Der Abend war angebrochen. Im Reich der Nachtelfen, wo die Gezeiten sich weder durch Sonne noch Mond zeigen konnten, erkannte man es an der Helligkeit einer bestimmten Pilzart. Der leuchtende Purpurmantel schenkte den Nachtelfen Licht, ohne dass sie Kerzen entzünden oder Öllampen zum Brennen bringen mussten. Sein phosphoreszierendes Licht legte sich wie ein angenehmer Filter über die Stadt und tauchte alles in bläulich-violette Farben. Nachtelfen mit perlmuttfarbener Haut wirkten dann wie durch die Straßen wandelnde Prozellanpuppen und ihre Augen waren glänzende Edelsteine in den Tiefen dieser anmutigen Blässe.
Sobald sich das Licht der Pilze weiter dämmte und die Schatten unter der Erde etwas größer wurden, entstand diese geheimnisvolle Atmosphäre, mit der Schreiber ihren Federkiel befüllten und sie wie Tinte auf's Papier brachten. Romantische Abenteuergeschichten von verwegenen Dachkletterern und herzensguten Meisterdieben oder waghalsigen Spionen entstanden, die am Ende immer die zauberhafte Prinzessin aus einem hohen Haus retteten und heiraten durften. Aus diesen Stoffen entstand, was Nachtelfen lebten und liebten.
Die Stoffe, die Sarin Kasani trug, mischten sich unter das Volk wie Schatten an die Wände. Als Schneiderin wusste sie, was sie tragen musste, um nur bei bestimmten Personen gerade so viel aufzufallen, dass man ihr Blicke nachwarf und sie dennoch wieder vergaß, wenn ihre Identität nicht in ihrem Sinne stand. Mit federleichten Schritten, die selbst vom felsigen Straßenpflaster verschluckt wurden, schlenderte sie zwischen den Häusern hindurch. Aus so manchem Fenster drang zusätzliches Licht, bevorzugt ebenso in den eher kalten Farben der Nacht. Die Elfen liebten es, ihre Laternen mit bunten Tüchern zu verhängen oder einen Schirm aus halb transparantem buntem Papier als Schirm aufzustellen, um einen farbigen Effekt zu erzielen. So wandelten sich des Abends manche Straßen in ganze Alleen aus Hausfassaden, die an die Tempel der Menschen erinnerten, mit all ihren Buntglasfenstern und den farbigen Flecken, die ihr Licht auf die Straßen warf.
Doch auch der Mangel von Farbe konnte auffällig sein, vor allem wenn er aus diesem Meer nächtlicher Schönheit herausstach. Die Dunkelschenke war kein Ort, der sich farbenfroh präsentierte. Wie eine zerklüftete Felsklippe ragte das Gebäude an der Straßengabelung über die Häuser des Bezirks heraus und lehnte sich seinerseits mit dem Rücken an eine der Felswände, die eine natürliche Grenze des Höhlengewölbes bildeten, welches die Nachtelfen ihre Heimat nannten. Das Grundstück des Gasthauses war mit einer niedrigen Steinmauer umgrenzt und konnte von zwei Seiten durch Holztore betreten werden, von deren Laternenmasten Lampions herabhingen. Ihr purpurnes Licht reichte gerade aus, das jeweils darunter angebrachte Tavernenschild zu erhellen, auf dem ein weiß gestrichenes Weinglas vor einem grauen Kreis zu erkennen war. Jenes Symbol prangte auch noch einmal als großes Schild über der breiten Eingangstür des Gebäudes.
Das Erdgeschoss wurde aus gemauerten Ziegelsteinen gefertigt, deren dunkles Rot zu dieser Stunde kaum noch vom Grau der übrigen Fachwerkfassade zu unterscheiden war. Die Läden der meisten Fenster im ersten Stockwerk waren geschlossen, das zweite besaß nicht einmal mehr als winzige runde Gucklöcher. Wenigstens waren sie verglast. Aus einem spähte eine Katze mit tellergroßen, gelben Augen auf die Kundschaft herab, welche die Dunkelschenke betrat oder verließ. Heitere Gespräche, Gelächter oder muntere Musik fand man an diesem Ort nicht vor. Der Name war Programm und somit die Kunden des Gasthaus ebenso dunkel wie dessen Erscheinung.
Wollte man das Klischee bedienen, waren hier lediglich Diebe, Spione und Meuchelmörder vorzufinden. Dass man ein Buch nicht nach seinem Einband und somit auch eine Taverne nicht nach ihrem Äußeren beurteilen sollte, wusste Sarin allerdings besser. Das Gasthaus geizte vielleicht mit auffallenden Farben oder fröhlicher Dekoration, aber so mancher Barde verirrte sich sogar hierher. Die Lieder, die gespielt wurden, passten sich zwar dem eher düster mysteriösen Charme der Taverne an, aber das hieß nicht, dass nur kriminelles und lichtscheues Gesindel den Klängen lauschte.
Gerade verließ eine Nachtelfe mit seichtem Kichern am Arm ihres Verehrers das Gebäude. Ihre Wangen glühten rot und sie verbarg das Gesicht rasch in einer schwarzen Rose, welche sie nur von ihrem Galan hatte geschenkt bekommen können. Jener grinste ihr gut gelaunt zu. Er wusste, wohin die Reise der beiden sie nun führen würde. Hoffentlich hatte er das Bett gemacht...
Für Sarin sollte es jetzt in die Taverne hinein gehen, denn dort erwartete sie zumindest eine Verabredung. Ob mehr folgen sollten, würde der Abend noch zeigen. Aber ihre erste Anlaufstelle sollte der Lieferant ihres ehemaligen Meisters Londro sein, der Nachtelf Ardel Schattensprung. Er wollte sich hier mit ihr zum Abendessen treffen, um Einzelheit für ihre Reise nach Morgeria zu besprechen. Sarin könnte Fragen stellen und sich so besser auf ihre Zukunft vorbereiten.
Vielleicht ging sie aber zunächst auch als eine von vielen an den Tresen heran und bestellte beim Wirt den roten Mondenschein, der ihr geheimes Zeichen war, um Zugang zu einem Gespräch mit einem geheimnisvollen Fremden gewährte, der sich wünschte, dass der Fluch ihres Brautkleides sich wiederholte. Und Lariel? War der Dienstbote schon eingetroffen? Würden er und die Küchenmägde überhaupt erscheinen? Sarin hatte ihm keine konkrete Zeit genannt, obwohl das Licht der Pilze bereits schwächer wurde. Vielleicht sollte sie warten. Die Entscheidung lag ganz bei ihr.