Zarrah'lindae, jüngste der Nachtklingen, hatte ihn nun aber davon befreit. Oder war es ihr persönliches Spielchen und sie warf nur ihren Stein endlich mit auf das Brett? Als Syn ausgeruht erwachte und den Kopf der Wärme zudrehte, war sie noch da. Still schlief sie neben ihm. Ihre Stirn glänzte nicht mehr vom Schweiß des Fiebers und überhaupt fühlte sie sich besser an. Ihre Haut war sanft, weich und warm. Syn bemerkte nicht, dass er lächelte, als er sie so betrachtete. Er erinnerte sich nur an die Erkenntnis, die sie ihm offenbart hatte. Er war frei. Er musste sich nie wieder einer anderen Person beugen, nicht einmal ihr. Er musste sich nie wieder benutzen lassen in einer Weise, die er nur durch Anpassung überstanden hatte. Maske auf, lächeln, genießen und sich darin bewegen, als wären es seine eigenen Gelüste, die es zu befriedigen galt. Er hatte es Jahre lang mitgemacht, bis er daran glaubte. Bis er fest davon überzeugt gewesen war, dass es so sein musste. Einzig dass es keine Liebe war, hatte er gewusst. Yolintha hatte es ihm mit Worten eingebrannt wie die Reißer ihr Zeichen in seine Haut. Syn rieb unwillkürlich seinen Knöchel an der Wade des anderen Beins, um die die einzigen Narben zu fühlen, die auf diesem sonst so makellosen Leib je Bestand gehabt hatten. Er griff sich in den Nacken, wo das Hautbild nur minimal zu erfühlen war. Er hatte es nie gesehen. Ihm war gesagt und durch Wandteppiche und Wappenbanner gezeigt worden, wie es wohl aussah. Keines der beiden Symbole hatte jetzt noch Bedeutung. Er war frei.
Und all das verdankte er...
Seine Hand legte sich mit der Sanftheit von Seide um ihre Wange. Er berührte sie im Grunde kaum, wagte nicht, ihren Schlaf zu stören. Er musterte sie. Zarrah sah etwas besser aus. Ihre Haut besaß nicht mehr diese Blässe oder den fiebrigen Glanz. Sie wirkte so innerlich ruhig wie Syn sich fühlte. Er zögerte, dann näherte er sich ihrem Gesicht. Seine Lippen spitzten sich, aber noch ehe er die ihren versiegeln konnte, stutzte er. Dann glitt er auf sein Lager zurück, lächelte, gluckste, lachte leise. Er ließ von Zarrah ab und schaute nach oben, hinauf in den Tag. Er betrachtete den Himmel, seufzte tief aus, streckte die Glieder. Liebevoll strich eine laue Brise seine Haut. Die Sonne wärmte sie. Das leichte Blätterrascheln drang an seine Ohren und spielte ihm Symphonien. Der Duft feuchtsaftiger Landschaft lag in der Luft. Syn blieb liegen, denn auch das war Freiheit.
Irgendwann aber regte es sich neben ihm. Zarrah erwachte. Syn gab ihr die Zeit. Er war damit beschäftigt, in den Himmel zu schauen. Er rührte sich nicht und nur seine offenen Augen kündeten davon, dass er diese lange vor der Dunkelelfe aufgeschlagen hatte. Das und sein Lächeln. Er strahlte mit weichen Zügen, dass es ihn auf einer ganz anderen Ebene schön erscheinen ließ.
Syn rührte sich kaum, als Zarrah sich aufsetzte. Er spähte zunächst nur flüchtig aus dem Augenwinkel zu ihr herüber. Als sie allerdings damit begann, ihre Verletzung zu begutachten, setzte auch er sich auf, um an ihr vorbei zu spähen. "Wir haben noch Salbe aus Crystins Vorräten übrig", begann er, doch Zarrah unterbrach seine aufkommenden Vorschläge dillettantischer Heilkunst.
"Gut geschlafen?" Dass sie Synnover mit dieser simplen Frage vollkommen aus dem Konzept brachte, hätte nicht einmal er erwartet. Er stockte, setzte sich etwas zurück und erneut glitt sein Blick zum Himmel empor, als könnte dieser ihm die Antwort geben. Vielleicht geschah genau das. Nach einem Moment breitete sich nämlich erneut Glück auf seinen Zügen aus, kräuselte sich in seinen Mundwinkeln und ließ diese ansteigen. Syn richtete den Blick nach innen. Er lauschte auf sein Herz, auf sein Wohlbefinden. Dann nickte er. Sein fast schon überraschter Blick ob dieser Erkenntnis traf Zarrah. "Ja", antwortete er ihr. "Ich glaube, ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so gut geschlafen." Er lächelte jetzt beinahe verlegen. Flugs glitt sein Blick an ihr vorbei und auf den Schlafsack, der ihnen als zusätzliche Unterlage zu den Schutzmatten gedient hatte. Syn räusperte sich. "Natürlich hätten wir in einem richtigen Bett noch besser schlafen können." Anschließend neigte er sich zu ihr vor, als wollte er sie küssen und schien sich selbst erst im letzten Moment daran zu erinnern, dass dies nicht mehr nötig war. Er musterte Zarrahs Lippen, ehe er zu ihr empor spähte und sich erneut zurückzog. An Freiheit musste man sich erst gewöhnen.
Bevor es noch weiter unangenehm werden konnte, verließ Syn das Lager. Er machte sich schon daran, beim Feuer Holz nachzulegen, um es erneut zu schüren, da teilte Zarrah ihm ihre Pläne für den restlichen Tag mit. Offensichtlich fühlte sie sich wieder gesund genug, die Verfolgung in Angriff zu nehmen. "Wir sind erheblich in der Unterzahl und wer weiß, wie es Crystin und Razag geht."
Syns Lächeln schwand. Er machte sich nur geringfügig Sorgen um seine Gefährten, wenngleich auch hier noch gelernt werden musste, hinter die Maske zu blicken, die man sich selbst aufsetzte. Vielmehr bekümmerte ihn, Überbringer schlechter Nachrichten zu sein. Denn das fiel oftmals auf den Boten zurück und er sah nicht ein, für diese Information nun Zarrahs Konsequenzen ihrer gesunkenen Laune zu kassieren. Trotzdem hielt er nicht damit hinter dem Berg. Besser war es, die Sache jetzt anzusprechen als später. Das Risiko, dass sie im entscheidenden Moment die Fassung verlor und dann nicht einsatzbereit wäre, war größer. Also erwiderte er: "Crystin ... ich fürchte, sie lebt nicht mehr. Sie fiel, kaum dass der Pfeil ihre Brust durchbohrt hat. Und dann ... fiel Razag auf mich drauf. Und dann...?" Syn stutzte. Er konnte sich kaum mehr an die Momente erinnern. Seine Panik hatte alle Klarheit überdeckt und so blieben lediglich Bildfetzen einer Flucht in den Wald. "Ich bin ... gerannt ... und dann war ich doch wieder am Lager. Ich hab mich versteckt, ehe ..." Er sah zu Zarrah, suchte ihren Blick wie in jener Nacht, als sie einannder hinter den Bäumen gefunden hatten, nur um anschließend gemeinsam in einen sicheren, aber kalten Unterschlupf zu fliehen. Seine Augen wanderten zu ihrer Verwundung herunter. "Sie haben dich zuerst erwischt. Deshalb warst du so lange fort"; schlussfolgerte er und wartete auf eine Erklärung.
Syn nutzte die Zeit, die Habseligkeiten einzupacken. Sofern Zarrah nicht darauf hinwies, dass gewisse Dinge sie nur ausbremsen würden, wenn sie alles mitschleppten, ließ er sie zurück. Aber gerade Crystins Rucksack mit all den Heiler-Utensilien wollte er mitnehmen. Außerdem Razags Bärenschädel, Flussnadel und natürlich seine eigenen Sachen. Flüchtig blickte er auf das Hochzeitskleid. Syn ließ es liegen. Es gehörte zu einem alten Leben, in dem er vorgeben musste, sich gern in Frauenkleidung zu zwängen und damit noch perfekt auszusehen. Es stimmte zwar, dass er sich eigentlich recht gern ausstaffierte, aber das konnte er auch, ohne optisch das Geschlecht zu wechseln. Da kam ihm etwas in den Sinn, vor allem, weil Zarrah lediglich davon sprach. Informationen sammeln zu wollen.
"Was, wenn ich mich ihnen ausliefere, sobald wir sie einholen? Ich bin nur ein Sklave - furchtsam und allein. Ich könnte unterwürfig nach allem fragen, was ich von meinen neuen ... Herren wissen muss." Syn unterbrach seine Arbeiten, um an Zarrah heranzutreten. Er berührte sie nur knapp an der Schulter, aber eben weil er es dabei beließ, unterstrich die Geste den Ernst in seinen Augen umso mehr. "Du solltest dich gar nicht zeigen. Du bist..." Er verstummte. Sie mochte ihm die Freiheit zugestanden haben, das bedeutete aber nicht, dass er es schon wagte, offen die Schwäche seiner einstigen Herrin beim Namen zu nennen. "... eingeschränkt", formulierte Syn es daher so diplomatisch wie es ihm möglich war. Fest stand aber, dass Zarrah keine Chance gegen die anderen Dunkelelfen hätte. Sie waren in der Unterzahl und sie konnte offensichtlich nicht kämpfen, ohne sich selbst umzubringen. Syn wäre in der Lage, einigen Angriffen auszuweichen und vielleicht einen von ihnen mitzunehmen, ehe der Rest sich auf ihn stürzte, aber auch das würde kein zufriedenstellendes Ergebnis liefern. Ihnen war beiden klar, dass es nicht auf einen Kampf hinauslaufen durfte. Aber sollten die Jäger überhaupt erfahren, dass Syn und Zarrah einander gefunden hatten? Das Kaninchen war natürlich für andere Vorschläfe offen. Vielmehr würde es sich diesen auch fügen. Noch war er nicht soweit, seiner einstigen Herrin Paroli zu bieten und ihre Entscheidungen zu untergraben. Dass er von sich aus allerdings bereits eigene Ideen einwarf, zeugte davon, dass er diesen Weg gehen wollte. Das und sein Lächeln, welches sich erneut in seine Züge stahl. Sein großer, grüner Kumpel hatte erneut Recht: Manchmal genügte eine einfache Umarmung, mehr Körperlichkeit war überhaupt nicht nötig, um mental wieder aufgebaut zu werden.