Cinni erwiderte das Lächeln mit milder Höflichkeit, ganz der Edelmann. Er führte Sarin aus, ohne dabei anzüglich zu werden. Vielmehr schmunzelte er über ihre kleinen, aber heiteren Ausbrüche und erfreute sich an ihrer Glückseligkeit, dass ihm das Schnurbärtchen an beiden Enden fast schon über die Nasenflügel empor glitt, so breit grinste er im Laufe des Tages.
Immer wieder mussten beide sich selbst zur Ruhe gemahnen, denn sie gerieten fast schon in einen jugendlichen Kaufrausch. Sarin besaß ein Auge für die schönen Dinge und die Erfahrung, sie in noch Schöneres umzusetzen. Hyacinthus besaß das Geld. Hätten sie sich gehen lassen, wäre Zyranus wohl wirklich von ihnen leergekauft worden. So aber genossen sie es einfach, durch die Geschäfte zu schlendern und nicht jeden Stoff in der Hand mit dem Gedanken an ihre Reise zu begutachten. Hier und da strichen Sarins Finger über feinste Seide, gliternde Pailletten, Schmuckbänder oder Goldborten.
"Wenn das alles vorbei ist, möchte ich dich zu einem zyranischen Festabend einladen. Es gibt genug gesellschaftliche Ereignisse in Zyranus, bei denen man mit allen Stoffen aufspielen kann, die wir heute nicht kaufen werden. Aber ich möchte gern sehen, was du daraus machst." Diese Worte wehten Sarin wie ein verheißungsvolles Versprechen auf eine erotische Nacht entgegen und schafften es, in ihr ähnliche Erwartungen zu wecken wie es sonst nur noch Clems naturmagische Ranken oder Iryans Körper schafften. Sarin dachte wohl, sie würde einen schrecklich wichtigen Teil ihrer selbst im Reich der Nachtelfen zurücklassen müssen. Als künftige Gattin von Dhansair von Blutsdorn wäre sie nicht mehr die Schneiderin gewesen, die sie für ihre Stadtherrin hatte sein können. Als Geflüchtete und Geliebte von gleich drei Männern hätte sie diese Tätigkeit auch nur noch bedingt ausüben können. Was Hyacinthus ihr nun allerdings eröffnete, erinnerte sie an etwas Wichtiges: Es würde irgendwann vorbei sein. Sie würde Castus retten, anschließend Dhansair und was immer geschah, sie könnte jederzeit irgendwo zu dem zurückkehren, was sie über diese Männer hinaus immer noch liebte. Das eine schloss das andere nicht aus. Sie musste nur ihre Möglichkeiten ergreifen. Zyranus war eine solche Möglichkeit. Noch immer könnte sie in naher Zukunft einen Laden erstehen. Sie könnte nähen, ihre Ideen umsetzen und einige davon vielleicht selbst tragen, wenn Cinni sie zu einer Festivität mitnahm.
Dieser Ausflug schenkte ihr viel neue Motivation, dass ihre Haut kribbelte. Nein, nicht nur deshalb. Im Laufe des Tages klarte es auf, so dass sie stets von Schatten zu Schatten huschten und sich nun eher in den Räumlichkeiten der Geschäfte aufhielten. Zwar trug Sarin gute Kleidung, die viel von ihrer Haut verdeckte, doch die winterliche Jahreszeit neigte sich dem Ende zu. Die Zeit des Erwachens brach an. Mit ihr kämen jüngere Sonnenstrahlen, um das Land aufblühen zu lassen. Auch an diese Zukunft müsste Sarin denken. Entweder verfestigte sie die Kontakte in Zyranus zu Händlern mit dem Nachtelfenreich oder sie nahm selbst dorthin wieder Kontakt auf. Vielleicht könnte jemand ihrer namenlosen Freundin eine Nachricht zukommen lassen. Doch nicht jetzt! Irgendwann ... es gab genug zu tun, das sie erst einmal hinter sich bringen musste.
Zurück auf dem Geländer der magischen Universität überließ Hyacinthus Sarin die Entscheidung, wie es nun weitergehen sollte. Er selbst saß an ihrer Seite auf einer Parkbank, die vielen Taschen mit erstandenen Waren um sich herum gestapelt, einen Schuh auf dem Schoß. Er massierte sich die Füße. Zyranisches Schuhwerk war nicht für ausladende Spaziergänge geeignet, zumindest nicht das, was ein Sohn aus dem Hause Marcaundt üblicherweise trug. Aber Cinni hatte vorgesorgt und gute Wanderschuhe gekauft. Für die Reise wäre er gewappnet.
Sarin wollte sich Jolantas Vorlesung heute nicht entgehen lassen. Aber bis dahin war noch etwas Zeit und auch diese sollte von ihr genutzt werden. Eine Schneiderin schlief nie! Nachdem sie sich eine Verschnaufpause gegönnt hatten, ging es zum Zimmer der Nachtelfe, das sie in einem der Wohnheime bezogen hatte. Hyacinthus wich Sarin auch dieses Mal nicht von der Seite. Mehr noch, er schleppte einen Großteil der Einkäufe ohne ein Wort des Beklagens. Bei ihrem ersten Treffen hatte der junge Mann einen gänzlich anderen Eindruck gemacht. Da war er wie ein arroganter Schnösel aufgetreten und sein Oberlippenbärtchen hatte die komplette Erscheinung bestens zusammengefasst. Nun zierte es den Blonden auf eine charmant freundschaftliche Art und Weise, die Sarin wohl kaum mehr missen wollte. Das musste sie aber auch nicht, wenngleich sie sich mit Cinni den einen oder anderen Scherz erlaubte, dessen Ausgang auch dazu führen könnte, dass er ging.
"Als Galan erlaub ich dir, der Meisterin über die Schulter zu schauen, wenn sie ihre Werke entstehen lässt. Also, wenn du möchtest ... aber nur, wenn du versprichst, dich zu benehmen! Und die Schuhe ausziehen!"
"Ich werde mich von meiner besten Seite zeigen", erwiderte Cinni, "solange du dir meine Socken nicht anschaust." Die hatte sie bereits vorhin auf der Bank gesehen. Offensichtlich handelte es sich um kleine Lieblinge des Zyraners. Sie wirkten abgetragen, das Material gut durchgelaufen und sein großer Zeh hatte durch ein Loch die Außenwelt betrachtet. Erneut schaute er sich um, als Hyacinthus die Schuhe neben Sarins Zimmertür stehen ließ und ihr ins Innere folgte. Die gekauften Sachen stellte er nahe ihrem Bett ab und ließ sich dann dort nieder, wo sie ihm einen Platz anbot. Geduldig beobachtete er, wie Sarin alles der Reihe nach auspackte und so im Zimmer ausbreitete, dass sie gleich damit würde arbeiten können.
"Hast du eine Bürste? Ich möchte nicht tatenlos herumsitzen." Unabhängig ob er sie erhielt, musste Cinni sich dennoch eine Weile gedulden. Still saß er auf dem Bett, während Sarin umher wirbelte und ihm den Tanz einer Schneiderin zeigte. Er beobachtete sie unter einem breiten Lächeln und mit hoher Aufmerksamkeit. Irgendwann aber löste er sich von seinem Platz, nämlich als Sarin selbst ein wenig zur Ruhe kam und vor allem, als sie diese Ruhe mit Näharbeiten füllte. Dann saß sie selbst nämlich still über ihrer Arbeit.
Plötzlich näherte Hyacintus sich ihr von hinten und löste ihne Vorwarnung den Knoten, der ihr Haar zusammenhielt. Sanft breitete er ihre Strähnen über ihrem Rücken aus wie sie zuvor die Stoffe über ihrem Bett. Endlich kam die Bürste zum Einsatz. "Lass dich nicht stören", säuselte Cinni nur, während er damit begann, Sarins Haare durchzukämmen. "Du hast so schönes Haar. Ich bringe es zum Glänzen." Beide arbeiteten. Beide Tätigkeiten erfüllten den Geist mit innerer Ruhe. Beides erdete die Seelen, welche zuvor beim Einkauf so aufgeweckt worden waren. Nun fanden sie zu ihrem inneren Frieden zurück und es fühlte sich gut an.
Irgendwann legte der unbegabte Anwender in Sachen Magie die Bürste beiseite. Sein Blick wanderte zum Fenster und hinaus in den frühen Abend. "Wir müssen los, Sarin, wenn du die Vorlesung nicht verpassen möchtest."
"Entschuldige, ich hab die Zeit vergessen."
Cinni winkte ab. "Wie alle Studenten", grinste er auf und half Sarin dann noch dabei, die wichtigsten Dinge so zu verstauen, dass sie bei der Rückkehr in den frühen Morgenstunden einfach nur problemlos ins Bett fallen könnte. Das Seminar sollte bis kurz vor Mitternacht gehen und dann wollte sie sich mit Vikreth und dessen Bruder treffen. Sie passte sich wirklich langsam an ein Studentenleben an, zumindest zeitlich. Denn Sarin würde ihre abendlichen Ausgänge bis ins Morgengrauen nicht mit Feiern füllen und trotzdem wohl bis spät in den Mittag hinein schlafen. Aber auch hier konnte sie sich sicher sein, dass Hyacinthus ihr nicht von der Seite wich.
Auch bei der Vorlesung blieb er. Es ging nicht hinunter in die Kellerräume zu Jolantas Büro. Natürlich nicht, sie hielt schließlich kein privates Seminar. Hierbei handelte es sich um Vorlesungen, die von Interessierten besucht wurden oder jenen, die ein solches Seminar als Pflichtveranstaltung hatten, um zu bestimmten Prüfungen überhaupt zugelassen zu werden. Sarin und Hyacinthus erschienen als Gaststudenten und somit aus Interesse. Sie konnten im Gegensatz zu einigen anderen Zyranern ganz entspannt den Hörsaal betreten. Mehrere Sitzreihen glitten stufenartig hinunter, wo hinter einem Pult eine gewaltige Tafel aufgestellt worden war, an der der vortragende Professor seine Thesen aufzeigen konnte. Jolanta befand sich schon dort und wirkte als Zwergin erschreckend klein in dieser Kulisse. Jemand war so freundlich, ihr eine Trittleiter zur Tafel zu tragen, während sie noch einmal ihre Unterlagen durchging. Sie sah heute hoch professionell aus, trug eine erdfarbene Robe mit goldenen Runen und gleich mehrmals die Initationsrune Pherto als geschmiedeten Goldschmuck um den Hals. Von ihren Ohren baumelten goldene s-förmige Sowelo-Runen. Sie sollten wohl gemäß ihrer Wirkung für höhe Erfolgschancen dafür sorgen, dass Jolanta ihr Wissen erfolgreich an die Schüler vermitteln könnte.
Die Zwergin wartete, bis alle Eleven den Hörsaal betreten und Sitze gefunden hatten. Cinni klappte Sarin den Holzsitz herunter und machte es sich anschließend neben ihr bequem. Er blieb getreu an ihrer Seite, das hieß jedoch nicht, dass er der Lesung aufmerksam lauschte. Runenmagie interessierte ihn wenig, selbst wenn sie so neue Thesen hervorbrachte wie Jolantas Seminar. Er schloss halb die Lider und schien schon einmal ein wenig vorzuschlafen. Zum Glück schnarchte er nicht, das hätte Aufmerksamkeit erregt.
Jolanta Synapse hielt einen einschlägigen Dialog, der wahrlich zum Nachdenken anregte: "Liebe Studentinnen und Studenten. Ihr habt das Seminar für Runenmagie aufgesucht in der Erwartung, mehr über jene Symboliken, ihre Anwendung und Kombination zu erlenen, die wir schon kennen. Ich hole etwas historisch aus, ehe ich zum Kernpunkt meines Seminares komme. Die Frage lautet: Was wissen wir über die Runen? Sie sind eine speizelle Form der Magieanwendung, denn ihnen wohnt durchaus langfristig unsere Kraft inne. Sie ist abrufbar, teilweise auch von Nichtmagiern, wohingegen Richtungen wie jegliche elementaren Magie-Arten stets vom Anwender selbst ausgehen und nur von diesme abgerufen werden können. Die Runen, wie wir sie heute kennen, entspringen der Entwicklung meiner Ahnen, der nogroter Zwerge. Geschaffen, um so vielen mit maximal etwas Erdmagie in den Fingern zusätzlich Unterstützung zu liefern, prägten meine Vorfahren sie in Rüstungen, Waffen und als ziervollen Schmuck." Jolanta ließ ihre Ohrringe aufblitzen. Dann hob sie einen Finger an. "Die Kraft der Runen kommt von zwergischem Urgut. Der Ursprung der Zeichen ist heutzutage unbekannt und das, obwohl wir Zwerge viele unserer Entwicklungen sorgsam archivieren. Man munkelt, die Matroner hätten an der Schaffung der Runen mehr Beteiligung als mein Volk. Ich möchte hier keine Debatte zu Völkerkunde eröffnen. Es geht mir nicht einmal um die Runen, die ihr in meinem Unterricht und dem meiner Kollegen erlernt. Ich möchte eine neue Theorie eröffnen. Was, wenn neben unserem bekannten Runensatz ein weiterer existiert?" Verheißungsvoll hob die Zwergin am Pult ihre Hände. Dann wandte sie sich um, schnappte ein Stück Kreide und ging zur Tafel. Dort zeichnete sie alle Symbole der celcianischen Gottheiten in einem kreisförmigen Pantheon auf und schrieb einen Satz darunter, den Sarin schon einmal bei Ankunft in der Akademie gelesen hatte: An welche Runen glaubst du? Eben jene Frage stand auf der Statue, die Jolanta im Eingangssaal ihres Wohnheims hatte aufstellen lassen.
Die Zwergenprofessorin wandte sich erneut um. "Glaube vermag, Berge zu versetzen, so heißt es. Warum sollte er nicht auch in der Lage sein, die Kräfte der Runenmagie zu wecken und in seinem Willen zu leiten? Dies ist meine Theorie, die ich mit euch allen heute erörtern möchte. Ich möchte zum Nachdenken anregen. Darüber hinaus plane ich, aktive Forschung in diese Richtung zu betreiben. Ich möchte eine Expedition zusammenstellen, um Hinweise zu den von mir als solche betitelten göttlichen Runen zu finden."
Jolanta holte weit aus. Das Seminar war trocken, denn es beinhaltete viele Theorien, einiges an Spekulation und Thesen, die es zu beweisen galt. Und doch war es für jene interessant, die der Zwergin genau zuhörten. Göttliche Runen. Der Einsatz von Runenmagie, die man in Zeichen der celcianischen Götter fahren ließ, um eine dem jeweiligen Gott zugehörige Wirkung zu erzielen. Jolanta als getreue Gläubige des zwergischen Gottes Brocknar brachte ein Beispiel, dass Brocknar-Runen demnach nicht nur bei Schmiedearbeiten nützlich wären, sondern auch, um sich zu erden, Kräfte temporär zu vergeben oder einen unbrechbaren Willen zu wecken, hart wie Stein selbst. Sie erläuterte, dass es bereits beim bekannten zwergisch-mantronischen Runensatz Auslegungssache war, um eine gewisse Wirkung zu erzielen. Dennoch seien diese eher beschränkt. Göttliche Runen aber könnten so viel mehr bieten in viele verschiedene Richtungen. Zum Ende ihrer Vorlesung hin ging sie noch auf die Möglichkeiten göttlicher Runenkombinationen ein und schloss mit der Frage, welche Wege ihre Theorie eröffnen könnte, sollte man beide Runensätze kombinieren. Doch dazu könnte sie selbst noch nicht viel sagen, weshalb sie eine Expedition plane. In den nächsten Wochen dürften Studenten sich bei ihr melden, die an einer solchen Foschungsreise teilnehmen wollten. Die Prüfungen würden für diese Zeit ausgesetzt, die Eleven blieben aber an der Universität eingeschrieben. Schließlich ging es hier um praktische Wissensvermittlung und Forschung. Damit endete Jolantas Seminar und hinterließ eine Menge Raum zum Nachdenken.
Sarin dachte allein, denn Hyacinthus war während all der Theorie wirklich eingeschlafen. Sie musste ihn wecken. Das dauerte und somit waren sie beide die letzten, die den Hörsaal verließen. Das hieß, falls Sarin nicht noch kurz mit der Runenmeisterin sprechen wollte. Ein wenig Zeit blieb noch. Wenn sie erneut mit Cinni durch den Geheimgang direkt in das Theater der Gefallenen reisen würde, hätte sie bestimmt noch ein halbes Stündchen für einen Plausch. Sie konnte natürlich auch sofort aufbrechen, um nicht zu riskieren, Vikreth und seinen Bruder warten zu lassen. Es lag bei ihr, wie sie ihre Wege gestaltete, welche Türen sie schloss und welche öffnete. Sie hatte alle Fäden in der Hand. Nun ging es daran, ihre Zukunft damit zu weben.