Es war zwar schon einige Jahre her, seit Vanitas dass letzte Mal zuhause gewesen war, doch je näher sie ihrem Ziel kamen, desto vertrauter wurde die Umgebung. Irgendwann erkannte er schließlich alles genau wieder und konnte die Kutsche so zu einer Furt dirigieren, die über den Ilfar führte. Der Wald hatte sich kaum verändert. Er war noch immer eine so abstoße Umgebung wie zuvor. Der Hexer hatte nie begriffen, was die Waldmenschen und Elfen an diesem gottverdammten Gelände fanden! Die einzigen Vorteile, die es bot, waren die Abgeschiedenheit und die Einsamkeit. Man begegnete hier draußen kaum anderen Lebewesen mit mehr Intelligenz als einem Fuchs. Und das war auch gut so! Nur aus diesem Grund hatte er es geschafft, eine Stufe zu erreichen, von der andere Magier nicht einmal zu träumen wagten. Hier gab es keine Ablenkungen, wenn man von den gelegentlichen Ruhestörungen durch Hexenjäger und dergleichen einmal absah. Aber die waren genau genommen doch auch nie mehr gewesen als Training. Glücksritter und Amateure, dass waren nie Gefahrenquellen für ihn gewesen. Und heute fürchtete sich der Abtrünnige nur noch vor der Macht des Rates von Zyranus, vielleicht den Leitern der anderen Akademien und höheren Wesenschaften. Natürlich würde er das nie zugeben, aber ...
Gegen Abend dann merkte Vanitas plötzlich auf. Sie waren ihrem Ziel ganz nah. „Sag ihm, er soll die Kutsche anhalten,“ kam es sofort von dem betagten Menschen und noch während der Wagen dabei war langsamer zu werden, öffnete er den Verschlag und sprang heraus. Tief atmete er den vertrauten Geruch ein. Jedes Gewässer in Celcia hatte seinen ganz eigenen Odeur, aber nur die wenigsten konnten diesen wahrnehmen. Das Aroma des Ilfars verband er seit langem mit dem Gefühl der Heimat. Die Kutsche hatte ein paar Meter weiter angehalten. Von der Stelle, an der Vanitas stand, konnte man bereits den kleinen Bachlauf erkennen, der vom Ilfar abging. Ihm müssten sie lediglich eine kurze Weile folgen, dann wäre er wieder zuhause. Die Kutsche kam auf diesem Terrain nicht mehr weiter. „Folge mir, Dunkelelf!“ Vanitas war zum ersten mal seit ihrem Aufbruch von Pelgar wieder richtig euphorisch. Gut gelaunt folgte er dem steinernen Flussufer, um sich im schlammigen Unterholz des Sarius nicht zu beschmutzen. Zehn Minuten später bog er ins innere des Waldes ein und folgte statt dem großen Fluss nun dem knöcheltiefen Bachlauf, der in Richtung Süden abging. Ab dort dauerte es nicht mehr lange, bis sich das kleine, kantige Felsmassiv zeigte, in dessen Inneren der Bach verschwand.
Vor 70 Jahren ungefähr, hatte der Hexer diesen Ort per Zufall entdeckt und beschlossen, ihn zu seinem Heim zu machen. Es war Ideal gewesen. Abgeschirmt, versteckt, mit viel Wasser in der nähe und die Höhlen selbst waren unter der Erde recht weitläufig. Unbewusst hatten sich Vanitas’ Schritte verlangsamt, bis er vor dem vier Meter hohen Berg aus Stein stand. Der Weg in sein verborgenes Reich war von hier aus durch die verschobenen Platten nicht zu erkennen. Aber wenn man dem Wasserlauf folgte, führte der einen direkt durch das verwinkelte Gestein und in die Höhle. „Folge mir,“ wies Vanitas den Dunkelelfen und trat als erster durch den niedrigen Eingang. „Aber berühre nicht das Wasser. Folge den Trittsteinen.“ So erreichte er die erste kleine Kammer, in der es Steil bergab ging. Das Wasser fächerte aus dem Bachlauf auf und überflutete den ganzen Boden mit einem dünnen Film, der ein wenig wie ein Wasserfall aussah. Breite Trittsteine führen nach unten und auch Vanitas nutzte diese, allerdings nur um ein gutes Vorbild für Neph zu sein. Für ihn selbst ging von dem Wasser keine Gefahr aus, aber der Elf mochte ungewollt die Verteidigungsanlage der Höhle aktivieren. Und er hatte nicht wirklich Lust, Energie zu verschwenden, um diese wieder zu deaktivieren. Je tiefer es ging, desto kälter wurde es. Aber noch war es bei weitem nicht unangenehm. Schließlich mündete die Steilkammer in ein Flügeltor, dass wie aus Glas zu sein Schien. Die Pforte nach Clavis Vanitatum.
„Trautes Heim, glück allein,“ meinte Vanitas grinsend und trat in die angrenzende Halle. Sie war kein vergleich zu der natürlichen Vorhöhle. Er hatte die Wände über die Jahre hinweg geschliffen und mit ewigem Eis bedeckt, ebenso wie den Boden und die Decke. Die große Halle strahlte weiß und silbern und ähnelte stark einem Herrschersaal. Tatsächlich stand am Ende gegenüber des Eingangs ein großer Thron aus purem Eis. Ein weiteres Portal führte in die darunter liegende Ebene, wo sich sein Labor befand. Ansonsten war der Raum spärlich eingerichtet, von den detailgetreuren Eisskulpturen einmal abgesehen. Zweiundzwanzig an der Zahl waren es und jede von ihnen zeigte einen der Zauber, die der Hexenmeister selbst kreiert hatte. Hinter dem Thron waren drei besonders große Statuen, die auf ihren Sockeln selbst den Dunkelelfen um über einen Meter überragten und bis zur Decke reichten. Die ganz links kannte Neph bereits, auch wenn er das Wesen damals um einiges größer gesehen hatte. Der Zauber den diese Plastik darstellte, war die Kaiserin, der Schlangendrache, der Pelgars Tor zerschmettert hatte.
In der Mitte der Halle blieb Vanitas stehen und breitete die Arme aus. Das hier war sein Reich. Für andere Herrscher mochte es nichts besonderes sein, dieses kleine Domizil unter der Erde und der Dunkle Herrscher hätte es sicherlich höchstens belächelt, doch hier, an dieser Stelle war Vanitas der Meister, König, Gott. Hier galten seine Gesetze und nur seine. Zumindest war es bisher so. Ihm war nicht ganz bewusst, was er durch Ancilliar hier her brachte. Wo er grade an die Katze dachte... wo war das Biest eigentlich? Oben hatte er es noch gesehen ... anderseits war es müßig, sich darum Gedanken zu machen. Im Moment fühlte er sich noch stark und er hatte ohnehin vor, nicht auf seine eigenen Reserven zurück zu greifen. „Mein Laboratorium ist ein Stockwerk tiefer. Und bitte, fass hier nichts an. Ich fürchte um die Konsequenzen. Deinetwillen.“
Durch die Tür hinter den drei großen Statuen ging es eine kleine Wendeltreppe herunter, die ebenso aus Eis bestand, wie alles andere hier. Das „Labor“ befand sich direkt unter dem „Thronsaal“ und hatte die selben Ausmaße. Allerdings war dieser Raum grade zu vollgestopft mit Tischen und Werkzeugen. Destillen, Retorten, Calcinatoren, Mörser und Stößel, hier unten war ein richtiges Alchemielabor eingerichtet worden. An der Nordwand waren ein halbes Dutzend Zellen eingelassen, doch sie schienen leer. Beherrscht wurde dieser Raum aber von etwas anderem. Genau in der Mitte befand sich ein Tank, der von der Decke bis zum Boden reichte und mit klarem Wasser gefüllt war. Darin befand sich Augenscheinlich ein junges, blondes Mädchen, doch irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Ihr ganzer Körper schien in Einzelteile zerlegt worden sein, zwischen den Rändern konnte man hindurch sehen. Arme, Beine, Hände, selbst der Kopf, alles war abgetrennt, befand sich aber wie durch eine unsichtbare Macht noch an der richtigen Stelle. Eigentlich konnte niemand einen solchen Zustand überleben, doch die nackte Brust des Mädchens hob und senkte sich. „Aurora, dass ist Neph. Neph, dass ist mein größter Misserfolg,“ kommentierte er mit einem Armschwenker auf den Wassertank. Dann deutete er auf einen niedrigen Tisch in der nähe, der Frei von allen Werkzeugen und Instrumenten war. „Mach dich Frei und leg dich dort hin,“ wies Vanitas den Elfen an und blieb selbst neben dem länglichen Tisch stehen.