Cas ruhte im Nähkästchen zwischen Flicken, Garn, Nadeln und weichen Stoffresten. Sarin ruhte nicht. Sie sah sich dazu nicht in der Lage. Noch immer wühlten sie die Bilder vor ihrem geistigen Auge auf. Noch immer sah sie dort Augen, ein Paar, so schön und verzaubernd, dass kein Zweifel darin bestand, dass sie ihrem liebsten Halbdämon gehören mussten. Allerdings konnte sie mit den seltsamen Bildern nicht viel anfangen und um sich sowohl davon als auch von Mallahalls Zusammenbruch abzulenken, suchte sie ihr Heil in Arbeit. Noch konnte sie sich nicht hinsetzen, um zu nähen, aber die Aussichten standen gut dafür. In der Universität zu Zyranus, der Akademie der magischen Stadt, würde sie die Gelegenheit erhalten. Jolanta hatte alles dafür in die Wege geleitet. Sarin besaß nicht nur einen runenmagischen Ausweis in Form eines sechseckigen Plakettensteinchens, sondern wurde auch von einer Führerin bis auf das Universitätsgelände gebracht.
Bislang hatte die Fremde weder ihren Namen noch sonstige Informationen über sich selbst preisgegeben, so dass Sarin auch nur vermuten konnte, dass es sich bei der Frau vor ihr um eine Zyranerin handelte. Ihr langes, schwarzes Haar glänzte, während es über Schultern und Rücken fiel. Sie hielt es mit einem Haarreif zurück, der das ggenauso golden glitzerte wie der Nahtzwirn ihrer Roben. So konnte man ebenfalls mutmaßen, dass es sich bei ihr um eine Runenmagierin handeln könnte. Wenn sich der Zauber so mancher Runenkombination entfaltete, blitzte es auch gelegentlich golden auf. Manche Laien hielten es dann für Lichtmagie. Sarin dachte wohl eher weniger darüber nach. Sie hatte auch nicht wirklich Zeit für Träumereien, denn wo ihre Führende wenig von sich selbst erzählte, so sprach sie auf ihrem Weg doch andere Dinge an. Sie beantwortete sogar Fragen, die Sarin an Jolanta gerichtet hatte, wofür bislang einfach keine Zeit geblieben war. Die gute Zwergin wollte ihre Gaststudentin jedoch nicht "dumm sterben" lassen und so war es nun an ihrer Wegbereiterin, Rede und Antwort zu stehen.
"Ihr wolltet wissen, was die Wolfsstunde ist, nicht wahr?", stellte die Magierin zunächst eine Gegenfrage. Diese war jedoch von Rhetorik begleitet, so dass sie keine Antwort erwartete. Stattdessen erklärte sie kurz darauf selbst: "Nun, der Begriff ist mir nicht geläufig. Vielleicht verwechselt du ihn aber auch mit der Hundswache ... eigentlich eine Bezeichnung aus der Seefahrt, soweit ich weiß. Wir haben in Zyranus keine Schiffe, aber manche Redewendungen schwappen auch von Santros bis zu uns herüber. Der Wirt der fliegenden Schänke benutzt den Begriff oft. Er sagt dann immer 'Die Hundswache ist gleich vorbei, ich schließe nun. Raus mit euch!'" Sie musste über den Mann den Kopf schütteln, grinste aber. Sarin sah es nicht, hörte es aber aus ihrer Stimmung heraus, als sie weiter redete. "Zurück zur Begriffserklärung. Die Hundswache findet meines Wissens nach zwischen Mitternacht und der vierten Morgenstunde statt - eben dann, wenn im Allgemeinen nur noch die Wachhunde aktiv sind. Ich hoffe, das hilft Euch weiter." Nun spähte die Frau einmal über ihre Schulter zu Sarin zurück, dass ihre grauen Augen aufblitzten. "Beeilen wir uns", meinte sie plötzlich. "Meine nächste Vorlesung beginnt bald. Ich sollte Euch rasch zu Eurem Zimmer bringen. Oh und die Seminarvorlesungen von Meisterin Synapse finden alle zwei Tage zur fünften Nachmittagsstunde statt. Sie gehen bis zur siebten, was ich persönlich fürchterlich finde. So kommt man zu spät in die Kantine und kann nur noch kalt essen." Sie seufzte, winkte ab und führte Sarin dann die Straßen von Zyranus entlang.
Endlich erreichten beide das Akademiegelände. Es befand sich im Nordosten der Stadt und nahm für sich allein einen eigenen Bezirk ein. Sanft schmiegte sich das Gelände aus akkurat angelegten Beeten, umzäunten Bäumen und Ziersträuchern an die sichere Schutzmauer der Stadt. So sorgsam wie die Gärtner ihre Anlagen in diesem Bereich pflegten, so strukturiert hatten die Architekten gearbeitet. Man konnte zwischen den Reihen aus kleinen Häusern gerade Linien ziehen! Sie waren zu rechteckigen Wohnblöcken angeordnet, die zudem noch in verschiedene Semester unterteilt waren. Auf diese Weise kamen sich die Neulinge und die Langzeitstudenten nicht ständig in die Quere.
"Jedes Haus ist entweder genau einer Magie-Richtung zugeordnet. Manchmal bewohnen Magier verschiedener Richtungen aber auch ein Haus, beispielsweise wenn sich für die feuermagischen Kurse zu wenige Studenten eingeschrieben haben sollten. Dann findet eine Zuordnung pro Etage in dem jeweiligen Gebäude statt. Die Universitätsleitung achtet glücklicherweise penibel darauf, gegensätzliche Magierschüler nicht unter einem Dach zu verteilen." Sarins Führerin gluckste. "Man stelle sich vor, Feuer- und Wassermagier müssten in einem Gebäude miteinander auskommen!" Dass Gegensätze sich durchaus auch anziehen konnten, schien noch nicht in alle zyranischen Köpfe eingedrungen zu sein. Dafür legte man großen Wert auf Ordnung und das war seltsam, wo doch die übrige Stadt mit ihrem zauberhaften Charme einen so vielseitigen Eindruck machte. Sarin hatte Erker und Türmchen gesehen, wilde Naturmagie an Hauswänden entlang wuchern und wunderbare Erdmagie-Zierden an Fassaden. Hingegen wirkte die Universität von Zyranus erschreckend steril. Die Wohnblöcke waren penibel rechteckig angeordnet, die Häuser selbst wiesen wenig Schmuckhaftes auf. Lediglich magisch angebrachte Symbole in Schildern an den Fassaden gaben Aufschluss darauf, welches Semester man wo vorfand und in welchem Haus eine jeweilige Magie-Art untergebracht war.
Sarin wurde diesem Schema folgend zum Haus für Erstsemester der Runenmagie gebracht. Hier gab es offenbar genug Studenten, die sich eingeschrieben hatten, denn das Gebäude selbst war nicht noch einmal unterteilt worden. Innen besaß es deutlich mehr Charme. Zwar füllten die Gänge hölzerne Schränke mit Vorhängeschlössern, zwischen denen alle paar Meter eine Sitzgelegenheit auf müde Studenten wartete, doch wenigstens hingen hier jede Menge Dinge zum Anschauen. Da gab es Bilder vergangener Magier, die sich auf unterschiedlichste Weise hervorgetan hatten. Schöner waren jedoch handgeknüpfte Teppiche, in die Runen eingearbeitet worden waren. In eine Vitrine standen Pokale und andere Ehrenauszeichnungen für Professoren, die Studentschaft oder Akademie an sich. Korkbretter hingen voll mit Schleifen und Verdientsbändern, aber es gab auch eine weitläufige Vitrine mit den größten Fehlschlägen, vordergründig misslungene Runenketten oder die Überreste, zu denen sie geführt hatten. Und dann brachte Sarins Führerin sie zu einem Podest, das mittig im Gang stand. Dort lachten sie diverse, in Stein gehauene Abbildungen unterschiedlicher Männer und Frauen an. Eine jedoch erkannte Sarin recht schnell. Dass es innerhalb unerschiedlicher Kulturen auch unterschiedliche Interpretationen von der Optik einer Gottheit gab, war klar. Kein Abbild Manthalas glich dem anderen, wenn man in einen anderen Teil Celcias reiste. Aber ihre Symbole - Sichelmond, weiße Eule und schwarze Rose - waren überall gleich. Die Statue, die sie vor Sarin erhob, war eine wohlgeformte, nackte Schönheit. Rosen aus schwarzen, explizit so geschliffenen Edelsteinen verdeckten die zarten Knospen ihrer Weiblichkeit. Zwei Eulen aus weißem Marmor bedeckten mit ihren gereckten Köpfen den Schambereich und in den zarten Händen der Figur ruhte ein Sichelmond aus irgendeinem blassgelben Material. Es bestand kein Zweifel. Diese Statue zeigte Manthala. Demzufolge könnten die übrigen Steinhauerarbeiten andere Götter darstellen. Da gab es ein Paar, Arm in Arm, wobei dem Mann ein Geweih aus der Stirn wuchs, während die Frau mit steinernen Blumen und Blättern verziert war. Zu ihren Füßen saß die Statue eines verschmitzt dreinblickenden Kindes, das Marmorkätzchen auf dem Schoß hatte. Neben Manthala fand sich eine Statue aus reinem Gold. Ihre Reflektion allein reichte aus, um Sarin zu blenden. Jede dieser Figuren trug gewisse Symbole, so hielt der Goldene eine Kristallkugel in den Fingern, in deren Inneren eine Flamme tanzte. Das Interessante an diesem Denkmal aus verschiedenen Statuen war jedoch, dass sich überall Runen im Gestein fanden. Sie waren eingemeißelt worden, als gehörten sie zum Sinnbild der Götter selbst. Sarins Führerin zeigte ihr dann aber, weshalb sie sie wirklich hierher geführt hatte. Sie tippte auf einen in den Stein gemeißelten Schriftzug, der sich einmal rund um den Fuß des Podests zog. Dort hatte jemand in den Stein geschrieben: An welche Runen glaubst du?
"Meisterin Synpase hat dieses Kunstwerk in Nogrot anfertigen und bis hierher nach Zyranus transportieren lassen. Warum, das werdet Ihr erfahren, wenn Ihr das Seminar von ihr besucht." Mehr sagte die Schwarzhaarige dazu nicht. Sie brachte Sarin anschließend einen Gang entlang bis zu ihrem Zimmer. Dort erhielt sie von der Fremden einen Schlüssel, der nicht nur für ihre Tür vorgesehen war, sondern auch für eines der Schrankschließfächer im Gang. Dort könnte sie ihre Lehrmaterialien unterbringen. Sowohl Zimmer als auch Schrankfach besaßen die Nummer 33, was leicht zu merken war. Sobald Sarin den Raum aufgeschlossen hatte, verabschiedete sich ihre Führerin. Sie war bereits zu spät für ihre Vorlesung, weshalb sie es plötzlich immens eilig hatte. Sarin blieb allein zurück.
Ihr Raum befand sich im dritten Stock des Wohnkomplexes mit einem Fenster zum großen Hauptweg zwischen den Studentenunterkünften. Sie konnte von dort aus einen Blick auf den zentral angelegten Springbrunnen werfen. Magierschüler saßen dort bereits aus dem Beckenrand, lasen oder unterhielten sich. Einige spielten mit dem Wasser und boten sich eine kleine Schlacht mit zwei Feuermagierin, die das auf sie gelenkte Wasser sofort verdampfen ließen. Der Anblick ließ beinahe vergessen, dass jenseits der Mauern so viel Tod und Verderben das Gras des Landes rot gefärbt hatte.
Auch in Sarins Zimmer zählte Rot zu einer der Hauptfarben. Ihr Bettzeug war in einem sanften Verlauf aus Rot und Orange gehalten. Ein Kissen auf dem bequemen Stuhl vor einem Schreibtisch war ebenfalls rot. Darüber hinaus hatte man den Raum mit einigen Pflanzen, Landschaftsbildern und kleinen, vergoldeten Holzrunen verziert, die an roten Bändern von der Decke herab hingen und so einen schönen Blickfang boten. Nebst dem Bett und dem Schreibtisch gab es nur noch einen Schrank für Kleidung, sowie ein kleines Sofa beim Fenster, dem ein Kamin gegenüber war, damit man es jederzeit warm hatte. Um sich zu waschen oder etwas zu essen musste man - laut den Ausführungen ihrer einstigen Führerin - die öffentlichen Toilettenräume im Erdgeschoss und die Kantine im großen Universitätsgebäude nutzen.
Für Sarin lag auch schon bereit, worauf sie solange gewartet hatte. Wer die Stoffe, die Schnittmuster und Bilder beispielhafter Studentenroben hierher geschafft hatte, blieb ungeklärt. Auf ihrem Bett ausgebreitet lag jedoch alles, was Sarin benötigen würde, um sich selbst eine waschechte, zyranische Magierrobe für Erstsemester-Gaststudenten zu schneidern. Wenn sie alsbald damit begann, könnte sie schon am Abend Iryan in dieser Kleidung unter die Augen treten. Sie hatte jede Menge Zeit!
So begann es nun, ihr unerwartetes Abenteuer auf dem Geländer der magischen Universität zu Zyranus.