nicht augenblicklich in die Hand nehmen, sei dir sicher- helfe ich nach.“, drohte er und wirkte nicht wie jemand, der scherzte. Hatte Silas seine einzige Idee verwirkt? War es das? Sollte die Verzweiflung Recht behalten und ihn als armen Narren zurücklassen? Oder solltener es weiter versuchen? Zu verlieren hatte er ja nichts oder?
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Silas Círenas
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Re: Der Ruf der Ratten

Beitrag von Silas Círenas » Freitag 25. Juni 2021, 17:28

Im Halbdunkel der Schenke war das Licht diesig und die Luft grau und schwer durch die muffigen, abgestandenen Gerüche der zusammengesteckten Köpfe. Die herabgekämpften Flammen vereinzelter Kerzen zuckten am Rande seines Blickfelds als er sich durch den Raum bis an den Tresen herankämpfte. Über die Wände krochen lange Schatten, ein trüb gespiegelter Abglanz der anwesenden Gäste, die sich allerdings nicht sonderlich an Silas‘ Erscheinen gestört hatten. So schob sich der junge Elf scheinbar unbemerkt heran und fand Stütze an dem massiven Holz als er seine Arme darauf positionierte. Der sanft nagende Blick eines Fremden lenkte Silas' Aufmerksamkeit auf sich, lockte ihn kurzzeitig aus den eigenen Überlegungen. Als er dem Blick des anderen Gastes begegnete, zuckten dessen Lippen kaum merklich, öffneten sich ein wenig und entblößten feucht schimmernde Zähne, so, als ob er gerade zum Sprechen ansetzen wollte. Silas' Konzentration geriet etwas ins Schwanken. Dieser Geruch… nicht ganz unbekannt. Säuerlich, ein Gemisch aus Alkohol und Schweiß, erkannte er, schwächer nach verfaulter Zwiebel, beinahe beißend süß. Eitrige Flechte, vielleicht. Oder eine Pilzerkrankung, die durch den zerlumpten, löchrigen Stoff der heruntergekommenen Kleidung verdeckt wurde. Ein Geruch, der vielen anhaftete, die aufgrund von Obdachlosigkeit selten die Möglichkeit hatten, ihre Kleidung zu wechseln und dem sich Silas Zeit seines Lebens bereits des Öfteren konfrontiert sah. Durch jenen Umstand gelang es Silas mehr oder weniger erfolgreich, das beiläufige Rümpfen der Nase zu unterbinden. Der Elf lehnte sich leicht zurück. Rutschte ein wenig zur Seite. Kaum merklich. Es war der Wirt, der jene stillschweigende Bekanntschaft schließlich unterbrach.

Solltest du nicht Zuhause in deinem Bett liegen, Junge?" Mit Spott hatte Silas gerechnet. Mit Hohn und Unglauben - seine Befürchtungen hatten ihn diesbezüglich also nicht getäuscht. "Der Junge hier sucht Arbeit. Hat einer von euch Halunken Bedarf?“, dröhnendes Gelächter polterte durch den Raum. Dem jungen Elfen wurde schlecht, heißkalte Schauer ergriffen ihn und sämtliche Wörter, die er dem Spott entgegenhalten wollte, erstarben ihm auf der Zunge. „Sieh zu, dass du dich wegscherst, Junge. Nur weil deine Mutter hier die Kundschaft bei Laune hält, werfe ich dich nicht eigenhändig vor die Tür, aber solltest du deine Beine nicht augenblicklich in die Hand nehmen, sei dir sicher- helfe ich nach.“, mit seinem ganzen Körper spürte er den Druck, den sein Gegenüber auf ihn ausübte. Ohne Frage kostete es Silas gewaltige Anstrengungen, nicht vor der Drohung zurückzuweichen, doch er zwang sich, dem dunklen Blick des Wirten stand zu halten. Gleichzeitig beschlich ihn das absurde Gefühl, dass er einen Verweis für etwas erhielt, das er noch gar nicht getan hatte.

Irgendwann wurde ihm klar, dass er wie angewurzelt dastand, verkrallt in die Kante des Tresens. Endlich streifte er die Kapuze ab. Eine energische Bewegung, die das aufgeregte Zittern seiner Glieder verbarg. Sein Gesicht war angespannt. Müde und böse. Unter seinen Augen lagen nachtblaue Schatten, die ausgetrockneten Lippen zeigten eine schwer zu beschreibende Farbe, verschmolzen fast mit dem Aschgrau seiner Haut. Silas verspürte den einzelnen, jedoch schmerzlichen Biss dieser offensichtlichen Kränkung. Der Schmerz rührte jedoch nicht von der Verletzlichkeit seines Stolzes. Nein, er saß irgendwo tief in seinem Inneren, ein niedergehaltener, immer wieder zusammengestauchter Schmerz. Silas durfte nicht an ihn denken. Nicht jetzt, nicht hier. Seine Stimme klang völlig unverändert, als er, die breitschultrige Gestalt des Wirts betrachtend, klar und deutlich fortfuhr: „Ich brauche einen Namen.“ Silas senkte den Blick auf seine Finger, deren Knöchel weiß hervortraten. Viel fehlte nicht - und hier würde eine Handvoll blutiger Scherben liegen, nachdem ihn der Wirt vermutlich eigenhändig aus der Schenke rausgeprügelt hatte. Er hob den Blick wieder an. Stumpfsinnig sah der junge Elf nun durch den Wirt hindurch, in eine Weite, die es nicht gab. "Ich gehe. Aber ich brauche einen Namen. Oder eine Adresse. Irgendwas." Es war der verzweifelte Mut eines jungen Mannes, der sich nicht anders zu helfen wusste. Begleitet von dem Frust und dem Ärger über weitere Ausflüchte, die seine Fragen nicht beantworteten. Nein. In dieser Situation würde er keinen anderen Ausweg sehen als den Weg nach vorne - ein Zurück gab es nicht. Dessen war sich Silas bereits vor Eintritt in die Schenke bewusst gewesen, ein Umstand, der seine Nervosität mit Sicherheit aus gutem Grund befeuert hatte. Augen zu und durch hieß also die Devise. Ich kann nicht mit leeren Händen zurückkehren. Nicht ohne einen weiteren Anhaltspunkt. Wahrlich, selbst wenn Silas bereits von Haus aus nicht viel sein Eigen nennen konnte, so war Zeit jenes Gut, von dem er am wenigsten besaß - es drängte. Er konnte sich den Weg des geringsten Widerstandes schon seit geraumer Zeit nicht mehr leisten, wenn nötig, würde er also mit dem Kopf durch die Wand müssen. Dass dies nicht die klügste Herangehensweise sein mochte, war ihm hierbei durchaus bewusst, doch in Ermängelung etwaiger Alternativen würde er das Risiko eingehen müssen. Alle nachfolgenden Konsequenzen, sollte es denn welche geben, würde er ertragen.

Silas suchte nach einer Regung im Gesicht des Wirten und appellierte für einen kurzen Augenblick schweigend an die Vernunft des breitschultrigen Elfen - es würde zu nichts führen, ihm den Gesundheitszustand seiner Mutter näher zu erläutern. Nachtelfen rühmten sich einiger Eigenschaften, Nächstenliebe und Empathie konnte man aber den Wenigsten unter ihnen nachsagen. Nachdem seine Mutter dem Wirten als Arbeitskraft bereits seit über einer Woche ausfiel, wusste er vermutlich bereits, dass es nicht gut um sie stand. Selbst wenn der Wirt ihm nichts geboten hatte, was ihn irgendwie hätte zugänglicher erscheinen lassen, musste Silas jeden Strohhalm nutzen, den er hinter der steinernen Fassade seines Gegenübers vermutete. Wirte waren Geschäftsmänner, oder? Männer, die Effizienz schätzten. Es erschien dem jungen Elfen naheliegend, dass die Krokodilstränen eines armen Narren dem Wirten nicht viel Sympathie abringen würden. Silas warf also einen demonstrativ ausschweifenden Blick über die anwesenden Gäste, die sich nun wieder sich selbst gewidmet hatten. "Muss anstrengend sein, die Kundschaft selbst bei Laune halten zu müssen", merkte er leise, jedoch mit bedeutungsschwerer Tiefe in der Stimme an. Silas jagte den Blick seiner gelbglühenden Augen über das Gesicht seines Gegenübers - suchte nach Anzeichen, die ihm die Temperamentslage des anderen verrieten und blieb wachsam, um das ausschlaggebende Signal zur Flucht nicht zu übersehen. Sollte er den Bogen in seiner Sturheit tatsächlich überspannt haben, würde der Tresen, welcher zwischen ihnen stand, Silas im besten Falle hoffentlich genug Vorsprung verschaffen.

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Re: Der Ruf der Ratten

Beitrag von Erzähler » Samstag 26. Juni 2021, 00:31

Wenn man ohnehin schon verzweifelt und hoffnungslos war, dann war die Dunkelschenke, im Reich der Nachtelfen, ganz sicher der letzte Ort, an dem man sein wollte. Das Ambiente, wenn man der schäbigen Spelunke welches zusprechen wollte, verstärkte das eigene Gefühl auf unnötige Weise und doch fühlte man sich gleichzeitig auch am richtigen Ort. Hier blickte man in das Gesicht von Verrat, von Profitgier und dem schnellen Geld. Nichts anderes hätte den Jungelfen hierher getrieben, wenn nicht auch er sich einen Teil davon versprach. Die Gründe dahinter, so rechtschaffen und aufopfernd sie sein mochten, waren nicht ausschlaggebend. Das Gesindel, welches sich hier tummelte, zählte nicht zu den barmherzigen Samaritern und sie interessierten sich nicht für rührselige Geschichten. Es ging um den eigenen Nutzen, um das Vermehren des eigenen Besitzstandes und wenn man keine Gegenleistung anzubieten hatte, kam man nicht weiter. Silas wurde dieser Umstand noch mal schmerzlich bewusst, als das einheitliche Lachen über ihn hinwegrollte.
Niemand hier brachte ihm Respekt für seinen Mut entgegen, denn Mut war nur etwas für die Dummen. Keiner dieser Halunken, die ihm derzeit entgegen starrten, hätte auch nur ansatzweise das getan, was er versuchte und niemand scherte sich um das Wohl eines Anderen. Nein, Silas sah sich dem absoluten Abschaum gegenüber, kaltschnäuzig, verrucht und schon lange eines Edelmutes beraubt.

Einzig und alleine ein Gesicht lachte nicht. Es war der beißende Stinker, der neben ihm am Tresen saß und sich an einem Krug festhielt, der schon lange kein Bier mehr gesehen hatte. Eben jener, dessen Gesellschaft Silas nicht vorzog, als er etwas beiseite rutschte, um sich aus seinem Dunstkreis zu ziehen. Dieser Elf, mit seinem markanten Geruch und den ungepflegten Zähnen, die er Silas kurz vorher offenbarte, schaute trüb zu ihm herüber und beteiligte sich an der Farce nicht. Es dauerte schneidende Sekunden, bis sich die 15 Augenpaare wieder ihren eigenen Gesprächen widmeten. Zwei von ihnen nahmen diese amüsante Unterbrechung sogar zum Anlass, um dem Wirt ein paar Fuchsmünzen auf den Tresen zu werfen und zu gehen. Der Wirt nickte der Stammkundschaft zu, bevor er das Wort wieder an Silas richtete und ihn aufforderte zu gehen. Der junge Elf brauchte einen Moment, diese Szenerie zu verdauen. Es war für ihn keinesfalls Neuland, ausgelacht zu werden und auch die Demütigung, keine Hilfe zu erhalten, kannte Silas zur Genüge.
Er brauchte lediglich den einen Moment, um diese neue Schmach zu schlucken und sie zu dem schwarzen Klumpen, den er über Jahre immer mal wieder gefüttert hatte, zu schieben, um sich dann auf sein Anliegen besinnen zu können. Er brauchte Hilfe. Und er hatte keine andere Alternative, er stand mit dem Rücken zur Wand, also war Gehen keine Option für ihn. Entschieden, streifte er sich die Kapuze über den Kopf und entblößte das müde Gesicht. Die schwarzen Augen des Wirtes ruhten auf ihm, ungerührt von seiner Erscheinung. Es kam dem Nachtelfen vor, als müsste er sich körperlich gegen den massigen Elfen wehren, als wäre der Druck seiner Worte zu groß, um nicht davor zurückweichen zu müssen. Doch Silas fand in sich Standhaftigkeit. Er ließ sich nicht beirren und blickte mit Entschlossenheit zurück, seine Worte fest und Willensstark.

Der Wirt hob eine Augenbraue, rechnete er doch nicht mit Gegenwehr. Er verengte kurz die Augen, als er Silas einer erneuten Musterung unterzog. Danach öffnete er seine Arme, was die Situation tatsächlich etwas entspannte und nicht darauf schließen ließ, dass er sich gleich an ihm vergehen würde. Stattdessen wandte sich der Wirt ab und griff nach einem Krug, den er dann im Becher des müffelnden Elfen ergoss. „Tja, bist du jetzt einfältig oder verzweifelt?“ meinte der Wirt dann rhetorisch und brummend und stellte den Krug wieder weg. Er begann mit einem äußerst unappetitlichen Lappen, den hölzernen Tresen zu putzen. Silas verzweifelter Verstand, blieb indes nicht untätig. Er musste unbedingt Geld auftreiben und er würde wirklich alles tun. Warum also nicht noch mehr schuften? Die paar Stunden, die er zum Schlafen benötigte, konnte er noch mal halbieren und so vielleicht den Platz seiner Mutter in der Schenke einnehmen. Es wäre nicht viel, aber besser als gar nichts. Erneut hielt der Wirt in seinem Tun inne und betrachtete das Häufchen Elend vor seiner Bar.„Was glaubst du Neunmalkluger wohl?“, kam die giftige Replik. „Wenn deine Mutter sich nicht davongemacht hätte, gäbe es dieses Problem gar nicht und da willst du mir frech kommen?“, knarzte die Stimme des Elfen unheilvoll. Plötzlich mischte sich der Elf an dem Tresen ein: „Balius, du dummer Ochse, der Junge bietet dir gerade seine Arbeitskraft an. Bei Manthala.“, kam es ungewöhnlich klar und tief von der Seite, bevor er den Kopf schüttelte, dass die Schuppen, aus den fettigen Haaren, nur so flogen und er einen kräftigen Schluck aus dem gefüllten Krug nahm.

Der Wirt bedachte den Obdachlosen mit einem Blick, der irgendwo zwischen Wut und Verlegenheit pendelte, bevor er Silas wieder die volle Aufmerksamkeit schenkte. Er wollte gerade das Wort erheben, als sich im Rücken des Jungelfen plötzlich ein Tumult anbahnte. Stimmen wurden laut und Silas konnte eindeutige Wortgefechte verstehen, die den Unmut der beiden Kontrahenten aufzeigte. „…das hast du nicht!“, donnerte eine Stimme durch den Raum, begleitet von einem dumpfen Schlag und kurz darauf, splitterndem Holz."Oh doch, das habe ich und sie war mies!", giftete der andere. Sofort war Balius, der Wirt, zur Stelle und polterte mit angsteinflößender Stimme: „Nicht! Das! Mobiliar!“.
Doch niemand schien sich darum zu kümmern, zu weit waren die Gemüter schon erhitzt. Die beiden Streithähne, zwei junge Nachtelfen, kaum älter als Silas, doch bis an die Zähne bewaffnet und von Narben übersäht, hatten sich bereits gegenseitig am Kragen gepackt und bearbeiteten das Gesicht des jeweils anderen mit Fäusten. Balius schritt behände dazwischen, während die anderen Gäste grölten und sofort ein Beutel rumging, der mit Wetteinsätzen gefüllt wurde. Offenbar kam es hier des Öfteren vor, dass ein Gespräch diesen Ausgang nahm, denn das Ganze wirkte ziemlich routiniert. Auch der Elf mit der eigenwilligen Geruchsnote, steckte etwas Geld hinein und lächelte Silas knapp zu. „Ich setze auf den Großen“, meinte er verschwörerisch und zwinkerte.
Dann sah er sich, sich lediglich auf seinem Hocker drehend und am Bier nippend, den Kampf an. Balius hatte alle Hände voll zu tun, als er die beiden auseinander bringen wollte und bekam gleichzeitig links und rechts von jedem rangelnden Elfen, eine Faust verpasst, was ihn sich schütteln ließ. Die anderen Gäste hatten derweil einen Halbkreis gebildet und feuerten lautstark die Kontrahenten an
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Silas Círenas
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Re: Der Ruf der Ratten

Beitrag von Silas Círenas » Samstag 26. Juni 2021, 17:06

Kurz hatte Silas die Luft angehalten. „Tja, bist du jetzt einfältig oder verzweifelt?“, kommentierte der Wirt schließlich das vorangegangene Drängen brummend. In seinem Blick lag weder der Spott, mit dem Silas gerechnet, noch der Zorn, den er befürchtet hatte. In stiller Resignation wollte der junge Mischling für einen Moment die Augen schließen, wollte die unvermeidliche Einsicht, dass er auch heute Abend keine Antworten auf die Fragen, die er hatte, finden würde, wegblinzeln – doch wenn er seinem Schicksal nicht in die Augen sah, würde es ihn unter Garantie einholen und ihm in den Rücken treten. Vielleicht auch etwas tiefer. Silas holte Luft und ließ das Wissen um jenes Ärgernis in sich einsickern. Eine effektvolle Ernüchterung. Er würde sich einen anderen Plan zurechtlegen müssen, immerhin stellte die Heimkehr mit leeren Händen auch weiterhin keine Alternative dar. Also legte Silas nach, in dem er nach dem einzigen Strohhalm griff, den er in der Schnelle zu fassen bekam. Er unterbreitete dem Wirt, eher indirekt als offenkundig, den Vorschlag, den Arbeitsposten seiner Mutter einzunehmen - und bekam postwendend Ärger und Gift entgegengespuckt. Noch bevor Silas sich von dem Brett, das man ihm so eben gegen die Stirn geknallt hatte, erholen und zur Antwort ansetzen konnte, erhob der Elf neben ihm das Wort. „Balius, du dummer Ochse, der Junge bietet dir gerade seine Arbeitskraft an. Bei Manthala.“, Silas unterdrückte das aufkommende Schmunzeln, welches sich obgleich der Beleidung nur zu gerne auf seine Lippen gestohlen hätte. Im Angesicht des breitschultrigen Wirten entsann er sich jedoch eines Besseren und senkte lediglich leicht amüsiert die Augenlider, um das schalkhafte Funkeln der goldenen Iriden zu verbergen.

Ein empörter Ausruf und der darauffolgende Lärm, ein dumpfer Schlag, der sich anhörte, als hätten die Knöchel einer geballten Faust in weiches Fleisch getroffen, gefolgt von dem Geräusch nach splitternden Holz, durchbrachen das Gespräch, noch bevor der Wirt eine Antwort auf das Angebot des Jüngeren finden konnte. Stattdessen bekam Balius große Augen und schob sich mit erschreckender Geschwindigkeit um den Tresen. Unwillkürlich zog Silas den Hals zwischen seine spitzen Schultern. „Nicht! Das! Mobiliar!“, polterte der Wirt mit mächtiger Stimme als er mit schweren Schritten jene Streithähne ansteuerte, welche das Gesicht des jeweils anderen bereits mit Fäusten bearbeiteten. Tische wurden umgestoßen, Sessel gingen zu Bruch und Balius begann, mit den Pranken eines Bärs, nach Stoff und Lumpen der beiden Unruhestifter zu schnappen. Die Menge umflutete die drei prügelnden Körper, ohne sie zu berühren. Ein Geflecht aus Gerüchen und Geräuschen, ein zitternder Ring voller Aufregung und Erregung. Jemand lachte, jemand klatschte, jemand pfiff. Silas blinzelte und benötigte einige Wimpernschläge, um wieder zu sich zurückzufinden. Geistesgegenwärtig registrierte er, wie ein Beutel weitergereicht wurde, um etwaige Wetteinsätze einzutreiben. Hand um Hand griff nach dem ledernen Sack, der sich mit den Münzen der restlichen Gäste füllte. Ein Gedanke begann, sich heran zu formen - klein, flüsternd. Der Nagel in seinem Nacken erzitterte, vibrierte im Einklang mit den feinen Härchen seines Haaransatzes.

„Ich setze auf den Großen“, Silas' Blick zuckte zur Seite. Der Obdachlose bedachte ihn mit einem verschwörerischen Blick und... zwinkerte. Konnte es sein? War dies einer jener Momente, von denen Morrin gesprochen hatte, in denen er meinte, man müsse die Gelegenheit am Schopf packen, wenn sie sich bot? Oder würde jedes nachfolgende Übel der waghalsigen Entscheidung geschuldet sein, die Silas in jenem Augenblick fasste? Silas schluckte. Sein dünner Hals ruckte. Sekundenbruchteile vergingen, in denen der Mischling mit sich selbst rang. Er hatte nicht genug Zeit, über den drohenden Entschluss nachzudenken, der so unwiderruflich im Raum schwebte, dass es ihn beinahe erdrückte. Der Boden unter seinen Füßen verlor an Härte, sein Stand fühlte sich weich an, als stünde er plötzlich auf gepolsterten Teppichen. Selbst sein geruchsintensiver Nachbar hatte etwas Geld in den umgehenden Sack wandern lassen, ehe er sich dem Spektakel zuwandte. Die anderen Gäste gröhlten voller Begeisterung während Silas bemerkte, dass der Geldbeutel mit ihm wohl das Ende seiner Wegstrecke erreicht hatte. Niemand schenkte dem Wettbeutel Beachtung, der am Tresen Platz gefunden hatte, stattdessen fokussierte sich die gesamte Aufmerksam der Schenke scheinbar auf die Rauferei in der Mitte des Raumes - ein Raunen ging durch die Menge als Balius beidseitig einige Schläge einsteckte.

Jetzt. Silas' Herz machte einen Sprung – und setzte einen Schlag aus, als er seine schlanken Finger um den Beutel gleiten ließ. Kühl und schwer lag ihm das Leder in der Hand als er jene in einer geschmeidigen Bewegung zurückzog und unter den schweren Saum seines Umhangs gleiten ließ. Ein heißer Schauer wanderte zwischen seinen Schulterblättern die Länge seines Rückens hinab und hielt sich einen Moment lang auf der Höhe seiner Lendenwirbelsäule. Sein Hemd haftete den schweißgebadeten Stellen seines Rückens an. Mit steifen Gliedern und klopfendem Herzen verharrte Silas eine Sekunde, wagte nicht, den Blick in die Umgebung wandern zu lassen, sondern starrte abwartend ins Leere, wartete auf den zornigen Aufschrei, der seiner Meinung nach folgen würde, sollte man ihn auf frischer Tat ertappen. Er hielt den Beutel noch immer in einem verkrampften Griff unter dem nachtelfischen Umhang vor allen Augen verborgen, als er schließlich dem Gefühl der unspezifischen Bedrohung nicht mehr standhalten konnte und begann, im steifen Rückwärtsgang vom Tresen zurückzutreten. Silas versuchte, sich mit dem Ausdruck purer Langeweile an der aufgeregten Menge vorbeizubewegen. Langsam. Unauffällig. Verdammt, ich schwitze wie ein Schwein. Das Herz schlug dem jungen Elfen bis in die Kehle. Mit ein wenig Glück würde er noch heute Nacht nach dem Heiler schicken lassen. Würde das Geld für eine Erstbehandlung ausreichen? Die Gedanken des jungen Elfen begannen, sich zu überschlagen. Wenn er es hier raus schaffte, ohne erwischt zu werden und ihn die Dunkelheit der Straße in Empfang nahm - er würde rennen. Bei Manthala, er würde rennen, bis ihm die Knie gegen die Brust schlugen.

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Re: Der Ruf der Ratten

Beitrag von Erzähler » Samstag 26. Juni 2021, 23:02

Es kostete den Wirt Balius kaum Mühe, sich um die Hitzköpfe zu kümmern, die sich wegen Nichtigkeiten in den Haaren lagen. Immer wieder haschten sie nach dem jeweils anderen, versuchten sich mit Faustschlägen und Tritten Gehör zu verschaffen. Es war das Geplänkel von Jünglingen, die sich einfach langweilten. Viel hatte man im Reich der Nachtelfen nicht, wenn man hier, im letzten Viertel, aufwuchs. Da kamen solche Keilerein gerade recht. Auch deshalb bildete sich augenblicklich ein Halbkreis und das Johlen und Grölen erfüllte die sonst eher gediegene Gaststätte. Balius hielt die beiden Jungen gerade jeweils am Hemdkragen fest, als die Fäuste den Wirt im Gesicht trafen. Das Raunen, welches die Runde machte, ließ darauf schließen, dass keiner es je wagen würde, sich an Balius zu vergreifen. Der Mann war eine Institution und führte das schäbige Etablissement bereits seit Jahren. Man respektierte ihn und auch wenn es hier genug zwielichtige Geschäfte gab, die besprochen wurden, so käme nie auch nur ein Elf auf den Gedanken, sich am Eigentum von Balius zu vergreifen oder gar an ihm selbst. So war es kaum verwunderlich, dass die Spannung, was nun geschehen würde zum Greifen war und niemand sich für den Mischling interessierte, der just in diesem Augenblick eine Entscheidung traf.

Es gab Momente im Leben eines jeden, die alles verändern würden. Momente die sich auftaten, getarnt als hoffnungsbringende Entscheidungen und an die man sich sein ganzes Leben lang erinnern würde. Wenn man irgendwann alt und gebrechlich im Lehnstuhl saß, seine Enkelkinder, so man denn gesegnet war, auf den Knien und lächelnd mit kratziger Stimme sagte „Ja… damals war der Moment, als sich mein Leben grundlegend veränderte". Eben jene Momente. Die einen waren besser, als die anderen und doch waren sie allesamt gleich wichtig. Silas sah eine Chance die sich ihm bot. Er haderte nur Sekunden und wusste, dass die Zeit nicht für ein ordentliches Abwägen des Für und Wider reichte und so nutzte er diesen winzigen Augenblick, als sich alles auf einen konzentrierte und er ungesehen den Beutel einsteckte. Das Leder wog schwer, doch an dem Inhalt lag das nicht. Es war die Last, die sich augenblicklich manifestierte, als ihm klar wurde, was er soeben getan hatte. Nun war es mit Unehrlichkeit so eine Sache. Es gab gewiss einige, die sich damit hervorragend arrangieren konnten und denen man niemals ansah, dass sie etwas Unrechtes taten. Aber zu denen gehörte der Elf mit den goldenen Augen nicht. Das wurde auch ihm bewusst, als er spürte wie sein Körper ihn auf verräterische Weise zum Schwitzen brachte. Oder bildete er sich das ein? War es lediglich sein Geist, der ihm suggerierte, dass er sich durch Äußerlichkeiten verraten würde? Fakt war, dass niemand sich für ihn interessierte.

Das befürchtete Bellen desjenigen, der ihn entdeckt hatte, blieb aus. Stattdessen pöbelten die Streithähne noch mal los und Balius grollende Stimme fuhr dazwischen, dass selbst das umstehende Johlen wieder verstummte. Die Situation war gebannt und langsam beruhigten sich die Gemüter wieder. Während sich Balius schnaufend dazu herabließ, die beiden Jünglinge loszulassen, war es Silas, der sich Schritt um Schritt näher an den Ausgang bewegte. Noch waren die Blicke der anderen Gäste gebannt in leiser Hoffnung, dass der Streit doch noch mal losginge, immerhin hatte man gewettet und nun sollte es keinen Sieger geben? Enttäuschung brach sich langsam Bahnen, als plötzlich eine Stimme rief: „Lasst sie kämpfen! Die Wette zählt!“. Niemand konnte den Sprecher mit der dunklen Stimme ausmachen, doch einige stimmten ein und verlangten das gleiche. Balius schnaufte unwirsch und betrachtete seine zahlende Kundschaft zögernd. Dann warf er die Hände in die Luft und knurrte ein „Na schön!“ und ließ die Tische etwas beiseite schieben, damit das Inventar keinen weiteren Schaden nehmen konnte. Nun schlossen die Wetteifrigen die Kämpfenden tatsächlich in einen Kreis und niemand hörte, wie die Tür der Spelunke ins Schloss fiel.

Silas flieht nach Spiel der Ratten
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